Advon war nicht entgangen, dass ein Teil der arcaval’ay gen Osten aufgebrochen war. Das hatte er vom Fenster aus sehen können, das zwar nicht auf den Burghof, aber grob in Richtung der Hügel ausgerichtet war. Dass Sonnenstrahl, die zierliche goldschimmernde Stute seiner Mutter dabei war, bedeutete, dass auch die fajía mit den Magiern aufgebrochen war.

Das war nicht gut. Überhaupt nicht. Je weniger arcaval’ay sich im Cielástel befanden, desto geringer war die Wahrscheinlichkeit, dass jemand ihn hier entdeckte und freiließ, bevor Siledaú wieder auftauchte.

Frustriert schlug der Junge mit der Faust auf die Fensterbank und schaute dann in die Tiefe. Nein, hier kam er aus eigener Kraft nicht heraus. Klettern kam aus dieser Höhe nicht infrage. Und wohin hätte er auch klettern sollen? Es gab kein zweites Fenster, das er hätte erreichen können, selbst wenn ein Mauersims da gewesen wäre.

Das Buch über die Chaoskriege interessierte ihn schon lange nicht mehr. Siledaú konnte nicht ernsthaft erwarten, dass er sich auf diese alten Geschichten konzentrierte, nach dem, was geschehen war. Warum hatte sie das Mädchen überhaupt hergebracht, wenn sie es doch für so gefährlich hielt, dass er sich mit ihr abgab?

„Wenn ich nur zaubern könnte”, wisperte der Junge düster. „Einen großen Feuerball würde ich beschwören und diese dumme Tür einfach wegbrennen.” Er schaute hinab. Im Hof war kein Regenbogenritter zu sehen. Es brachte nichts, um Hilfe zu rufen. Niemand hätte ihn gehört.

Advon ging unruhig zurück zur Tür und strich nachdenklich über das schimmernde Holz und die goldenen Scharniere. Eine Axt, so fiel dem Jungen ein, das wäre jetzt genau das richtige, wenn er schon mit Magie nicht weiter kam. Schließlich war diese Tür nur aus leichtem Holz gemacht. Wäre er so groß und stark wie sein Vater, kam Advon in den Sinn, hätte er sie wahrscheinlich mit nur geringer Mühe aufdrücken können. Wieso gab es hier oben eigentlich eine Tür, die sich abschließen ließ? Keine andere Tür im Cielástel verfügte über ein Schloss. Hatte Siledaú diese Tür eigens hier anbringen lassen, um ihre Bücher zu beschützen?

Vermutlich. Solange sie Schloss und Schlüssel hatte und den Raum versperren konnte, wären niemals Elosál oder einer der Regenbogenritter gewaltsam hier eingedrungen.

Advon rüttelte an der Klinke und warf dem Türschloss einen wütenden Blick zu. Wenn er doch nur den Schlüssel dazu hätte! Dann müsste er sich gar keine Gedanken um Zauberei machen. Er würde einfach hinaus spazieren, sich auf die Suche nach dem Mädchen machen und dann schleunigst mit ihr und Farbenspiel in die Wüste verschwinden. Er würde gar nicht erst warten, bis der sinor Úldaise auftauchte, der hier seinen Besuch abstatten wollte, später am Tag. Sie würden den unschuldigen Mann in der Wüste suchen und dann, so stellte Advon es sich vor, würde er beide, das Mädchen und den Unbekannten, in den Cielástel zurückbringen, direkt in die Gemächer der fajíaé. Dort wären die beiden sicher, bis er Mutter und Vater eingeweiht hatte. Er würde berichten, was der grässliche Greis und Siledaú getan hatten, und seine Eltern würden beide beschützen, ganz besonders das kleine Mädchen, dessen Gegenwart sich so wunderbar anfühlte. Das, wie ihm immer deutlicher bewusst wurde, so gut geduftet hatte, so salzig und frisch. Ja, das war es: Sie hatte einen ganz eigenartigen Wohlgeruch mit sich gebracht, den er fast noch wahrnehmen konnte, wenn er die Augen schloss und schnupperte.

