Wir schauten Jóndere Moréaval nach, wie der auf seinem neu gesattelten Pferd zwischen den Bäumen des Boscargén verschwand. Der silberne Pferdehuf glänzte noch ein-, zweimal auf, als der Reiter sich entfernte. Yalomiro hatte noch lange Zeit mit dem Ritter geredet, über Dinge in Wijdlant, die ich, ohne den Zusammenhang zu kennen, nicht verstand. Mehrfach fiel der Name Rodekliv, wohl ein Verwandter von yarl Emberbey oder etwas in der Art. Ich entschloss mich, Yalomiro später danach zu fragen. Auf dem Weg nach Aurópéa hätten wir wohl ausreichend Zeit dafür.

Nun stand ich in unserer Kammer und überlegte ernsthaft, was ich für den weiten Weg einpacken sollte. Zu meiner Überraschung fiel mir nichts ein. Früher hatte ich mich, wenn ich aus irgendeinem Grund auch nur für eine Übernachtung aus dem Haus war, eine große Reisetasche mitgeschleppt, um für alle denkbaren Szenarios gewappnet zu sein. Aber jetzt? Kleidung? Das, was wir am Leib trugen, verwob sich irgendwie mit unserer maghiscal, sodass es nie für längere Zeit schmutzig oder beschädigt wurde. Proviant? Yalomiro musste niemals essen oder trinken. Ich tat es manchmal noch, aus alter Gewohnheit. Aber zu dieser Jahreszeit würde es sicher am Wegesrand genug essbare Pflanzen geben.

Wasser! Wasser mussten wir mitnehmen. Es würde mir nicht noch einmal passieren, dass ich mit Yalomiro auf Reisen ging, ohne Wasser bei mir zu haben!

„Yalomiro?”, rief ich nach ihm. Ich wusste, dass er im Etaímalon war, wir waren zusammen wieder ins Gebäude gegangen. „Haben wir einen Trinkschlauch oder so etwas hier?”

Er antwortete nicht, auch nicht, als ich ein zweites und drittes Mal nach ihm rief. Das irritierte mich, also ging ich ihn suchen. Ich fand ihn in Noktámas Halle, wo er auf dem Thron des Großmeisters saß. Er hatte Dýamirées unförmiges Kuscheltier in den Händen und den Blick müde darauf gesenkt.

„Yalomiro?”

„Ich glaube, ich weiß, in welcher Truhe ein Spielzeug ist, mit dem sich Wasser transportieren lässt”, sagte er. Also hatte er mich gehört und gewollt, dass ich zu ihm komme, ohne nach mir zu rufen. Als er nun aufblickte, bemerkte ich einen seltsamen Ausdruck auf seinem Gesicht. Er schien sich unbehaglich zu fühlen.

„Ist alles in Ordnung?”, fragte ich ihn verunsichert.

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Salghiára … Du hast dir sehr große Vorwürfe gemacht, weil es mit dem Schutzzauber für den See nicht zu deiner Zufriedenheit geraten ist, nicht wahr?”

Ich trat vor den Thron und nickte. „Ja. Der Regenbogenritter konnte nur in den Wald eindringen, weil ich es aufgegeben hatte. Wenn nicht, dann hätte er Dýamirée nicht gestohlen.”

„Er wollte Dýamirée nicht stehlen. Es gibt hier etwas, wovon du nichts weißt, Salghiára. Etwas, das sein eigentliches Ziel war.”

„Etwas, wovon ich nichts weiß? Warum nicht?”

„Weil ich dir in all der Zeit nie gesagt habe, dass es hier ist. Ich wollte nicht, dass es dich beunruhigt. Und ich wollte nicht, dass das Wissen darum dich oder Dýamirée in Gefahr bringt. Und … weil ich selbst so gern vergessen wollte, dass es da ist. Ich habe kaum noch daran gedacht, seit wir hier beieinander sind. Bis jetzt.”

„Wovon redest du da?”

„Setz dich. Es ist Zeit, dass du es mit eigenen Augen siehst.”

Er erhob sich, stieg die Stufen von dem erhöhten Thron hinab und gab mir im Vorbeigehen Dýamirées Schmusetier in die Hand. Mit ungutem Gefühl nahm ich seinen Platz ein und wartete, was geschehen würde. Wenn Yalomiro so ernst war, dann gab es tatsächlich einen Grund zur Beunruhigung.

