„Einst”, hatte Yalomiro damals erzählt, „entschlossen die Mächte sich, ein neues Spiel zu beginnen. Sie bereiteten mit großer Weisheit und Umsicht das Spielfeld und schmückten es so, wie es ihnen gefiel.”

„Womit haben sie es geschmückt?”, hatte Dýamirée gefragt und sich wahrscheinlich etwas vorgestellt wie ein Schmuckstück oder ein schönes Band, das man sich ins Haar flechten konnte. Manchmal tat ich das für sie, denn es sah niedlich aus.

„Mit Pflanzen und harten Steinen”, hatte Yalomiro gesagt. „Mit hohen Bergen und weiten Ebenen, mit Gras und Sand, mit Erde und Wasser und Feuer und Eis.”

„Und mit Blumen.” Dýamirée hielt viel von Blumen. Sie liebte den Duft und freute sich, wenn Bienen und Schmetterlinge sie besuchten.

„Und mit Blumen. Und schließlich brachte Pataghíu das Sonnenlicht und die Farben in die Welt, und Noktáma die Schatten und den Sternenglanz.”

„Was hat das Licht getan?”, hatte ich gefragt. Für mich war diese Welt noch fast ebenso fremd wie für Dýamirée, die erst seit wenigen Sommern in ihr war und in dem Alter, in dem sie begann, Geschichten von uns zu verlangen. Diese hier hatte ich selbst noch nicht gehört.

„Das Licht brachte die Ordnung ins Weltenspiel. Und die Zeit.”

„Die Zeit?” Dýamirée hatte noch nicht viel vom Konzept der Zeit verstanden. Oder davon, dass Lebendiges alterte und verging. Sie begann, es zu ahnen. Sie war nicht mehr ganz so verblüfft und traurig, wenn sie im Herbst Blätter fallen sah.

„Alles im Weltenspiel hat seine Zeit, Dýamirée. Es beginnt und wird einmal enden.”

„Ich auch?”

„Du auch, kleiner Stern. Wir alle. Das ist in Ordnung so.”

Sie hatte nichts dazu gesagt, aber ihre Augen, ihr in sich gekehrter Blick waren eindeutig. Sie entschlüsselte, was das bedeuten mochte.

Ich hatte einen Moment lang Angst davor, das Yalomiro ihr nun die Idee von Alter und Tod in den Kopf gesetzt hatte, viel zu früh nach meiner Meinung. Aber Dýamirée war nicht beunruhigt. Sie wollte mehr.

„Und wie ging es weiter mit dem Weltenspiel?”

„Es ging nicht weiter, denn es hatte noch gar nicht begonnen. Denn mit dem Spielbrett allein ließ sich wenig mehr anfangen, als es zu betrachten. Und so erfreuten sich die Mächte an ihrem Werk und setzten dann die Figuren darauf.”

„Wo hatten sie die Figuren her?”, hatte ich neugierig gefragt, begierig, Details über den Schöpfungsmythos dieser Welt zu hören.

„Das weiß niemand”, hatte ich zur Antwort bekommen. „Das weiß ein forscor wahrscheinlich besser als ich. Sie erforschen das seit langer Zeit.”

Ich hatte gelächelt. Ich hatte ihm einmal versucht, etwas über die Entwicklung der Menschen, Evolution und solche Sachen zu erzählen. Er hatte mich nicht unterbrochen. Vielleicht schloss es sich einander nicht aus, das eine und das andere zugleich zu glauben. Aber nun, gut, offenbar war er darauf aus, ein einfaches Märchen zu erzählen.

„Die Mächte setzten ihre Figuren ins Spiel, die lebendigen Wesen, und freuten sich daran, wie sie es bevölkerten und ihre Geschichten begannen. Es waren sehr einfache Geschichten, damals, ganz am Anfang, ein Spiel nach ganz einfachen Regeln. Alles war gut und den Mächten gefällig. Aber dann begannen Dinge zu … geschehen.”

„Was für Dinge, Papa?”