Er setzte sich an den Tisch, dorthin, wo sie vorhin noch gesessen hatte, grübelte weiter und begann dann, gedankenverloren mit dem Griffel zu spielen, der noch dort lag. Der schlanke Goldstab lag glatt und schwer in seiner Hand.

Advon hielt inne. Dann hob er das verhasste Schreibwerkzeug auf und betrachtete es nachdenklich.

***

Der unkundige Mann, dem offenbar die Aufsicht über den Stall oblag und dem die unfreundliche Alte so viel Angst gemacht hatte, hatte nun aufgehört, laut zu pfeifen und zu singen. Dýamirée hatte ihn die ganze Zeit von ihrem Winkel aus nicht sehen können, aber er hatte viel Lärm gemacht mit seinem Mistkarren und Gerätschaften. Dass im vorderen Bereich des Stalles noch mehr Leute gewesen waren, hatte das Mädchen zwar bemerkt, aber keiner war so weit gekommen, dass man sie gesehen hätte.

Dýamirée hätte laut rufen und sich bemerkbar machen können, es darauf ankommen lassen, ob man sie hörte und auf sie reagierte. Aber das Mädchen hatte instinktiv darauf verzichtet, das zu tun. Möglicherweise war die alte Frau in der Nähe und würde ihren Unwillen an dem armen verängstigten Mann oder den Hellen Magiern auslassen. Dýamirée konnte sich zwar kaum vorstellen, dass die Alte einem der seltsamen Ritter gefährlich hätte werden können, die ganz sicher keine richtigen Menschen waren. Aber sie hatte zweifellos irgendeine Art von Macht über die arcaval’ay.

Das Mädchen schaute sich um. Sehr viel zu sehen gab es nicht, denn der Vogelkäfig war zwischen lauter Gerümpel eingezwängt, das ihr den Blick versperrte. Der Kram erinnerte das Kind auf eine vage Art und Weise an die Unordnung im Arbeitszimmer des Vaters, über die sich selbst die Mutter manchmal gutmütig lustig machte. Ach, die Eltern …

Dýamirée erlaubte sich ein paar wütende Tränen und blickte dann wieder hinüber zu dem großen Einhorn, das sich gegenüber in seinem vergitterten Verschlag bewegte, immer wieder ein paar Schritte vor und zurück ging und einmal sogar sein Gefieder ausschüttelte, bevor es wieder aufmerksam seinen Kopf in ihre Richtung bewegte. Dýamirée war sich sicher, dass das Tier ebenso neugierig auf sie war wie sie auf es.

Nach einer Weile hörte sie den Stalldiener ganz in der Nähe. Er war wohl wieder allein im Stall. „Ist das da das Einhorn von Advon?”, fragte sie.

Der Mann schien zu erstarren, hatte wohl nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Dann wagte er sich in sicherem Abstand in ihr Blickfeld.

„Ja. Ist seiner. Woher weißte das?”

„Weil die Ritter ihn nicht mitgenommen haben.” Das Mädchen schaute bewundernd hinüber. „Er ist wunderschön.”

„Farbenspiel heißt er”, erklärte der Mann und kam auch etwas näher. „Wird mal ein ganz Prächtiger.”

„Ich würde ihn mir zu gerne einmal näher anschauen.”

„Unmöglich. Sind gefährlich, die Einhörner. Nichts für Kinder.”

„Mir tut er nichts”, behauptete Dýamirée. „Und ich kenne mich schon sehr gut aus mit Einhörnern.”

„Tatsächlich?”

„Ja. Ich weiß, dass sie im Schlafen fliegen können. Und ich bin ganz allein auf Perlenglanz geritten.” Über die näheren Umstände dieses schrecklichen Rittes schwieg Dýamirée wohlweislich. Aber es genügte, um das Interesse des Stallmeisters zu erregen.

„Kinder sollen nicht schwindeln”, mahnte er.

„Erwachsene auch nicht. Und Schattensänger lügen niemals. Und du kannst ja den Großmeister fragen. Der war dabei.”

„Ja, das werde ich wohl machen.” Er grinste. „Als ob ein kleines Mädchen wie du sich auch nur ‘nen Herzschlag im Sattel halten könnte!”

„Soll ich dir das beweisen, wenn du mir nicht glaubst?”

