
Manjév schaute betroffen auf den Putz und nieder, der auf den Boden schneite. Sie hatte aufgehört, mit Merrit Althopian zu reden, es hatte keinen Zweck. Es war zu laut.
„Herr Waýreth”, versuchte sie stattdessen, gegen den Lärm anzurufen. „Uns fällt bestimmt etwas Besseres ein. Wartet doch nur noch eine Weile!”
Er antwortete ihr nicht, eine Ungezogenheit, die sie ihm nicht verübeln konnte. Die teirandanja hatte nie zuvor einen Erwachsenen gesehen, der so verzweifelt, so unansprechbar war.
Eine Leiter, die auf den kleinen Treppenabsatz gepasst hätte, hatte er nicht herschaffen können. Er hatte wohl tatsächlich eine Weile gesucht, aber offenbar erfolglos. Und so balancierte der Ritter nun auf einem Schemel, den er auf einen alten Stuhl gestellt hatte, beides wohl aus dem Kerker unten im Turm geholt und von äußerst zweifelhafter Stabilität. In den Händen schwang Althopian einen spitzen Streithammer wie eine Spitzhacke und legte damit die Decke nach und nach in Trümmer.
„Hört auf, Herr Waýreth”, bat sie ihn inständig noch einmal. „Ihr werdet Euch verletzen!”
Tatsächlich war dem Mädchen angst und bange, denn der Ritter hatte alles andere als einen sicheren Stand, und wenn seine Kletterkonstruktion zusammenbrach, mochte er unglücklich stürzen, vielleicht durch die Luke und noch tiefer den Turm hinab, oder in seinen Hammer hinein. An das, was er anschließend auf dem Dach vorhatte, wollte Manjév gar nicht denken.
„Herr Waýreth!”
„Und ich rate Euch noch einmal”, rief er an seinen Hammerschlägen vorbei, „geht hier weg! Geht aus dem Turm, ins Haus, geht zu den anderen Kindern. Geht spielen! Lasst mich hier meinen Sohn retten!”
Spielen. Manjév wusste nicht recht, ob sie erbost oder beschämt sein sollte über diese Anmaßung. Aber vielleicht hatte er auch recht. Er konnte, bei allem, immer noch nicht wissen, dass im Grunde sie, sie ganz allein daran schuld war, dass diese Tür sich hinter Merrit Althopian geschlossen hatte.
„Ich bin seine teirandanja“, sagte sie stattdessen tapfer. „Ich bleibe hier.”
Althopian hielt inne und schaute zu ihr hinunter. Sein ergrauendes Haar war nun fast weiß, denn der abgeschlagene Putz klebte in den schweißnassen Strähnen fest.
„Majestät”, sagte er, mit mühsam beherrschter Sanftheit, „ich bin Euer Dienstmann. Und ich will nicht, dass Euch die Decke hier auf den Kopf fällt, wenn sich Brocken lockern. Eure Eltern werden mich dafür zur Rechenschaft ziehen.”
„Das nehme ich auf mich”, sagte Manjév.
Er schnaubte ärgerlich auf und hämmerte weiter. „Eure Mutter wird bald zurück sein und Euch hier entfernen, noch bevor ich das Dach durchstoße.”
So kam sie nicht weiter. Also hockte sie sich neben die Tür und malte mit den Fingern Muster in den Sand. Seltsam, dieser Sand. Gehörte er wirklich zu dem uralten Baumaterial, das Althopian da gerade in Stücke schlug? Das Zeug kroch ihr zwischenzeitlich unter die Kleider und fühlte sich an wie daheim, im teirandon ihres Vaters, wenn sie vom Strand kam und ihre Kleidung ausschütteln musste, bevor sie das Gebäude betrat.
Sie legte das Ohr an die Tür. In den kurzen Pausen zwischen den Hammerschlägen hörte sie den Jungen halblaut murmeln, aber er war wohl weiter ins Zimmer hinein gegangen. Zu wem redete er da?
Das Mädchen zog die Knie an und legte die Stirn darauf. Wenn doch nur die Möglichkeit bestünde, den Magier herbeizurufen! Um Hilfe anflehen würde sie ihn, alles versprechen, wonach er verlangte.