„Es kam Unruhe in das Spiel. Es wurde unfair gespielt. Gemogelt. Betrogen. Das schöne große Weltenspielbrett beschädigt. Figuren zerbrachen. Die Mächte konnten sich das nicht erklären, denn Zerstörung war nicht der Sinn ihres Spiels, nicht vorgesehen in den Regeln. Und dann entdeckten sie Figuren inmitten des Weltenspiels, die nicht sie selbst geschaffen hatten. Und diese Figuren verstießen gegen so ziemlich jede Regel, die das Weltenspiel in Gang halten sollte.”

„Wo sind sie hergekommen?”, hatte ich gefragt und mir die Antwort fast gedacht

„Das Widerwesen hatte sie erschaffen.”

Dýamirée hatte ihm aufmerksam zugehört und sich an mich gekuschelt. Sie schwieg mit begierigem Blick. Was das Widerwesen war, wusste sie bereits. Wir hatten es ihr so stark vereinfacht erklärt, dass sie es verstand. Sie gruselte sich davor, aber sie hatte keine Angst, davon zu hören.

„Und so”, hatte Yalomiro weiter erzählt, „geriet das Weltenspiel langsam immer mehr ins Ungleichgewicht. Die Menschen, die von alledem nichts wussten, gaben einander die Schuld und verschlimmerten den Unfrieden so noch ohne das Zutun der Wesen, die nicht hätten da sein sollen. Und sie flehten zu den Mächten, dass es wieder Friede und Einklang werden sollte. Die Mächte machten sich auf den Weg zum Widerwesen und stellten es zur Rede.

‚Warum hast du diese Wesen in unser Spiel gesetzt?’, fragten sie.

‚Weil ich mitspielen will’, war die Antwort.

‚Warum hast du uns nicht geholfen, als wir es vorbereiteten?’, fragten die Mächte. ‚Warum hast du nicht mitgetan, als wir das Weltenspiel und die Wesen erschufen? Warum hast du nicht mit uns gespielt?’

‚Weil ich nicht nach euren Regeln wollte.'”

„Das Widerwesen ist dumm”, hatte Dýamirée verächtlich festgestellt. „Und ungezogen.”

Ich hatte sie fester an mich gedrückt und Yalomiros Blick gesucht. Wir hatten es gesehen, wir beide. Das unbegreifliche, ewige, zerstörerische Widerwesen. Es lässt sich mit Worten nicht annähernd beschreiben, was es ist, mit dem Verstand nicht erfassen. Wenn Yalomiro ihm hier, um des Märchenerzählens für ein Kind willen, eine Stimme gab, dann war das eine ungeheure, vielleicht leichtsinnige Verharmlosung. Ich wusste das, und er auch. Aber er redete weiter.

„Und als die Mächte begriffen, dass das Widerwesen nichts anderes im Sinn hatte, als ihnen das schöne und kostbare Spiel zu stören, da waren sie sehr verärgert. Sie schalten das Widerwesen und hießen es, seine Figuren einzusammeln und damit vom Weltenspielbrett zu verschwinden. Es solle sich ein eigenes Spiel nach seinen Regeln ausdenken, wenn ihm das ihre nicht passen würde. Und so ging es eine lange, lange Zeit hin und her. Das Widerwesen wollte nicht davon ablassen, das Spiel zu stören, und die Mächte wussten nicht, wie sie es davon abhalten sollten, ohne dass dabei das ganze schöne Spielbrett in das sie so viel Liebe und Mühe gelegt hatten, ganz in Stücke ginge.”

„Wie lange haben sie gestritten?”

„Lange genug, dass in der Zeit die letzten Menschen, die das alte, das reine und perfekte Spiel noch kannten, hinter die Träume gingen, Salghiára. Die Unkundigen wissen davon nur noch aus uralten Geschichten, die bei jeder Überlieferung undeutlicher und verwischter werden.”

Wie eine Kopie von einer Kopie von einer Kopie. Auch Yalomiro selbst hatte die Geschichte sicher ein ganz klein wenig anders erzählt, als er sie einmal von Meister Askýn oder einem anderen Schattensänger gehört haben mochte.

„Und wann haben sie aufgehört, zu streiten?”, hatte Dýamirée wissen wollen.