Der Stalldiener stützte sich auf seiner Mistgabel ab und wirkte kurz unentschlossen. „Ich glaub, dir glaub ich das sogar.”

„Glaubst du mir dann auch, dass ich dir ganz bestimmt nichts antun will?”

Er schnaubte auf. „Schwarzmänteln soll man nicht trauen! Hat meine Großmutter schon immer gesagt.”

Dýamirée seufzte. „Du hast ganz schön Angst vor der alten Frau, nicht wahr?”

„Vor Siledaú? Auch was. Mir hat sie nichts getan.”

„Aber sie ist gemein!”

Er zuckte die Achseln. „Na ja, hab freundlichere Großmütter getroffen. Solange ich alles ordentlich mache, ist sie zufrieden.”

Dýamirée verstand genau, was er damit nicht aussprach. Sie ordentlich zu bewachen, um der Alten keinen Anlass zu Unmut zu geben, stand für den Mann sicherlich außer Frage. Aber sie hatte ihn in ein Gespräch verwickelt. Und, so falsch es ihr vorkam, vielleicht war es gerade seine Angst, die sie ausnutzen konnte.

„Vielleicht hast du Recht, dass du so gut achtgibst. Wenn Schattensänger so gefährlich sind, dann ist das schon sicherer, wenn ich hier im Käfig sitze.”

„Wenn du nicht durch das Gitter hindurch einen bösen Zauber wirken kannst, wird sich Siledaú etwas dabei gedacht haben.”

„Gold hält Schattensängermagie gefangen. Das hat mein Papa mir erklärt. Deshalb gibt es da, wo ich herkomme, nicht mal eine Goldmünze, der vom Himmel gefallen wäre.”

Der Stallmeister runzelte die Stirn. „Gold? Vom Himmel gefallen? Blödsinn.” Er wandte sich brüsk ab. „Ich hab zu tun.”

„Was machst du denn?”

„Ich verteil Futter. Die werden hungrig sein, wenn sie zurückkommen.”

„Ich hab auch Hunger”, behauptete Dýamirée. „Gibst du mir was?”

„Ich weiß nicht, ob …”

„Ach, da hat die alte Frau sicher nichts gegen. Böse Hexen wollen immer, dass Kinder viel essen. Damit sie nachher besser schmecken.”

Der Mensch bedachte sie mit einem ausgesprochen befremdeten Blick. Dann entfernte er sich jedoch und kam mit etwas zurück, das dem Früchtekuchen ähnelte, den Cýelú mit ihr geteilt hatte. Nur, dass der in seiner Hand schon etwas altbacken war.

„Hier. Nimm das. Der Junge versucht immer wieder, das dem Einhorn in den Trog zu schmuggeln, der Lausebengel.”

Dýamirée bedankte sich artig, und er entfernte sich erneut und blieb eine Weile verschwunden. Das Kind betrachtete nachdenklich das Einhorn, das sich niederlegte und den Hals lang im Stroh ausstreckte. Seine gelben Augen mit den senkrechten Pupillen hatte Farbenspiel schläfrig halb geschlossen.

„Armes Tier”, sagte Dýamirée mitleidig. „Du sitzt auch hinter Gittern fest.”

Farbenspiel hob den Kopf und stellte die Ohren auf. Dýamirée neigte sich vor. Konnte dieses Wesen sie verstehen?

Nein, das war Unfug. Die Mutter hatte Dýamirée oft Märchen erzählt, in denen Menschen und Tiere sich in derselben Sprache unterhalten konnten. Dýamirée hatte das eine Weile wörtlich genommen und war enttäuscht über die sehr einseitigen Gespräche gewesen, die sie mit den Windninchen, Waldvögeln und Fischen im See geführt hatte. Da war sie noch ein sehr kleines Mädchen gewesen.

Warum wollen sich die Tiere nicht mit mir unterhalten?, hatte sie sich beim Vater beklagt.

Weil sie deine Sprache nicht sprechen, hatte er belustigt geantwortet, denn er wusste, woher seine Tochter die Idee hatte. Und als er gesehen hatte, wie enttäuscht sie darüber war, hatte er hinzugefügt, sie solle trotzdem nie aufhören, sich mit den Tieren zu unterhalten. Sie verstehen nicht deine Worte, hatte er gesagt. Aber sie spüren, wie du es meinst. Sie hören mit dem Herzen. Und kein Tier hat ein schmutziges Herz.