Manjév weinte. Es war egal, denn der Ritter war so beschäftigt, dass er es nicht bemerken würde, sofern sie nicht laut schluchzte. Die teirandanja schmiegte sich gegen die Tür und dachte an den Jungen, der ihr so widerlich war, obwohl er, je länger sie darüber nachdachte, doch überhaupt nichts Böses getan hatte, sah man einmal von der nächtlichen Kletteraktion ab, die fast in ihrem Gemach geendet hätte. Und von dem Brotritual, zu dem Osse Emberbey ihn verführt und ihn damit in eine unerträgliche Nähe gerückt hatte.
Das Hämmern und Ächzen des Ritters, das Prasseln des Schutts und das dumpfe Murmeln des Jungen wurden in ihren Ohren zu einem dröhnenden Gemisch, in das sich schließlich weitere Geräusche mengten. Es kamen Personen die Turmtreppe hinauf. Erwachsene. Eine größere Gruppe.
Althopian bemerkte das nicht, aber Manjév blickte auf, als der erste den Durchstieg erreicht. Es war der schnauzbärtige, fast kahlköpfige yarl Grootplen, der seinen Leib durch die Luke in den engen Raum zwängte.
„Majestät?”, fragte er verblüfft beim Anblick des Mädchens.
„Ich lasse ihn nicht allein”, entgegnete Manjév entschlossen.
Grootplen warf einen Blick über seine Schulter auf jemanden, der hinter ihm stand. Dann kletterte er gänzlich empor und hatte nun auch die Aufmerksamkeit von Althopian. Der ließ erschöpft seinen Hammer sinken.
„Lass mich, Daap. Ich will das hier so schnell wie möglich beenden.”
„Wir auch. Wir wollen dir helfen.”
„Wir?”
„Andriér hat noch mehr Werkzeug mitgebracht. Und Emberbey meint, jemand sollte dich stützen, bevor du dir den Hals brichst. Wenn ich das hier so sehe, stimme ich ihm zu. Waýreth, das ist nicht sicher! Nicht einmal für kleine Jungs, die Süßigkeiten vom Schrank fischen wollen!”
„Emberbey ist auch dabei? Wisst ihr alle, was hier geschehen ist.”
„Die teiranda will, dass es unter uns bleibt. Emberbey hält das Gesinde vom Turm fern. Mit der schweren Arbeit kann der alte Fisch uns nicht helfen. Aber Andriér und ich, wir packen mit an.”
Manjév hörte staunend zu und zugleich wurde ihr Herz immer schwerer. Wie hatte sie daran denken können, dass die Sache geheim zu halten wäre. Offenbar hatten alle geplaudert, Láas und Jándris und Osse, und das alles mit dem Wissen der Mutter.
Während Grootplen redete, war der nächste Erwachsene nachgefolgt.
„Kind”, sagte Asgaý von Spagor sanft. „Komm mit mir heraus hier.”
„Nein. Ich muss bei Merrit bleiben.”
„Aber es ist zu wenig Platz hier oben. Solange du da sitzt, kann Herr Andriér nicht heraufkommen. Dieser Absatz ist nicht dazu gemacht, dass man dauerhaft hier steht. Sei vernünftig.”
Das musste sie einsehen. Sie warf noch einen Blick auf Grootplen, der Althopian bisheriges Werk kritisch begutachtete, erhob sich dann und kletterte gehorsam durch die Luke wieder nach unten. Auf der Treppe wartete bereits yarl Altabete, eine Hacke im Arm. Verlegen nickte sie ihm zu.
„Diesmal”, sagte der Ritter zu ihr, „nehme ich keine Axt.”
„Habt Dank, Herr Andriér”, murmelte sie. Er lächelte, was durch die tiefe Narbe auf seinem Gesicht etwas verzerrt aussah. Asgaý von Spagor nahm seine Tochter an die Hand und führte sie schweigend hinab und hinaus in den Regen. Vor dem Tor des Hocheingangs stand yarl Emberbey, die Kapuze übergezogen, stolz und unverrückbar wie ein Grenzstein, im stetigen Regen.