„Die Mächte hatten lange Geduld mit dem Widerwesen. Aber je länger sie miteinander stritten, desto mehr ging im Weltenspiel entzwei. Es heißt, dass so die Durchgänge im Montazíel im Getümmel entstanden sind, und die großen Sümpfe im Westen, und dass es einst viel mehr Inseln im Meer gab. Schließlich mochten die Mächte sich das nicht mehr ansehen. Sie taten etwas, das nur ein einziges Mal geschah seit sie das Spiel begonnen hatten. Sie griffen selbst und unmittelbar in den Spielverlauf ein, packten die Figuren des Widerwesens und warfen sie über den Rand ihrer Schöpfung.” Er lächelte. „Und das Widerwesen konnte gar nichts dagegen tun, denn die drei Mächte waren ihm gemeinsam überlegen.”

„So ein Glück”, hatte Dýamirée aufgeatmet. Sie konnte es selbst in Geschichten nicht leiden, wenn Dinge kaputt gingen und Leute sich stritten. Diesen Charakterzug hatte sie wahrscheinlich von mir geerbt. Mit Konflikten hatte ich nie gut umgehen können.

„Wohin sind sie gefallen – über den Rand des Weltenspiels hinweg?” Ich hatte mir darunter nichts Konkretes denken können. Ich stellte es mir ein wenig wie diese alten Bilder von der flachen Erde vor. Wie sich herausstellte, war das gar nicht so abwegig.

„Jenseits des Weltenspiels sind sie”, hatte Yalomiro gesagt. „Im Chaos.”

„Im Chaos?”

Er nickte und fügte hinzu: „Du darfst es dir nicht unbedingt räumlich vorstellen. Jenseits des Weltenspiels gilt Raum und Zeit nicht.”

„Mir ist mein schöner Becher vom Tisch gefallen”, berichtete Dýamirée ernsthaft, ohne besonders schuldbewusst zu wirken.

„Und jetzt ist er kaputt?” Ich hatte nicht davon gewusst und auch keine Scherben gefunden. Wahrscheinlich hatte Yalomiro das Trinkgeschirr umgehend heilgezaubert. Er konnte Dýamirée nicht widerstehen, wenn sie ihn um etwas bat.

„Nicht mehr.”

„Na, so ein Glück.”

„Die Spielfiguren des Widerwesens sind nicht kaputt”, fuhr Yalomiro fort. „Es heißt, das Widerwesen irrt bis heute durchs unendliche Chaos und versucht, sie einzusammeln. Damit wird es wohl eine Weile beschäftigt sein.”

„So viele sind es?”, hatte Dýamirée gefragt und staunend die Augen aufgerissen.

„Ja”, hatte Yalomiro geantwortet. „Mehr, als Blätter an den Bäumen sind.”

„Und wie kann es sein, dass Ovidáol Etaímalar …”

„Der Verfluchte.”

„Dass der Verfluchte Chaosgeister beschworen hat?”, fragte ich Yalomiro. „Dass es etwas aus dem Chaos heraufbeschworen hat, und … ich kann irgendwie nicht glauben, dass das Widerwesen ihm Macht über seine Geschöpfe gegeben hat.”

Yalomiro schwieg einen Augenblick. Wir gingen durch den Wald, in einem großen Bogen um den Etaímalon herum. Yalomiro wirkte Schutzzauber, um Unkundige für die Zeit unserer Abwesenheit davon abzuhalten, den Wald zu betreten. Dass ich es anschließend in Noktámas Halle selbst versuchen sollte, darauf bestand er. Den Boscargén zu versiegeln, kostete etwas Zeit, war aber nötig, wenn wir beide nicht da waren.

„Das haben die Schattensänger damals auch gedacht”, sagte er und wob seinen Bann zwischen zwei Baumstämmen, wo er, für unkundige Augen unsichtbar, glomm wie ein Spinnenfaden. Oder eine Lichtschranke. „Es war unfassbar, dass er es mit seinen Kräften fertig gebracht hatte, Chaosgeister zu beschwören und sie wieder zurück ins Weltenspiel zu bringen. Das war fast erstaunlicher als der Umstand, dass das Widerwesen es ihm gestattete.”

„Warum hätte es das nicht tun sollen? Ist es nicht seit jeher auf Verwirrung und Zerstörung aus?”

