
Saháalír und die sinora hatten sich in die Halle des konsej zurückgezogen und warteten. Dort war es still genug, um nachzudenken. Die Sonne durchflutete den runden, hellen Raum, und die Straßengeräusche, die hier auf dem Hügel ohnehin nicht allzu laut waren, drangen angenehm gedämpft heran.
Saháalír betrachtete seine Spielfiguren liebevoll. Der kristallene Magier, den ihm nachts zuvor Úldaise zurückgegeben hatte, war nun wieder mit den übrigen Figuren vereint. Wann immer er nun Lust darauf hatte, würde er wieder eine Partie spielen können, so wie damals, in Ivaál. Obwohl … wer war denn noch da, um mit ihm lange Nächte um das Brett herum zu sitzen, bei geistreichen Gesprächen und in angenehmer Atmosphäre? Der sinor schaute zu der Dame hinüber. Ob er sie noch einmal dazu einladen sollte? Ganz förmlich, wie es sich gehörte? Sobald sie dieses Rätsel gelöst hatten und wieder Zeit dafür hatten … später?
Sie saß anmutig auf ihrem angestammten Platz und hatte den Blick an die Kuppeldecke des Saales gerichtet. Diese war mit einem verschlungenen Muster aus geometrischen Formen geschmückt, sehr kunstvoll, aber auch abstrakt. In der Halle, das hatten die Alten damals beschlossen, sollte es nichts Bildliches, nichts der Vergänglichkeit Verhaftetes geben. Im Palast des konsej beriet man außerhalb der Zeit, der Mode, der Meinungen.
Er überlegte, was er sagen konnte, um die Stille während ihres Wartens zu brechen, hatte schon fast eine Anekdote aus einer weit zurückliegenden Zeit auf den Lippen, als der Wächter in die Halle zurückkehrte, den sie zuvor mit dem Gold aus dem Brunnen losgeschickt hatten.
Die sinora wollte sich rasch erheben, so ungeduldig hatte sie gewartet, aber ihre Gelenke schienen es zu vereiteln. Sie verzog anmutig ihr Gesicht vor Schmerz und blieb sitzen.
„Sprich”, forderte Saháalír ihn auf. „Hast du etwas herausbekommen?”
„Ja, Herr.” Der Mann reichte dem sinor eine Karte aus Papier. „Vorgestern am Mittag hat es einer im Auftrag von Úldaise Tiáramalé sich ausgeben lassen.”
Der sinor studierte die Karte mit seinem Lesestein, aber außer einer dahingeschmierten Unterschrift und dem akkuraten Eintrag eines maedlors, der die entliehenen Gegenstände als das dokumentierte, als was sie sie erkannt hatten, war dem Formular nichts weiter zu entnehmen.
„Hat sich niemand darüber gewundert, dass Úldaise sich solche Folterwerkzeuge hat geben lassen?”, fragte Saháalír.
„Wahrscheinlich haben sich alle gefragt, was er damit vorhat. Aber bestimmt hat niemand sich Neugierde erlaubt. Immerhin war es eine Anweisung des sinor.”
„Des sinor, der für die Organisation des Rechtes und Gesetzes zuständig ist”, sagte die sinora. „Vielleicht nehmen die maedloray an, es gebe eine inoffizielle Wahrheitsfindung.”
„Es missfällt mir, das man sich so etwas denken könnte.”
„Es liegt nahe, seitdem es nicht mehr unter aller Augen geschieht.”, sagte die Dame seufzend.
Der Wächter wartete, ob man wohl noch eine Anweisung für ihn hatte. Der sinor schaute nachdenklich auf die Karte und die schönen Kristallfiguren.
„Angenommen”, sagte die Dame, „Úldaise hat sich die Fesseln und den Knebel tatsächlich geben lassen, um den báchorkor zum Schweigen zu bringen, um ihm den Diebstahl der Figuren in die Schuhe zu schieben … wieso dann bereits vorgestern Mittag?”
„Úldaise wusste, dass der báchorkor am Abend in meiner Villa sein würde. Er war dabei, als der junge Mann mich um eine Anstellung bat. Vielleicht hat er es als eine perfekte Gelegenheit gesehen, Verwirrung zu stiften.”
Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es erscheint mir unverhältnismäßig viel Aufwand zu sein.” Sie wandte sich an den Stadtwächter. „Was meinst du dazu?”
„Aus dem, was ich verstanden habe”, sagte der Wächter, überrascht darüber, dass man ihn um eine Meinung bat, „hätte man es viel einfacher machen können. Der ehrenwerte sinor scheint bereits vor zwei Tagen gewusst zu haben, dass es einen Gefangenen zu machen gilt. Ich habe mich gefragt …” Er zögerte und erkundigte sich dann: „Darf ich eine unstatthafte Überlegung aussprechen, Herr?”
„Sicher. Wir sind unter uns, und der, über den wir reden, wird es nicht erfahren.”
„Herr … welchen nachvollziehbaren Grund hätte ein reicher Herr wie der sinor Úldaise, ein Brettspiel zu stehlen? Jederzeit könnte er sich eines kaufen. Und … es scheint mir nicht recht zu den übrigen Dingen im Brunnen zu passen. All die seltsamen Bücher, das Silber …”
„Es ging Úldaise nicht um das Spiel”, sagte die Dame. „Er wollte den báchorkor. Und offenbar wollte er ihn stumm, aber lebendig.”
„Und doch muss der junge Mann ihm irgendwie entkommen sein, bevor er ihm am Ende doch wieder in die Hände gefallen ist. Aber wie?”
Die beiden alten Leute wandten sich wieder fragend an den Wächter.
„Soll ich noch etwas herausfinden?”, fragte der Mann begierig, der schon lange keine so interessanten Aufträge mehr ausgeführt hatte.
„Ja. Such dir ein paar vertrauenswürdige Männer zusammen. Ich will, dass noch einmal jemand in den Brunnen steigt, diesmal mit viel mehr Licht. Findet heraus, ob es da unten möglicherweise einen Geheimgang gibt, von dem wir wissen sollten.” Saháalír lächelte verlegen zu der Dame hinüber. „Schließlich kann der báchorkor sich nicht einfach wegzaubert haben, nicht wahr?”
Der Wächter verneigte sich. „Ich werde mich damit beeilen”, versprach er.
„Hör zu”, sagte die sinora. „Das alles muss so geheim wie möglich sein. Niemand darf bis auf weiteres darüber reden. Sag ihnen erst im Brunnen, was zu tun ist und sorg dafür, dass niemand danach davon berichtet.”
„Edle Dame”, gab der Mann zu bedenken, „Geheimnisse entweichen in Aurópéa wie Wasser durch ein Sieb. Ihr verlangt Unmögliches.”
„Es reicht, wenn das Sieb bis zum Abend hält. Lass dir etwas einfallen. Halte deine Leute beschäftigt, dass sie nicht vor der Zeit mit Dritten plaudern. Und – kein Wort zu Úldaise.”
„Herr – es läge in Eurer Befugnis, Úldaise unter Arrest stellen zu lassen.”
„Nein. So sehr es mir, nach dem, was sich hier Hochverdächtiges vor unseren Blicken entfaltet, wohl gefiele, ihn selbst in einer der Marktzellen zu sehen.”
„Ist das weise, Saháalír?”, zweifelte die Dame.
„Natürlich. Wozu die Mühe, ihn nun aufzuspüren und in Unruhe zu versetzen? Haben wir nicht ohnehin eine Verabredung mit ihm? Heute Abend? Hier? Nachdem er bei den arcaval’ay vorgesprochen hat?” Der alte Mann spielte gedankenverloren mit seinem Lesestein.
„Ich wüsste zu gern, was die Regenbogenritter mit unserem seltsamen Freund zu tun haben.”
***
Die arcaval’ay standen nun wieder vor der Höhle im Freien und atmeten die immer noch nach Brand riechende Luft. Ratlosigkeit zeigte sich auf allen Gesichtern. Nichts, nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Ovidáol Etaímalar an diesem Ort seinen Verletzungen erlegen war, hatten sie entdeckt. Nur diese beiden Menschengerippe, die seit sehr langer Zeit dort gelegen haben mussten. Eines davon, hatten sie für kurze Zeit gehofft, war vielleicht das des Verfluchten gewesen, das andere womöglich das eines Gegners, den er mit in den Tod gerissen hatte, beim erbitterten Kampf an dieser Stätte. Aber sie hatten bald gemerkt, dass diese Hoffnung trog. Die Knochen, das konnte ein Magier spüren, hatten altes Fleisch getragen, eines davon sogar das einer Frau. Der Verfluchte war kein Greis gewesen, damals. Und wer sollte die beiden Toten in einem geradezu rührenden Akt der Ehrerbietung beieinander zur Ruhe gebettet haben?