Dýamirée hatte sich das ihrerseits zu Herzen genommen und ihre Monologe den Tieren gegenüber einfach fortgeführt. Und die Mutter hatte darüber gestaunt, wie aufmerksam die bepelzte, gefiederte und schuppige Zuhörerschaft schien.

Mit den Einhörnern war es anders. Vielleicht waren sie die letzten wahrhaft magischen Kreaturen, die Pataghíu auf das Weltenspielbrett gesetzt hatte. Das hatte Dýamirée bereits bei Perlenglanz gespürt, und je länger sie nun Farbenspiel betrachtete, desto vertrauter fühlte sie sich mit dem Tier. Farbenspiel blinzelte sie mit langen Wimpern an. Der junge Hengst wäre sicher gerne mit den anderen Einhörnern mitgeflogen. Dýamirée streckte ihm durch das Käfiggitter den Arm entgegen, soweit sie konnte, reichte damit aber kaum aus der Nische heraus. Aber Farbenspiel hob den Kopf und streckte seine Schnauze in dieselbe Richtung. Dýamirée lächelte. Ja. Das Tier würde ihr helfen.

Im vorderen Bereich des Stalls schienen noch einige andere Einhörner zurückgeblieben zu sein. Daraus schloss Dýamirée, dass nicht alle arcavala’ay ausgeritten waren. Der Unkundige hielt sich einige Zeit dort auf und kam schließlich mit einem schweren Eimer Wasser herbei. Er bemühte sich, das Kind zu ignorieren, schloss die Gittertür zu Farbenspiels Verschlag auf und wuchtete den Eimer hinein. Farbenspiel erhob sich, um zu trinken. Dýamirée beobachtete das ganz genau und hatte einen Einfall.

„Ich hab gesehen, wie der Großmeister gezaubert hat”, sagte sie.

„So?”, fragte der Mann unwillig und schob die Tür wieder zu.

„Ja! Ich hab genau zugeschaut, wie er das gemacht hat. Ich glaube, Regenbogenritterzauber wirkt trotz Gold.”

Der Mann schaute über die Schulter, „Was … was hat der Meister denn gezaubert?”

Feuer!”, jubelte Dýamirée mit großer Geste. „Ganz viel Feuer! Alles hat gebrannt! Das ganze trockene Gras, und … und ich glaube, ich kann das auch!”

Der Stallmeister schrak zurück und packte eine nahebei stehende Mistgabel instinktiv wie eine Waffe.

„Vielleicht probiere ich das aus”, sagte Dýamirée. „Mir ist langweilig.” Sie strahlte den Stallmeister unschuldig an und begann mit wichtiger Miene, jene Gesten nachzuahmen, mit denen die Mutter so ungeschickt den Schutzzauber zu weben versucht hatte. Sie hoffte, das sähe beeindruckend aus.

Der Unkundige sah das tatsächlich mit Entsetzen. „Nein! Das … mach das nicht, Mädchen!”

„Warum denn nicht? Der Großmeister macht das jeden Tag.”

„Aber nicht in einem Stall voller Heu und Stroh! Es reicht doch wohl, wenn gestern schon der Garten von sinor Úldaise abgebrannt ist.” Er runzelte die Stirn und fragte: „Warst du das?”

Dýamirée zwang sich zu einem undurchschaubaren, unschuldigen Lächeln. Ihr Herz indes krampfte sich in ihrer Brust beisammen beim Gedanken daran, dass ein Garten verbrennen konnte. So etwas durfte nicht passieren!

Dem Stallmeister wurde es sichtlich unheimlich. Er warf dem Kind einen verstörten Blick zu und beeilte sich, wieder außer Sicht zu kommen.

Dýamirée streckte sich aus, soweit es ging. Wenn sie Glück hatte, musste sie nur noch etwas Geduld haben. Vor allem aber galt es, jetzt Ruhe zu bewahren. Auf keinen Fall durfte sie den Menschen ohne Not noch einmal in die Nähe locken.