„Wenn jemand sich über den Lärm wundert”, wies der teirand ihn an, „sagt einfach, die yarlay probierten eine neue Art Eisengerät am Mauerwerk. Niemand soll eintreten, solange es nicht anders heißt.”
Emberbey verneigte sich stumm. Manjév schaute unbehaglich in das hagere, strenge Gesicht und schauderte. Sicher hatte Osse seinem Vater mehr berichtet, als ihr lieb sein konnte. Wahrscheinlich hätte sie das unter diesem stechenden, unnachgiebigen Blick auch getan.
Asgaý von Spagor zog Manjév die Kapuze ihres Umhangs sanft übers Haar und führte sie dann bei der Hand über den Hof, allerdings nicht auf direktem Weg zur Halle, sondern so, dass er Dachvorsprünge nutzte und Pfützen auswich, um möglichst trocken zu bleiben. Auf dem Innenhof war kaum jemand unterwegs, nur wenige Schutzbefohlene hatten im Regen Dinge zu verrichten. Das gab dem teirand die Möglichkeit, zu reden.
„Deine Mutter hat mir berichtet, was sie über die Sache weiß”, sagte er. „Es ist nicht sehr viel. Willst du mir den Rest sagen?”
„Ich habe das nicht gewollt”, sagte Manjév leise.
„Gewollt? Natürlich hast du das nicht gewollt. Aber was hast du damit zu tun?”
„Wieso hat Meister Yalomiro die Tür gestern geöffnet? Warum hatte er euch in dieses schreckliche Zimmer geführt? Es gibt tausend Zimmer in dieser Burg, in denen er mit euch hätte reden können.”
„Es gab einen Grund”, sagte der teirand. „Aber ich kann mich nicht erinnern. Und diese Burg hat keine tausend Zimmer, Manjév.”
„Aber genug.”
„Manjév, dies ist eine sehr ernste Situation. Lass die Herren den Weg über das Dach wagen, wenn die Mauer und Tür ihnen standhält. Es sind erwachsene Männer mit viel Erfahrung und mehr Mut, als ich je im Leben aufbringen könnte. Sie wissen, was sie tun.”
„Und wenn das Dach auch standhält? Wenn Merrit nie wieder da herauskommt und in dem Zimmer … “
Sie sprach es nicht aus. Der teirand legte seiner Tochter liebevoll die Hand auf die Schulter. „Komm zu uns in die Halle. Vielleicht haben deine Freunde eine bessere Idee.”
Manjév blieb stehen, mitten im Regen. Der teirand wandte sich ihr zu.
„Meine Freunde?”
„Natürlich. Láas und Jándris und Tíjnje. Und ich denke doch, dass du dich gut mit Osse Emberbey verstehst, oder?”
„Das sind alles meine Schutzbefohlenen, Papa. Für die bin ich verantwortlich.”
„Ich weiß. Und sie haben dir zu dienen und deinen Weisungen zu folgen. Das ist eine enorme Verantwortung für sie.” Er zog sie nachdrücklich unter den naheliegenden Torbogen, heraus aus dem Regen. „Eine Verantwortung, Manjév, die ich selbst niemals haben wollte. Ich war ein sehr verantwortungsloser teirand, bevor ich deine Mutter kennenlernte. Das alles, Kind, soll bei dir einst anders sein. Auf dir wird einmal die große Verantwortung für ein sehr großes teirandon lasten. Vielleicht sogar größer als das, was deiner Mutter und mir gemeinsam heute untersteht. Je nachdem, wen du dir einmal zum hýardor erwählst.”
„Ich will aber keinen hýardor“, sagte Manjév trotzig.