„Der Verfluchte war überheblich, es auch nur zu versuchen. Genaugenommen hat er dem Widerwesen sein Spielzeug weggenommen, um es selbst zu benutzen und zu übertrumpfen.” Er spannte einen weiteren magischen Draht und suchte nach Worten. „Vielleicht war das Widerwesen darüber so verwirrt, dass es ihm nicht Einhalt geboten hat. Und anschließend war es möglicherweise amüsiert.”

„Heißt das, es war nicht von Anfang an damals der Plan des Widerwesens, dass Ovidá … der Verfluchte die Regenbogenritter bekämpft?”

„Das kann ich nicht wissen. Die alten Schattensänger wussten es ebenso wenig.”

Ich folgte ihm. Den Kreis um den Etaímalon hatten wir zu gut zwei Dritteln geschlossen. Ich fragte mich beiläufig, wie weit Moréaval mit seinem flügelschnellen Pferd derweil gekommen war.

„Warum machen wir das hier eigentlich?”, fragte ich. „Was passiert, wenn Unkundige versuchen würden, den Wald zu betreten?”

„Nicht viel. Sie laufen in die Irre und werden das tun, bis sie sich wünschen, umzukehren. Heraus aus dem Wald finden sie immer. Wir bringen keine Menschen in Gefahr, Salghiára,. Schließlich ist der Boscargén kein gruseliger Zauberwald voller Hexen und sprechender Wildwölfe und grimmiger Räuber, wie in deinen Märchen.”

„Und wenn ein Regenbogenritter es versuchen würde?”

„Wie kommst du darauf?”

„Weil du nicht riskieren wollen würdest, dass noch einmal einer es versucht, während wir beide weggelockt sind.”

„Unwahrscheinlich. Mit dem, was noch im Etaímalon ist, könnte keiner von ihnen irgendetwas anfangen.”

„Und warum wollen sie dann diesen komischen Zauberstab?”

„Das, Salghiára, soll uns die fajía selbst erklären.”

„Die fajía? Warum die fajía?”

„Weil ich die Hoffnung habe, dass sie über jegliche Unvernunft erhaben ist. Immerhin war sie leibhaftig dabei, als der Verfluchte in die Flucht geschlagen wurde.”

„Ist sie unsterblich?”

„Nein. Zumindest nicht außerhalb des Cielástel. Ihre Schwestern haben damals ihr Leben gelassen.”

Er widmete sich wieder seinem magischen Zaun. Ich versuchte, mir einzuprägen, was und wie er es tat, verstand auch bis zu einem gewissen Punkt, was er anstellte, scheiterte dann aber an Details. Das frustrierte mich, denn ich war überzeugt davon, dass das, was er da tat, nicht einmal besonders kompliziert war.

„Wenn Dýamirée wieder bei uns ist”, sagte ich, „dann will ich lernen, richtig zu zaubern, Yalomiro.”

„Kann man denn falsch zaubern?”, fragte er geistesabwesend.

„Ich will mich mehr anstrengen. Ich will all das genau so können wie du es gelernt hast.”

Er lächelte, allerdings nicht so amüsiert, wie ich gehofft hatte.

„Yalomiro … was sind Chaosgeister eigentlich?”

„Wie meinst du das?”

„Nun ja … sind sie auch etwas Körperloses wie das Widerwesen? Sind es Spukgestalten? Sind sie, ich weiß nicht … Energieformen? Oder Dämonen?”

„Was sind Dämonen?”

Oje. Um ihm das zu erklären, fehlte die Zeit. Dazu hätte ich so weit ausholen müssen.

„Es sind Monster”, sagte er schließlich so ruhig, dass ich stutzte. „Ganz gewöhnliche Monster.”

„Monster?”

„Sie sind körperlich, aber zeitlos. Sie nehmen Gestalten an, die sich weder mit der Natur noch mit dem Verstand erklären lassen. Sie haben übermenschliche Kräfte und Fähigkeiten, sind aber selbst nicht magisch. Und dann gibt es noch die anderen.”

„Welche anderen?”