Yalomiro kniete vor der Estrade nieder. Einen Moment lang legte er die Hände auf der mittleren Stufe ab und verharrte reglos. Dann gab er sich einen Ruck und sang. Mit einer unglaublich kompliziert verschlungenen Tonfolge öffnete er ein Siegel und klappte dann die Steinplatte hoch.

Ich neigte mich verwirrt vor. Ein Geheimfach? In Noktámas Halle? Zu Füßen des Großmeisterthrones? Yalomiro zögerte, hineinzugreifen. Als er es schließlich tat, schien es ihn Kraft und Überwindung zu kosten. Es war sperrig, er hatte Mühe, es hervor zu ziehen, nicht, weil es schwer gewesen war, sondern weil er selbst gegen einen inneren Widerstand ankämpfte. Als es ihm schließlich gelang und er es in der Hand hielt, war ich verwirrt. Es handelte sich um eine Stange, von der ich auf den ersten Blick nicht sagen konnte, ob sie aus Holz oder Metall bestand. Vielleicht aus beidem. Ein silbernes Muster wand sich auf einer glänzend schwarzen, glatten Oberfläche. Am oberen Ende des Stabes war etwas Durchsichtiges angebracht, gehalten von einer Fassung aus silbernen Krampen, die miteinander einen dreidimensionalen ungleichmäßigen Stern ergaben. Der krallte sich um das Objekt wie eine Hand mit dürren Fingern.

Yalomiro drehte den Stab und stellte ihn vor sich ab. Das Ding überragte ihn um zwei Handlängen.

„Was ist das?”, fragte ich verwirrt.

„Du kennst es.”

„Woher soll ich es kennen? Ich wusste nicht, dass es hier unter der Treppe liegt.”

„Du hast es einmal auf einem Bild gesehen.”

Auf einem Bild? Was für ein …

Und dann begriff ich, welches Bild er meinte. Es befand sich in der Halle der Burg von Valvivant, nahm dort eine ganze Wandseite ein und war mit vielen Farben und Gold und schrecklichem Schwarz gemalt. Das Bild hatte mir damals entsetzliche Angst gemacht. Eine Darstellung der Schlacht um Aurópéa, am Ende der Chaoskriege, deren zentrales Motiv ein Schattensänger war, der Regenbogenritter und Feen auslöschte. Der Verfluchte. Ovidáol Etaímalar.

„Ist das … ein Werkzeug?”, fragte ich leise.

Yalomiro schüttelte den Kopf. „Nein”, sagte er schlicht. „Es ist eine Waffe.”

„Eine Waffe?”

„Die erste und einzige Waffe, die jemals ein Schattensänger gefertigt hat. Tödlicher als jedes Schwert, als jedes Geschoss, als jedes Gift.”

Ich schaute an dem Stab hinauf. Das Ding an der Spitze, das Durchsichtige im Zentrum, schien mir ein großer Edelstein oder Kristall zu sein, aber es fehlte die Brillanz, die ich bei einem solchen erwartet hätte. Es wirkte irgendwie beschädigt.

„Wieso ist es hier?”, fragte ich beunruhigt. „Wieso ist es versteckt?”

„Es ist hier, weil Schattensänger es erbeutet haben, damals, während dieser … Katastrophe. Er musste es zurücklassen, und unsere Großmeister haben Noktáma gelobt, es nie wieder herzugeben.”

Ich erhob mich, um mir Ovidáols Stab aus der Nähe anzuschauen. Yalomiro hielt ihn in den Händen, als sei es ihm körperlich unangenehm. Aus der Nähe betrachtet sah ich, was an dem Objekt in der Silberfassung nicht stimmte. Es war tatsächlich eine Art Kristall, grob und unregelmäßig geformt und ursprünglich durchsichtig wie Wasser. Aber es hatte Sprünge im Inneren, die vom Zentrum bis fast an den Rand ausfaserten und den Glanz brachen. Es sah aus, als sei etwas im Inneren des Steins zerborsten und die Explosion darin erstarrt.

„Könntest du es benutzen?”, fragte ich fasziniert.

„Nein. Es ist mit seiner maghiscal veknüpft gewesen, ein simples persönliches Artefakt. Ich könnte es ebenso wenig seiner Bestimmung nach benutzen wie ein anderer camata’ay meine Geige spielen könnte. Abgesehen davon habe ich nicht vor, alles weit und breit in Schutt und Asche zu legen. “

Ich schauderte. „Er hat damit in Aurópéa und unter den arcaval’ay gewütet, nicht wahr?”

„Ja. Bis es meinesgleichen gelungen ist, es zu erbeuten und hierher zu bringen.”