„Jemand”, sagte der Gelbe, „der die Höhle wieder verlassen konnte.”
„Vielleicht der, der das Gold beschworen hat.”
„Oder jemand ganz anderes.” Elosál schaute zur Wüste, zu dem blauen Himmel darüber. „Es hilft nichts. Wir werden den sinor Úldaise fragen müssen, ob und was er über diese Höhle in seinem eigenen Garten weiß.”
„Möglicherweise gar nichts”, mutmaßte der Grüne. „Vor dem Feuer war hier ein ziemlicher Verhau an Gebüsch.”
„Es muss Aufzeichnungen über die Höhle geben”, wandte Cýelú ein. „Irgendjemand muss das Abflussgitter installiert haben. Vielleicht weißt Siledaú etwas darüber.”
Der Blick der fajía verdüsterte sich. „Wenn möglich, würde ich in dieser Sache gern auf Siledaús Unterstützung verzichten. Sie hat sich sehr seltsam und nicht zu meinem Beifall verhalten in der letzten Zeit.”
„Du weißt, warum sie das tut. Sie ist besorgt.”
„Besorgt? Ach Cýelú … was immer da für eine Absprache zwischen Euch ist, mir ist nicht wohl dabei. Und nun noch dieses arme Kind …”
Er senkte schuldbewusst den Kopf. „Ich weiß. Es ist unglücklich gegangen. Ich …”
„Es wäre mir wohler, Liebster, wenn du das arme Ding wieder dorthin zurück brächtest, woher du es geholt hast, und aus welchem Grund auch immer du es getan hast.”
Der Goldene schaute bestürzt in die Runde. Die Ritter nickten zustimmend.
„Ich kann sie nicht zurückbringen!”, sagte er erschrocken. „Siledaú …”
„Es ist mir egal, was Siledaú sagt oder welche noblen Dinge sie im Sinn gehabt haben mag, als sie dich in dieser seltsamen Geheimmission losgeschickt hat, Cýelú. Einer Mutter das Kind wegzunehmen ist nichts, was die Mächte gutheißen. Auch, wenn es das Kind eines Feindes wäre.”
„Ich habe sie nicht … ich … Elosál!”
Aber Elosál wandte sich bereits ab und schritt würdevoll auf Sonnenstrahl zu.
„Cýelú, ich habe lange genug geduldet, dass Siledaú sich in unsere Dinge einmischt. Es mag ja sein, dass ein schreckliches Unheil droht, aber ich will mich nicht länger auf die Visionen einer alten Unkundigen mit einer sehr verdächtigen Faszination für verbotene Dinge befassen.”
Er rannte ihr nach und stellte sich ihr in den Weg, noch bevor sie ihr Reittier erreichte. Beschwichtigend streckte er ihr die Hände entgegen.
„Elosál”, flüsterte er, „verstehst du denn nicht? Ihr seid in Gefahr, Advon und du, wenn …”
„Nein”, sagte sie sanft. „Bitte, Cýelú. Ich merke doch selbst, wie unwohl dir selbst bei der ganzen Sache ist. Ich kenne dich besser als jedes andere Wesen in der Welt, sein vielen, vielen Sommern. Denkst du, mir würde entgehen, wie sehr es dich anficht, Siledaú etwas gelobt zu haben, was du nicht mit uns… mit mir teilen kannst?”
„Ich …”
„Und ich will nicht, dass diese alte Frau dich quält. Bitte, Cýelú. Bitte bleib noch bei uns, bis wir den Besitzer dieses Gartens zu Gast hatten und bring das kleine Mädchen dann wieder zu ihren Eltern. Zeig den Schattensängern, dass unseresgleichen keine Rache sucht und keinen Unfrieden will.”
„Aber …”
„Und wenn das Unheil einträte, gerade weil die Schwarzgewandeten ihresgleichen befreien wollten? Wenn gerade dieser Kindsraub das wäre, das die Dinge aus Siledaús Vision in Gang brächte?”