„Es gibt eine zweite Sorte von Chaosgeistern. Zumindest heißt es so in den alten Erzählungen, und Meister Askýn hat Arámaú und mir bei den Mächten geschworen, dass er solche im Gefolge des Verfluchten gesehen hat. Er nannte sie die minderen Chaosgeister. Vielleicht waren die … harmlos genug, damit der Verfluchte sie mit diesem komischen Zauberstab hier, wie du ihn nennst, in Schach halten und lenken konnte, wie ein Hirte mit seinem Hütestab.” Er warf einen unbehaglichen Blick auf das Artefakt, das er schon die ganze Zeit mit sich herumgetragen hatte. „Und wenn dem so wäre, wirft es noch mehr Fragen auf.”

„Was sind denn nun die minderen Chaosgeister?”, fragte ich ungeduldig.

„Das sind Chaosgeister, die das Widerwesen nicht selbst als Verhöhnung der Mächte erschaffen hat.”

„Und wo kommen sie dann her?”

„Sie sind zu irgendeiner Zeit einmal aus dem Weltenspiel heraus ins Chaos hinein geraten. Sie haben das Weltenspiel verlassen, ohne hinter die Träume gegangen zu sein.”

Ich starrte ihn verdattert an. Wie konnte man sterben, ohne zu sterben?

„Sie sind nicht gestorben. Sie sind … nun, nach deiner Vorstellung sind sie über den Rand des Spielbretts gefallen. Es gibt wohl durchlässige Orte am Rande des Chaos, an denen das … möglich ist. Von einem Weg weiß ich selbst, aber es wird andere geben. Die arcaval’ay bewachen deshalb die Wüste.”

Ich verstand ihn immer noch nicht, also erklärte er: „Seefahrer, die nahe des Chaos Schiffbruch erlitten und hineingezogen wurden. Wanderer, die in der Wüste in die Irre gelaufen sind. Oder die es aus Neugier, Not oder irgendeinem anderen Grund tief in das Eis zu Seiten des Montazíel verschlagen hat.”

„Eis?”

Yalomiro deutete auf das eingefasste Ding an der Spitze des Stabes, das ich die ganze Zeit für einen angeknacksten Kristall gehalten hatte.

„Du meinst, das ist ein Eiswürfel?”, fragte ich verblüfft. „Warum schmilzt es nicht? Warum ist es nicht kalt?”

„Wenn es schmelzen würde, hätte es dem Verfluchten gerade in Aurópéa nicht viel genützt. Er hat es für seine Zwecke verändert.”

Natürlich. Wie dumm von mir.

„Es heißt, und nach alldem, was ich erlebt habe, als ich willentlich ins Chaos geschwommen bin, um das ay’cha’ree zu bergen, dass Menschen, die das Weltenspiel auf diesem Weg verlassen, selbst zu Chaosgeistern werden. Dass sie sich verändern und andere Eigenschaften erhalten. Zu einer neuen Art von Spielfigur werden, wenn du es so ausdrücken willst.”

„Wenn Noktáma dich im Chaos nicht beschützt hätte”, fragte ich beklommen, „dann …”

Er nickte. „Wahrscheinlich. Und wenn Egnar und Majék nicht zufällig ein Fischernetz dabei gehabt hätten, wäre ich wohl kaum entkommen.” Er ging weiter und zauberte hier einen silbern glimmenden Zauberfaden zwischen zwei Stämme, legte dort ein sachtes Gespinst über ein Gebüsch. Ovidáols Stab legte er dabei nicht beiseite, aber das Artefakt reagierte in keiner Weise darauf, dass Yalomiro Magie wirkte, dass Kraft floss, die der seines Schöpfers entsprechen mochte.

Ich betrachtete den Stab aus einer ganz neuen Perspektive. War er kaputt? War dieser seltsame Sprung in der Mitte des Eisklumpens eine Beschädigung, die ihn zerstört hatte? Oder gehorchte er nur seinem ursprünglichen Meister? War es tatsächlich ein so persönliches Artefakt, dass es in den Händen eines anderen unnütz war; eine Vorsichtsmaßnahme, die Schattensänger über so viele ihrer Dinge legten, um Missbrauch zu verhindern?

Was war den Regenbogenrittern daran so wichtig, dass sie nach so langer Zeit nicht vor Kindesentführung zurückschreckten?