„Und du glaubst, der Regenbogenritter wollte … das da haben?”

„Ja. Und er hätte es sich geholt, wenn er in den Etaímalon eingedrungen wäre. Dich, Salghiára, hat gerettet, dass du keine Ahnung hattest, wovon er redet – weil du von dem Großmeisterstab nichts wusstest. Hätte er mich angetroffen, wäre er wahrscheinlich darauf vorbereitet gewesen, mit mir darum zu kämpfen.” Yalomiro drehte den Stab in den Händen und hielt ihn schräg von sich. „Möglicherweise hat er angenommen, ich hätte ihn bei mir. Und nun wird er bereit sein, ihn gegen Dýamirée zu tauschen.”

Ich dachte nach. Mein erster Impuls war es, erleichtert darüber zu sein, dass wir wohl das passende Objekt besaßen, um Dýamirée auszulösen. Aber an der Geschichte war etwas seltsam.

„Was will ein Regenbogenritter damit? Und warum gerade jetzt?”

„Ich habe keine Ahnung.”

„Könnten sie es benutzen? Ich meine … es ist ein Schattensängerwerkzeug, oder?”

„Ich denke nicht, dass einer von ihnen irgendetwas damit anfangen könnte. Aber ich kann nicht wissen, was ihnen in all den vergangenen Sommern und Wintern eingefallen ist. Wenn sie es wirklich hätten haben wollen, es wäre ein Kinderspiel für sie gewesen, in den Etaímalon einzubrechen, als ich keinen Widerstand leisten konnte. Fünfzig Sommer lang. Es hat sie nicht interessiert.”

Ich hatte mich oft gewundert, mich oft gefragt, wie es hatte sein können, dass Gor Lucegath seinerzeit den Boscargén verheeren und alle Schattensänger bis auf Yalomiro und Arámaú umbringen konnte, ohne dass es den Regenbogenrittern auch nur einen Blick wert gewesen war. Selbst wenn die arcaval’ay mit den camat’ay in einer Art angespanntem Übereinkommen lebten und sich gegenseitig aus ihren Dingen heraushielten, war mir immer noch unbegreiflich, dass ihnen Gor Lucegaths Machenschaften nicht aufgefallen sein sollten. In ihrem eigenen Interesse hätten sie nachforschen müssen, ob das Verschwinden der Schattensänger und der Bann über Wijdlant ihnen nicht vielleicht auch gefährlich hätte werden können.

Hatte es sie nicht interessiert? Oder hatte etwas sie davon abgehalten? Abgelenkt?

„Du bist nicht allzu wütend auf mich, weil ich es dir verheimlicht habe, scheint mir?”, fragte er und riss mich damit aus den abschweifenden Gedanken.

„Es hätte nicht viel geändert, wenn ich es gewusst hätte”, behauptete ich. „Ich weiß ja auch nicht, ob hier irgendwo ein Trinkschlauch herumliegt.”

„Hättest du es ihm herausgegeben, wenn du gewusst hättest, dass es da ist? Mit dem Wissen, was es ist, und wie schrecklich es ist?” Yalomiro wechselte den Stab in die andere Hand. „Um Dýamirée zu retten? Ohne zu wissen, was er damit vorhat?”

Ich zögerte einen Moment. Ovidáol Etaímalars Waffe sah so harmlos aus. Sie fühlte sich auch überhaupt nicht magisch an, es strahlte nichts von ihr ab. Wenn es die Art von Werkzeug war, durch die sein Besitzer eigene Magie kanalisierte und in einer anderen Hand als der seines Schöpfers überhaupt nicht funktionierte, dann war dieser Stab völlig harmlos. Ein ausrangiertes, wertloses Stück Gerümpel. Aber wäre es wirklich so gewesen, hätte ich von der Existenz dieses sonderbaren Zauberstabes gewusst und Cýelú Irísolor gedroht, Dýamirée etwas anzutun, vor meinen Augen … und ich hätte es verhindern können, indem ich ihm das Ding einfach gegeben hätte …

Ja. In dem Moment wäre mir vermutlich egal gewesen, für was für einen finsteren Zweck der Regenbogenritter den Stab hätte haben wollen. Dýamirées Unversehrtheit wäre mir wichtiger gewesen als sie Zukunft der Welt.

„Wahrscheinlich”, gab ich dann zu. „Und du?”

Er schaute mich einen Moment lang forschend mit seinen silberdurchsetzten Augen an.