„Lass uns darüber später reden, sobald wir Merrit Althopian wieder sicher in den Armen seines Vaters wissen. Was ich dir sagen will, mein Kind: Wenn du es auch sein wirst, die die Verantwortung und wichtige Entscheidungen zum Gefallen der Mächte und zum Wohl aller Schutzbefohlenen zu treffen hat, deine Mutter und ich, wird wollen, dass du es gut hast. Deine Getreuen, Manjév, so jung ihr alle noch seid, sollen dir Halt und Trost geben, Freude und Trauer mit dir teilen. Und Geheimnisse.” Er lachte. „Deine Mutter sagt, sie sei nie einem so unbestechlichen und getreulichen Kind begegnet wie diesem Osse Emberbey. Sie meint, ihn könntest du wohl einst mit einem wichtigen Geheimnis mitten durch Feindesland senden, er würde es um sein Leben nicht preisgeben.”
Er hatte das sicherlich im Scherz gemeint, aber etwas Eisiges griff für einen Lidschlag nach Manjévs Herz.
„Aber Tíjnje ist doch schon meine Geheimkurierin”, murmelte sie.
„Und wollte dir irgendjemand etwas Böses, Láas und Jándris würden es zu verhindern wissen. Aber das alles tun sie nicht, weil sie deine Schutzbefohlenen sind.”
„Wie meinst du das?”, fragte Manjév und schaute auf. Etwas hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, und als sie genau hinschaute, sah sie eine Bewegung. Jemand war gegenüber in den Eingang des Gästehauses gehuscht.
„Nur ein schlechter teirand regiert durch Befehle”, sagte Asgaý von Spagor. „Und nur Ungetreue gehorchen aus Furcht. Und nun komm hinein. Wir werden sofort erfahren, wenn die Herren zum Erfolg kommen.” Er nahm seine Tochter wieder an der Hand. „Fertig? Laufen wir?”
Sie nickte stumm.
„Dann los!”
Der teirand und die teirandanja rannten die kurze Strecke vom Torbogen hinüber zum Haupthaus und verschwanden darin. Vom Eingang des Gästehauses blickten ihr verzagt vier Augenpaare nach.
***
Merrit hatte sich den Mächten befohlen und erwartete seinen Tod. Aber seit draußen vor der Tür wieder laut gehämmert und geschlagen wurde und zwischenzeitlich auch mehrere Erwachsene dumpf und unverständlich miteinander redeten (und dabei ziemlich häufig fluchten) hatte der Junge wieder etwas Hoffnung geschöpft. Er saß auf dem Tisch und fegte mit der flachen Hand den Sand beiseite und auf den Boden, der sich immer wieder um ihn herum aufhäufte. Wo kam das Zeug her? Es fiel nicht von oben herab, das hatte er mit erhobenen Händen überprüft. Bildete der Sand sich etwa da und dort in der Luft, um dann hinab zu rieseln wie Schnee?
„Sicher befreien sie mich”, sagte er zu der knirschenden Geisterstimme.
Nicht, bevor ich dich zu mir geholt habe.
„Ich will nicht zu dir.”
Kinder bekommen nicht alles, was sie wollen, kleiner Ritter. Hast du das nicht von deiner Mama gelernt? Hat deine Mama dir nicht gesagt, dass kleine Kinder artig und bescheiden sein müssen, und nur bekommen, was die Erwachsenen ihnen vorwerfen?
„Doch”, gab Merrit zu. „Aber sie hat mir auch oft Wünsche erfüllt, um die ich nicht gebeten habe. Sie war großzügig und hat sich gefreut, wenn ich mich gefreut habe,”
Und nun ist sie weg. Nun ist sie kalt und begraben und die Würmer fressen sie auf, ihren schönen Leib, der dich hervorgebracht hat, kleiner Ritter. Ein nutzlos gewordenes Madennest. Vielleicht bald nur noch ein paar Knochen. Wie vergänglich doch alles ist, das Glück und die Geborgenheit, nicht wahr?
Merrit kniff die Augen zu. Das war angenehmer als die Finsternis, die immer farbloser wurde, aber auf eine sonderbare, ungute Weise. Es hatte nichts mit Beleuchtung zu tun.
„Hast du meine Mama getötet?”, fragte er. „Bist du stolz darauf?”