Er schaute zu Boden. Sie seufzte, trat auf ihn zu und legte ihre Stirn an die seine. Sie musste sich dazu auf die Zehenspitzen stellen.
„Ich will, dass es wieder so ist wie früher”, flüsterte sie. „Bevor jemand unser Leben mit dieser Prophezeiung vergiftet hat. Wie damals, als wir unbeschwert waren. Erinnerst du dich, hýardor? Erinnerst du dich an damals, als du zu uns gekommen bist? Erinnerst du dich an die goldenen Gärten und die Blumen aus Licht?”
Er zögerte, wagte kaum, sie zu berühren und in den Arm zu nehmen. Dann schmiegten sie sich aneinander. Die arcaval’ay beobachteten das einen Augenblick lang taktvoll aus gebührendem Abstand. Dann kam der Rote näher und räusperte sich.
„Meisterin, Meister … da Siledaú gerade hier Erwähnung findet, hätten wir etwas anzumerken. Wir hätten es schon früher getan, aber bei all dem Durcheinander …”
„Was gibt es?”, seufzte Cýelú ungehalten, der es so lange vermisst hatte, die fajía im Arm zu halten.
„Es gibt eine Ungereimtheit. Wir glauben, dass Siledaú uns heute Nacht etwas erzählt hat, das sich in dieser Weise nicht zugetragen haben kann.”
„Sie hat also entweder gelogen oder nur eine halbe Wahrheit gesprochen”, setzte der Violette hinzu.
Elosál ließ den Goldenen los und wandte sich den Rittern zu. Und so erfuhren sie und Cýelú von Siledaús sonderbarer Bemerkung, die sie bei ihrer Rückkehr in die Burg gemacht hatte.
„Eine Lüge”, sagte der Grüne, „ist etwas anderes als Geheimniskrämereien.”
„Das ist wahr”, stimmte die fajía zu.
„Sie muss gewusst haben, dass es hier gebrannt und wer an dieser Stätte weilte, obwohl sie weit entfernt war.”
„Es war Nacht”, gab Cýelú zu bedenken. „Feuer ist weithin sichtbar.”
„Möglich. Aber nicht, zu erkennen wessen Grundstück in Flammen stand und welche Personen im Einzelnen vor Ort waren.”
Die fajía blickte nachdenklich hinüber zum Höhleneingang, der von hier aus zwischen den verbrannten Pflanzen deutlich zu sehen war.
„Wenn Siledaú weiß, was letzte Nacht hier geschehen ist”, fragte sie versonnen, „ob sie dann vielleicht auch weiß, was hier vor langer Zeit geschah?”
Die Ritter und Cýelú warteten. Dann gab sich Elosál einen Ruck und packte Sonnenstrahls Zügel. „Wir werden es bald wissen. Es wird sicher aufschlussreich, wenn Siledaú auf Úldaise trifft.”
***
Merrit Althopian fror, und das, obwohl der Sand eine sonderbare Wärme abstrahlte. Einmal hatte der Vater ihn mit nach Spagor genommen, in das teirandon mit der hässlichen, klotzigen Burg und dem pittoresken Fischerdörfchen im Schatten ihrer Mauern. Es hatte irgendein Problem mit den Leuten in Virhavét gegeben, für das der teirand jemanden brauchte, der seine Interessen vertrat. Bei den Ratssitzungen in der Stadt hatte Merrit nichts zu suchen gehabt, also hatte der Junge den Tag damit verbracht, den Strand zu erkunden und Muscheln und Schneckenhäuser zu sammeln. Die Frau namens Kelwa, die den Auftrag hatte, den Jungen zu beaufsichtigen und darauf zu achten, dass er sich nicht zur Unzeit der nahenden Flut näherte, hatte mit ihm im Sand gesessen, und ihm gezeigt, wie man mit einem kleinen Nagel Löcher in die Muschelschalen bohrte, um sie aufzufädeln. Einen schönen Halsschmuck, das hatte der Junge sich damals vorgenommen, wollte er der Mutter daraus machen, aber für die feinen Arbeiten waren seine jungen Hände zu ungeschickt gewesen und die Schalen brachen darin. Also hatte Kelwa ihm geholfen und ihm dabei Geschichten vom Meer und den tapferen keptyenay erzählt, die es bereisten, von Eis zu Eis und fast bis zum Chaos. Ein schöner Tag war das gewesen, einer, an dem Merrit fast gar nicht daran gedacht hatte, ein Ritter werden zu wollen (sondern für einige Zeit die Laufbahn eines tapferen, Piraten jagenden keptyen in Betracht gezogen hatte). Der Junge erinnerte sich an den blauen Himmel, das unablässige Wellenrauschen, den erfrischenden Wind. Und an den Sand. Von der Frühlingssonne aufgeheizt war er gewesen, eine wohlige Wärme, die sich mit der Brise die Waage hielt.