„Deine Phantasie reicht nicht aus, um dir auszumalen, wozu das hier geschaffen wurde, nicht wahr?”

„Nein”, gab ich zu.

„Dann ist es besser so.”

„Hättest du? Hättest du es ihm überlassen?”

„Nun. Ich beabsichtige, es nach Aurópéa zu bringen. Ob und auf welche Weise es den Besitzer wechseln wird, wird sich zeigen. Ich werde es nicht aus der Hand geben, bevor du Dýamirée wieder wohlbehalten in dein Armen hältst, Salghiára. Das gelobe ich dir bei den Mächten.”

Ich schloss die Augen. Es war das, was er nicht sagte, das mich beunruhigte.

„Wir haben keine Zeit zu verlieren, Salghiára. Der Cielástel ist weit fort. Er hatte sein fliegendes Einhorn. Wenn er nicht bereits am Ziel ist, wird er es bald sein.”

„Wie kommen wir hin?” Darüber hatte ich mir noch gar keine Gedanken gemacht. „Durch die Schatten?”

„Nein. Das dauert viel zu lange. Wir müssen die arcaval’ay überraschen. Ich dachte mir, wir versuchen es mit dem Weltenschlüssel.”

Ich legte die Hand auf den silbernen Schlüssel, jenem Werkzeug, das mich damals in diese Welt gebracht hatte. Nachdem es seinen Nutzen verloren hatte, hatte Yalomiro es mir geschenkt, und ich trug es seither wie ein Schmuckstück an einem Kettchen um den Hals.

„Sagtest du nicht, er würde nicht mehr funktionieren?”

„Nicht in eine äußere Welt. Aber da wollen wir schließlich auch nicht hin, sondern nur bis zum Cielástel. Alles, was wir brauchen, ist eine Verbindung zu unserem Ziel.” Er zog etwas unter seinem Gürtel hervor und hielt es mir vor die Nase. Es war die zweite Schwingenfeder des Einhorns.

***

Tíjnje kam sich sehr wichtig vor, als sie, den Teller mit den restlichen Pfannkuchen sorgsam vor sich her tragend, den Korridor mit den Gästequartieren betrat. Wer ihr begegnete, warf dem kleinen Mädchen freundliche Blicke zu. Die yarlaranda war in der ganzen Burg beliebt.

Tíjnje hatte keine Zeit, sich ablenken zu lassen. Der Kuchenteller, so befand sie, war eine großartige Tarnung. Jeder musste annehmen, dass sie unterwegs war, um der teirandanja eine Leckerei zu bringen. Selbst der teirand schien das anzunehmen, denn er hatte dem Kind mit einem herzlichen Morgengruß auf der Treppe Platz gemacht.

Tíjnje klopfte an die Tür des Gastgemachs, aber er bat sie niemand hinein. Die Kleine stellte den Teller auf den Boden, zog an der Klinke und spähte hinein. Aber weder yarl Emberbey noch sein Sohn waren zugegen.

Die yarlaranda dachte nach. Konnte es sein, dass sie die Türen verwechselt hatte? Und, wo sollte sie nach dem Jungen suchen, wenn er nicht hier war? Sie nahm die Pfannkuchen wieder an sich und wollte schon zurück in die Halle zu den anderen, um Manjév um Rat zu fragen, da öffnete sich eine andere Tür, nur einen Spalt weit. Osse Emberbey spähte vorsichtig auf den Gang hinaus.

„Da bist du ja!”, rief Tíjnje erfreut aus. „Ich suche dich! Manjév sagt ..”

Der Junge zuckte zusammen und legte rasch die Finger auf die Lippen. Tíjnje rannte strahlend auf ihn zu.

„Du sollst in die Halle kommen”, flüsterte sie mit wichtiger Miene. „Manjév will mit euch spielen. Willst du einen Pfannkuchen? Aber es müssen welche für den anderen Jungen bleiben, weil …”

Spielen?

„Ja. Das ist eine ganz wichtige Anordnung.”

„Aber wenn mein Vater mich sieht …”

„Der ist draußen und läuft im Regen auf der Mauer herum. Versteckst du dich vor deinem Papa?”

„Wenn er mich erwischt, kann ich nicht mehr zurück zu Merrit in den Turm. Dann lässt er mich wahrscheinlich in Eisen schließen.”

„Ist der Junge im Turm dein Freund?”, fragte sie interessiert.

„Ich gäbe mein Leben, um ihn dort herauszuholen.”

„Ich finde ja, wir sollten den teirand oder die teiranda fragen, womit man diese Tür aufmachen kann.”