Sie nickte Farbenspiel zu. Geduld, dachte sie in seine Richtung.

***

Der mestar traute seinen Augen nicht, als Láas und Jándris aus eigenem Antrieb im Schulzimmer auftauchten. Nachdem man ihm kurz zuvor mitgeteilt hatte, dass die Kinder heute keinen Unterricht erhalten sollten, hatte der gelehrte Mann sich eigentlich auf einen geruhsamen Tag gefreut, ganz allein mit seiner Lektüre. Vor wie Monden schon hatte er die speziellen Bücher erhalten, die ein alter Freund ihm aus dem fernen Forétern schicken ließ, und bislang hatte er nicht die Zeit gefunden, in Ruhe hineinzuschauen.

Und nun standen die beiden Jungen etwas verlegen vor ihm und wussten offenbar nicht, wie sie ihre Anwesenheit glaubhaft begründen sollten. Gerade das interessierte ihn aber sehr.

„Was wollt ihr hier?”, fragte der mestar befremdet.

„Láas sucht ein Plätzchen zum Schlafen”, scherzte Jándris schlapp. „Ich meinerseits habe mich gefragt, ob Ihr wohl etwas Lektüre über die Schwarzmäntel habt.”

„Über wen?”

„Über die Schattensänger. Wisst Ihr nicht, dass gestern einer hier Gast der teiranday war?”

„Ich hörte davon, wusste aber nicht, was von diesem Unfug zu halten ist. Schattensänger … bei den Mächten! Schon als ich ein junger Bursche in eurem Alter war, sind sie kaum noch in Erscheinung getreten.”

„Möglicherweise”, sagte Láas und verbarg halbherzig ein Gähnen hinter dem Handrücken, „weil es nur noch so wenige von ihnen gibt.”

„Habt ihr zwei den Magier den zu Gesicht bekommen?”

„Nein. Er scheint sich nur Auserwählten gezeigt zu haben.”

„Auserwählten. Und Tíjnje.”

„Unverantwortlich”, sagte der mestar kopfschüttelnd.

„Wieso gibt es nur noch so wenige Schattensänger, mestar?”, fragte Jándris und ließ sich an seinem Pult nieder. „Wisst Ihr etwas darüber?”

Der Gelehrte wiegte das Haupt. Dass die Jungen mit solchen Fragen kamen, nachdem das Gerücht vom Magier in der Burg die Runde gemacht hatte, war verständlich. Aber was sollte er ihnen groß erzählen? Die Schwarzgewandeten, Noktámas Diener, die einst zahlreich im Weltenspiel herumgewandert waren und allerhand Unheil und Unruhe gebracht hatten, waren schon in seiner Jugend kaum noch mehr gewesen als ein Relikt aus alten Zeiten, eine Kuriosität. Ganz ähnlich wie die Rotgewandeten, die angeblich die Menschen hinter die Träume geleitet hatten, und wahrscheinlich doch nie mehr gewesen waren als eine entfesselte Mörderbande, die sich als Krieger und fýntaray verdingt hatten. Dagegen waren die Regenbogenritter in Aurópéa schon etwas ganz anderes. Die existierten tatsächlich noch.

„Es heißt, dass die Magier sich in den Magischen und schließlich in den Chaoskriegen bis an den Rand ihrer eigenen Ausrottung gebracht haben. Gerade in den Chaoskriegen scheinen unmäßig viele von ihnen gefallen zu sein.”

„Sind denn keine nachgewachsen?”, gähnte nun auch Jándris. Die beiden Jungen schienen völlig übermüdet zu sein. Was mochten sie in der Nacht nur getrieben haben? Der mestar runzelte die Stirn. Wären die beiden zwei oder drei Sommer älter, hätte er sich nicht gewundert, wenn sie irgendwelchem frivolen Jungmänner-Unfug gefrönt hätten. Aber das wäre den Vätern sicher nicht entgangen und hätte mit Sicherheit auch keine Belohnung in Form von Freizeit mit sich gebracht.

„Einige forscoray aus Pianárdent”, sagte der mestar und suchte im Regal nach dem passenden Buch, „sind der Ansicht, dass die Mächte planvoll die Anzahl der Magier im Weltenspiel reduzieren wollten.”