Das war ein Tag gewesen, an dem Merrit Sand ganz bewusst wahrgenommen und Gefallen daran gefunden hatte. Und diese schöne Erinnerung an den Tag am Meer, die verzerrte sich nun mit jedem Atemzug mehr hin zu etwas Beängstigendem. Sand erfüllte zwischenzeitlich den gesamten Boden des Zimmers und war warm wie damals der Sandstrand, mehr sogar noch als dieser und um einen winzigen Grad zu warm. Hier war keine Sonne, kein Wind, nur eine Finsternis, in der der Raum auszufasern und zu verschwinden schien. War es nicht inzwischen Tag? Müssten nicht dort, wo die Fensterläden waren, die er Blödling eigenhändig geschlossen hatte, wenigstens winzige Reste Tageslicht durchdringen, dort wo kleine Spalte im Holz waren?
Und die Geräusche … das Regenprasseln und das Sandrieseln … und die Stimme … diese Stimme …
Du wirst hier sterben, kleiner Ritter, knirschte sie, wie Schritte, die sich auf dem Sand näherten. Der Junge drückte sich gegen das Holz der Tür, der rettenden Tür, die sich nicht öffnen wollte, weder für seinen Vater, noch seine Freunde, noch für die teirandanja. Es war doch die teirandanja, die da auf der anderen Seite saß und zu ihm redete?
„Dein Vater hat eine gute Idee”, behauptete die Mädchenstimme, die gedämpft an sein Ohr drang. „Und Osse auch! Osse ist klug! Der wird immer einen Plan haben, wenn wir einmal in Not sind, hörst du, Merrit Althopian?”
Eine Frauenstimme, wahrscheinlich die teiranda, aber sie war zu weit weg von der Tür, um sie zu verstehen. Das Mädchen schwieg.
„Bitte”, wisperte Merrit, „bitte, redet mit mir …”
Sie können reden, bis ihnen die Zunge abfällt, kleiner Ritter, und sie werden dich doch nicht befreien. Der Schattensänger hat dich auf dem Gewissen, Wiegenkind. Der Schattensänger hat dich zum Tode verurteilt und es noch nicht einmal gemerkt! Wie ein Würmchen, das im Dunklen zertreten wird …
„Bitte, teirandanja“, flüsterte Merrit. „Bitte redet mit mir! Macht, das ich diese Stimme nicht hören muss …”
„Meine Mama holt die anderen”, erklärte das Mädchen. „Wir helfen alle mit, dass du da herauskommst!”
„Bitte …”, schluchzte der Junge,
„Du musst dich nicht fürchten, Merrit Althopian! Dein Vater ist so mutig und stark! Wenn er wieder hier ist mit seinem Werkzeug, dann holt er dich ganz schnell da heraus.”
„Aber die Tür!”, rief Merrit aus. „Die Tür ist verzaubert! Die Tür ….”
„Ja, ich weiß! Die Tür! Aber das Dach ist nicht verzaubert”, erklärte die teirandanja.
Merrit schaute in das Dunkel über ihm. Dach? Da war kein Dach mehr! Da war nur Schwärze. Schwärze, die Farbe verlor. Und Sand.
„Ja, dein Vater holt sich eine Leiter und einen Streithammer, um die Schindeln durchzuhauen”, hörte er die Stimme des Mädchens. „Er will über die Wand hinweg auf das Dach steigen und über die Mauer, und dann rutscht er aus und fällt in die Tiefe und ist genauso tot wie deine Mama. Du vermisst sie doch, deine Mama? Du weinst und schreist doch immer noch nach ihr in der Nacht?”