Ein Dachziegel war es, kleiner Ritter. Nur ein Stück Ton. Genau so ein Stück Ton, wie es deinen Vater zu Fall bringen wird, gar nicht mehr so lange hin. Ist das nicht ein bemerkenswerter Zufall?
Merrit tastete nach dem Streitflegel und stellte sich vor, dass er aus griffigem Holz und blankem Stahl wäre. In seiner Brust brodelte es auf, in seinen Adern floss Glut, noch ganz schwach glimmend, aber jedes Wort der Stimme fachte sie weiter an. Die Wut kehrte zurück und schnürte ihm die Kehle zusammen.
Und du, kleiner Ritter, du wirst mir ein treffliches Werkzeug werden. Ganz bald. Würde dir das gefallen? Wäre es dir nicht eine Lust, deinen Zorn endlich fließen zu lassen? Dich zu befreien und dir Rache zu nehmen für das, was man dir antun wird?
Der Junge erhob sich rasch und tastete an die Decke. Aber das Bild der Roten Dame war verschwunden. Vielleicht war es nicht fort, aber es war jetzt außerhalb seiner Reichweite. Genau wie das Dach, das zwischenzeitlich nicht mehr existierte.
***
Der Schlüssel war fertig. Und der Schutzzauber in der Halle war es auch. Ich hatte ihn ganz allein gewoben, unter Yalomiros besorgten, aber beifälligen Blicken. Das Netz vibrierte und hing an einigen Stellen ein wenig durch. Aber ich hatte tatsächlich und fehlerfrei alle Punkte miteinander verbunden.
„Ich hatte dir gesagt, dass es alles eine Übungssache sei.”
Ich war stolz auf mich, vielleicht mehr, als angemessen gewesen wäre. Yalomiro nickte mir zu. „Je öfter du es tust, desto müheloser wird es.”
„Vielleicht hat es mir geholfen, dass du zugeschaut hast.”
„Tatsächlich? Mich würde es nervös machen, wenn ich mir selbst zuschauen würde.” Er reichte mir den Weltenschlüssel, der nun wieder sacht geheimnisvoll schimmerte. Genauso wie an dem Tag, als ich ihn in meiner Welt auf dem Kellerfußboden vorgefunden hatte. „Und nun lass es uns hinter uns bringen. Wir nehmen die Tür zu meiner Werkstatt. Die hat mir damals Glück gebracht.”
„Glück?”
„Du bist dort hindurch zu mir gekommen.”
Das brachte mich zum Lächeln, aber dieses kleine Kompliment konnte nicht darüber hinwegtäuschen, wie ernst die Situation war. Er nahm seine Tasche, den Stab und Dýamirées Kuscheltier in die Hand und wir gingen aus Noktámas riesiger Halle hinüber durch das Portal in den Flur hinaus. Bis zu Yalomiros Tür waren es von dort nur wenige Schritte, aber der Weg erschien mir viel länger als gewohnt.
„Wenn mein Zauber glückt und wir durch diese Tür gegangen sind, wird der Regenbogenritter hoffentlich den Cielástel bereits erreicht haben”, erklärte Yalomiro. „Wenn wir die Tür öffnen und sehen etwas, das nach irgendetwas anderem aussieht, schreiten wir nicht hindurch. Dann bleiben wir hier und lassen ihm noch etwas mehr Zeit.”
„Warum?”
„Weil ich für den Schlüssel nur eine mickrige Einhornfeder hatte. Es ist nicht genug Magie darin für allzu viele Ortswechsel. Du weißt, dass Weltenschlüssel nur begrenzt funktionieren.”
Oh ja. Das wusste ich.
„Wenn wir im Cielástel sind”, fuhr er fort, „machen wir uns auf die Suche nach Dýamirée. Das kann nicht allzu viel Zeit in Anspruch nehmen, denn sie werden uns bemerken, bevor wir hundert Schritte laufen können. Wir können also gleich stehen bleiben und warten.”
„Bist du dir sicher?”