„Yalomiro … Wenn diese minderen Chaosgeister ganz normale Leute waren … und du selbst … ich meine …”

„Nein”, sagte er. „Kein Gut, kein Böse. Es kann den Mächten gefälligen Menschen ebenso widerfahren sein wie gewissenlosen Schurken. Das Chaos macht keinen Unterschied, ebenso wenig wie das Licht.”

„Dann sind nicht alle minderen Chaosgeister gefährlich?”

„Ich möchte es nicht darauf ankommen lassen, herauszufinden, was das Chaos mit einem Verstand anstellt.”

Ich dachte nach. Nun, es war unwahrscheinlich, dass wir in Aurópéa auf Chaosgeister treffen würden. Ich musste mir keine Gedanken darum machen. Wir würden den Regenbogenritter aufspüren, und Yalomiro würde mit ihm verhandeln. Am Ende würde das womöglich ohnehin wirkungslose, für die arcaval’ay außerdem unzugängliche Artefakt den Besitzer wechseln, wir würden Dýamirée wieder mit den in Boscargén nehmen und dann wahrscheinlich niemals wieder etwas von den Regenbogenrittern hören. Das konnte nicht länger als ein paar Stunden dauern.

Und doch ließ mich der Gedanke an die Chaosgeister nicht los. Ich musste mich dazu zwingen, sie mir nicht als Dämonen oder Teufel vorzustellen. Das war eine viel zu präzise Vorstellung für Wesen, die letztlich aus der Unordnung erschaffen waren und sicher überhaupt nicht nach Kategorien wie Gut und Böse zu messen waren. Aber wie schrecklich musste es sein, durch irgendwelche Umstände unfreiwillig zu einem solchen Wesen zu werden?

Yalomiro hatte außerhalb von Märchen, mit denen er Dýamirée unterhalten wollte, nie viel über Chaosgeister geredet, und ich hatte es versäumt, ihn genauer danach auszufragen. Ich hatte die Chaosgeister, die stets nur flüchtig und verschwommen, ja: geisterhaft in seinen Erzählungen erschienen waren, hingenommen wie ich in einem meiner Märchen Riesen und Hexen und sogar Teufel hingenommen hatte. Das war fahrlässig gewesen, begriff ich nun. Das war wahrscheinlich jenes berühmte Quäntchen Wahrheit, das in jedem Märchen steckte.

Trotzdem wurde ich den Gedanken nicht los, dass Ovidáol, der Verfluchte, sich damals an einer Art Dämonenbeschwörung versucht hatte, um Macht und Anteil über etwas zu erlangen, was das Widerwesen für sich selbst geschaffen hatte.

Das war dreist und unerschrocken. Es war eine ganz andere Art von Ungeheuerlichkeit als jene, die damals der Rotgewandete vollbracht hatte.

Vielleicht wäre Ovidáol ein viel gefährlicherer Gegner gewesen, als Gor Lucegath es war, der sich aus gänzlich anderen Motiven dem Widerwesen hingegeben hatte. Es hatte viele Schattensänger und Regenbogenritter gebraucht, um Ovidáol zu bezwingen und zu entwaffnen. So lange war das her, und nun, aus heiterem Himmel, wurde es für die Hellen Magier wieder zum Thema.

Warum?

„Bist du jemals Regenbogenrittern begegnet?”, fragte ich ihn.

„Ja. Aber das ist lange her. Ich war noch ein Junge.”

„Warst du in Aurópéa?”

„Nein. Sie waren hier.”

Offensichtlich wollte er nicht darüber reden. Aber ich ließ nicht locker. Ich musste es wissen.

„Wegen dem Stab?”

„Nein. Wegen einer gänzlich anderen Sache. Die Meister haben es untereinander geregelt und alles war gut. Der Stab war niemals ein Thema. Es schickte sich nicht, darüber zu reden. Bis heute wohl. Bald wissen wir mehr.”

Er warf den nächsten Zauber mit etwas mehr Wucht als nötig gegen einen nahen Baumstamm. Die Blätter zitterten sacht. Yalomiro ließ die Hände sinken und seufzte.

„Dýamirée sollte nicht zu lange bei ihnen sein. Komm. Beeilen wir uns. Wer weiß, was die arcaval’ay ihr sonst Verwirrendes ins Herz setzen mögen.”