„Wahrscheinlich wie beim Steinespiel”, murmelte Láas schläfrig. „Wenn man zu viele Steine hat, ist alles blockiert.”

„Damit hast du ja Erfahrung.”

„Was der yarlandor da sagt, ist gar nicht so weit hergeholt”, sagte der mestar und legte das Buch vor Jándris auf den Tisch. „Einer nicht bewiesenen, aber weitgehend akzeptierten Meinung nach führte das Ausscheiden von Magiern aller Seiten aus dem Weltenspiel dazu, dass die verbliebenen zwar weniger zahlreich, allerdings umso mächtiger wurden. Aber das ist eine Frage, die kaum noch Gewicht hat. Eben weil die Magier mit den wichtigen Dingen nichts mehr zu schaffen haben.”

„Was sind denn wichtige Dinge?”

„Die Zukunft, Altabete. Allianzen. Bündnisse. Stabile Verhältnisse, die Frieden und Wohlstand sichern. Dinge, für die ich mich hier Tag um Tag abmühe, sie in Eure Aufmerksamkeit zu bringen.”

Jándris blätterte mit mäßigem Interesse in dem Buch. „Kann man so einen Schwarzmantel eigentlich besiegen? Als nicht magischer Mensch, meine ich.”

Der mestar zuckte zusammen. Wie kamen die Kinder auf eine solche Frage? „Natürlich nicht! Wieso wollt ihr das wissen? Hat … hat der Gast der teiranda etwa eine Drohung ausgesprochen? Was wisst ihr darüber?”

Jándris Altabete schaute verwirrt von den Seiten auf. „Was? Oh … nein, nein. Der war völlig friedlich, soweit ich weiß. Ich dachte nur … also, wenn im Chaoskrieg ein Schwarzmantel mit einer Drohung vor meiner Burg aufgetaucht wäre, und ich müsste meine Schutzbefohlenen verteidigen – mit was für einer Waffe müsste ich mich ausrüsten?”

Der mestar warf dem jungen yarlandor einen misstrauischen Blick zu. Beruhigt war er immer noch nicht. Dieses plötzliche Interesse musste doch eine Bedeutung haben.

„Junger Herr”, sagte er, „in dem Moment, indem du eine Waffe gegen einen Schwarzmantel erhebst, hätte sein Blick dir schon die Seele ausgebrannt. Sie sind unbesiegbar. Zumindest was menschliche Waffenkunst angeht.”

„Das ist unfair. Noktáma muss den Menschen etwas gegeben haben, das sie zur Verteidigung einsetzen können. Sonst wäre doch das ganze Weltenspiel vergebens, sobald ein Magier auftaucht.”

Der Gelehrte zögerte. Dann nickte er. „Du hast recht, Altabete. Es gibt keine Waffe, aber es gibt einen Schild. Einen, den Pataghíu uns gegeben hat.”

„Und?”

Der mestar zögerte. Sollte er den beiden noch so unschuldigen Jungen, die sich offenbar noch mit dem Steinespiel vergnügten, einen Rat fürs Leben geben? Nur für den Notfall?

„Es heißt”, sagte er verschwörerisch, „die Schwarzmäntelinnen seien noch viel tückischer als die Männer. Ihre pure Gegenwart, so hat man erzählt, stürzt jeden ehrbaren Mann auf der Stelle in Wollust und Verderben. So schön und betörend sollen sie sein, aber gefährlicher als Feuer und Eis am gleichen Ort.”

Láas, der zwischenzeitlich halb eingedöst war, hob den Kopf und merkte auf. Auch Jándris hing plötzlich an den Lippen des mestar, wie der es in all der Zeit nie erlebt hatte. Offenbar hatte er endlich ein Mittel gefunden, die Aufmerksamkeit der Jungen zu fesseln.

„Und … wenn mir nun eine fánjula der Schwarzmäntel an die Ehre wollte”, fragte Jándris interessiert, und klappte das Buch zu, „was kann ich unternehmen, um ihren unheilvollen Zauber zu brechen?”

Der mestar lächelte. Das war der sieghafteste Tag seines Lebens.