„Natürlich. Indem wir unangekündigt dort auftauchen, begehen wir einen Frevel, den Pataghíu uns angesichts der Umstände nachsehen möge. Schließlich kommen wir nicht mit bösen Absichten. Vielleicht greifen sie uns an, aber das ist nicht schlimm. Ich will mit ihnen reden. Ich will wissen, wozu sie dieses verfluchte Ding hier haben wollen und warum sie sich an Dýamirée vergriffen haben.”
Ich nickte. Das bedeutete, dass ich in wenigen Augenblicken Cýelú Irísolor gegenüberstehen würde. Dem, den ich angeblich mit einem instinktiven Zauber fast umgebracht hätte. Ich atmete tief ein.
„Ich will es so verhandeln, dass sie dir Dýamirée übergeben. Und dann werde ich sie im Notfall lange genug ablenken, dass du mir ihr durch die nächstbeste Tür wieder hierher fliehst. Lauft und werft die Tür hinter euch zu. Ich komme durch die Schatten nach, sobald ich die Dinge … geregelt habe.”
„Das ist der Teil deines Planes, der mir nicht gefällt.”
Er wandte sich mir zu, legte seinen Arm um mich und seine Stirn an meine.
„Ich begebe mich nicht ins Lager blutrünstiger Rotgewandeter, die hinter meinem Herzen her sind, Salghiara. Die arcaval’ay sind überhebliches Volk, aber keine brutalen Schlächter. Niemand wird kämpfen müssen. Es ist trotzdem unnötig, dass du und Dýamirée länger als nötig in der Nähe sind, wenn ich den Stab in der Hand habe. Habt ein paar Tage Geduld. Ich komme umgehend zu euch zurück und berichte euch, was der ganze lächerliche Vorfall für Hintergründe hatte. Ich bin sicher, wir werden alle über die Aufregung lachen.”
Nun standen wir vor der Tür. Ich hielt den Schlüssel ans Schloss. Meine Finger zitterten ein wenig.
„Eines noch, Salghiára. Du solltest darauf vorbereitet sein, dass du dich im Cielástel sehr unwohl fühlen wirst.”
„Wieso?”
„Weil sie an jeder Ecke irgendwelchen Kram aus Gold stehen haben. Es ist nicht schlimm, solange du nichts mit bloßer Haut berührst. Aber die schiere Menge könnte deine maghiscal einschnüren. Egal was passiert – wenn es sich irgendwie vermeiden lässt, solltest du im Cielástel nicht zaubern. Abgesehen davon, dass es äußerst unhöflich wäre, könntest du dich dabei selbst verletzen, wenn deine Magie irgendwo abprallt.”
„Alles klar”, murmelte ich. „Nicht zaubern.”
„Bist du bereit?”
Ich biss mir auf die Lippen und nickte.
„Wir bringen die Sache in Ordnung”, sagte er sanft. „Du musst dir keine Gedanken machen. Falls irgendetwas Unerwartetes passieren sollte, beschütze ich euch.”
Da stand er neben mir, so vertraut, aber nun zugleich so eindrucksvoll in seiner Entschlossenheit und seinem formellen Meistergewand. In der einen Hand ein kaputter Zauberstab, in der anderen ein abgegriffenes, schlenkerndes Kinderspielzeug, was seiner Autorität, seiner Würde den Ernst nahm. Ob es einen bestimmten Grund hatte, warum er das Kuscheltier mitnehmen wollte? War es ein Glücksbringer, ein Talisman?
„Dann los”, murmelte ich und wollte den Schlüssel gerade umdrehen, da schaute er irritiert zu Boden und neigte sich hinab. Ich zögerte.
„Warte. Einen Augenblick.” Er stützte sich mit der Hand gegen die Wand und hob den Fuß.
„Was machst du da?”
Er blickte hoch. Ich schrak zurück. Seine Augen glommen auf, von einer Sekunde zur anderen. Eine sehr heftige Emotion musste ihn durchfahren haben. Auf seinem Gesicht stand Bestürzung. Fast zögerlich zog er sich den Schuh vom Fuß, so vorsichtig, als befürchte er, es könne ihm etwas daraus entgegenkommen und ihn anspringen. Doch alles, was er herausschüttelte, war ein kleines bisschen rieselnder Sand.
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