Merrit kreischte auf und wich in die Schwärze des Zimmers zurück. Die Stimme der teirandanja war nun auch zu der des Wesens in der Leere geworden.
„Merrit? Ist alles in Ordnung?”, rief die teirandanja, erschrocken wohl über seinen Aufschrei.
„Ja. Ja. Alles … alles ist gut”, behauptete er laut und zitterte am ganzen Leib.
„Osse und die anderen forschen nach, wie man den Zauber an der Tür brechen kann. Das dauert wahrscheinlich länger”, plapperte das Mädchen mit bebender Stimme. „Dafür müssen sie Bücher lesen. Aber ich bin sicher, wenn das Dach auch verzaubert ist, dann fällt Osse etwas ein, wie man die Tür öffnet!”
„Warum seid Ihr hier, Majestät?”, rief er. „Warum seid Ihr nicht bei den anderen, bei den Büchern?” Da ist es sicherer, fügte er in Gedanken hinzu. Hier ist etwas, das nicht den Mächten gefällig ist.
„Weil ich bei dir sein … will. Merrit Althopian, durch meine Schuld bist du da drin. Ich lasse dich nicht allein.”
Du bist ihr widerlich, wisperte die Stimme. Du bist ihr unangenehm wie ein schleimiges Ungeziefer, wie Mist, wie Ausgespienes vor ihren Augen. Sie verachtet dich, kleiner Ritter, und du wirst es zu spüren bekommen. Willst du nicht besser bei mir bleiben?
„Was habe ich ihr denn getan?”, flüsterte der Junge. „Ich will doch nur …”
Du wirst sie nie bekommen, knirschte die Stimme. Niemals wirst du sie bekommen. Niemals …..
„Weißt du”, sagte die teirandanja, „ich hab mir was überlegt. Wenn Herr Alsgör diesen Jungen aus Rodekliv auf seine Burg holt, damit der mein yarl wird, dann könnten wir doch eigentlich Osse als Tausch nach Ferocrivé schicken. Dann kann er da den Leuten auf die Nerven gehen, und …”
„Woher wisst Ihr von dem Jungen aus Rodekliv?”
„Was? Wovon sprichst du?”
„Woher …”
Ich weiß alles, quietschte die Stimme, ohrenbetäubend, als streife eine Lanzenspitze hart und sehr langsam an einem riesigen Metallschild herab. Ich weiß, was war und warum es war, und wie ich es haben will, kleiner Ritter, Wiegenkind, ekeliges Stück Auswurf auf dem Weltenspielbrett!
Merrit wimmerte und hielt sich die Ohren zu. Es stolperte rückwärts und stieß mit dem Rücken an etwas Hartes. Die Tischkante. Er hatte den Tisch erreicht!
Das Kind kletterte herauf wie auf deine rettende Insel, spürte auch dort heißen Sand und stich ihn eilig beiseite.
Und nun? Die teirandanja redete vor der Tür zu ihm, aber sie war jetzt zu weit weg, um sie zu verstehen. Und mit dem, was mit ihm in dieser faserigen, immer farbloseren Schwärze, in dieser Blindheit, die sich durch die Dunkelheit kämpfte, damit wollte er nicht reden.
Merrit spürte, wie sein Herz ihm bis zum Hals klopfte. Der Junge kauerte sich auf dem Tisch zusammen und atmete stoßweise. Was immer hier mit ihm passierte, es war nicht real. Etwas, was nicht wirklich da war, konnte man nicht bekämpfen.
Merrit schluchzte und legte den rostigen Streitflegel vor sich auf den Tisch. Ein erwachsener Ritter hätte nun sein Schwert niedergelegt und sich ergeben. Das alte Ding musste reichen.
„Bitte, ihr Mächte”, wisperte er hastig, wie er die Worte gelernt hatte. „Bitte beschützt mich. Bitte geleitet mich durch die Träume und lasst mich nicht ins Chaos irren. Nimm mich unter deinen Schild, Pataghíu, verhülle mich mit deinem Schleier, Noktáma, nimm mich sacht vom Weltenspiel, Licht, und lasst nicht zu, dass ich zerbreche.”
Wie kindisch, antwortete die Stimme.
Hinterlasse einen Kommentar