„Ich bin sicher, dass die teiranda eine Lösung finden wird.”

„Weiß die teiranda denn, dass der Junge im Turm sitzt?”

„Die teirandanja darf nicht erfahren, dass ihre Mutter davon weiß, hörst du? Wenn dich jemand direkt danach fragt, dann darfst du nicht lügen, aber wenn du mich verrätst, dann falle ich in Ungnade bei ihr.”

„Und dann kommst du nicht mehr hierher?”

Osse hob die Achseln. „Vielleicht verbannt sie mich in den Westen, ins Eis.”

Tíjnje schüttelte energisch den Kopf und fasste nach seiner Hand. „Das darf sie nicht. Da ist es immer kalt! Aber jetzt komm. Manjév ist sicher schon ungeduldig.”

Auf dem Weg in die Halle begegnete ihnen Asgaý von Spagor erneut. Tíjnje wunderte sich, warum der freundliche teirand sich immer noch im Stiegenhaus aufhielt; da er aber keine Anstalten machte, sie aufzuhalten, gelangten sie unbehelligt ins Freie und rannten rasch über den Hof, mitten durch den zwischenzeitlich fest niederprasselnden Regen.

Die teirandanja saß mit Láas und Jándris an der Fensterseite in einer Nische, wo es trotz des trüben Lichtes hell genug war, um das Brettspiel zu spielen. Am anderen Ende der Halle saßen yarl Grootplen, yarl Altabete und yarl Emberbey beisammen auf einer Bank. Sie hatten ihre regennassen Mäntel abgelegt, eine Kanne mit einem dampfenden Kräuteraufguss besorgt und tranken aus Tonbechern. Als Emberbey seinen Sohn erblickte, wollte er sich erheben, aber Grootplen lenkte ihn ab. Osse nickte seinem Vater errötend zu, schaute dann schuldbewusst auf die Steinfliesen hinab und folgte dem kleinen Mädchen.

„Guten Morgen”, grüßte er die anderen Kinder.

Láas erhob sich. „Willst du übernehmen, Eulengesicht? ich hab mich festgesetzt.”

„Ja”, schloss sich Jándris an, der im Vorteil zu sein schien. „Schau, was du daraus machst. Láas ist so verschlafen, der hat nicht nur sich selbst alles zugebaut. Wir kommen auch nur noch in der Runde herum.”

Manjév rückte zur Seite, damit Tíjnje sitzen und mitschauen konnte. Selbst mitspielen konnte Tíjnje zu ihrem Verdruss noch nicht. Noch waren die Regeln zu kompliziert. „Setz dich, Osse Emberbey. Lass uns sehen, wie du es besser machst. Jándris ist am Zug.”

Der Junge betrachtete das Spielbrett.

„Wir werden beobachtet”, sagte er beiläufig.

„Das wissen wir. Die Herren sind kurz nach uns alle nacheinander hier aufgetaucht. Gerade ist mein Vater in die Halle gekommen. Dreht euch nicht um. Ist dir etwas eingefallen, Osse?”

„Ja. Ich habe nachgedacht. Die Tür ist von Meister Yalomiro zugezaubert worden, nicht wahr, Majestät?”

„Ja. Das hat meine Mama zumindest gesagt. Ich weiß aber immer noch nicht genau, warum.”

„Wie kommt es eigentlich, dass Meister Yalomiro hier gewesen ist?”

„Meine Mama hatte ich durch Herrn Jóndere herholen lassen. Sie wollte …”

„Nein, das meine ich nicht. Wieso war er da, als er die Tür zum ersten Mal verschlossen hat?”

„Meine Mutter sagt, er habe den schlimmen Mann besiegt, der ursprünglich im Turm gewohnt hat.”

„Dem der große Edelstein gehört hat, und das Kräuterzeug?”, fragte Láas.

„Vermutlich, ja.”

„Kein Wunder, dass sie uns die ganze Zeit was vom Fußboden vorgehalten haben”, maulte Jándris und tat seinen Zug. „Eine solche Geschichte hätte ich gerne gehört.”

„Wenn er ihn besiegt hat”, sagte Osse nachdenklich und verschob seine Steine dorthin, wo Jándris nun eine Lücke hinterlassen hatte, „haben sie gekämpft. Ob Magier Waffen benutzen? Ob sie sich voreinander wappnen können?”

„Ich denke, sie werden irgendwie mit Feuerbällen um sich werfen, oder so”, sagte Láas.

„Vielleicht benutzen sie dagegen irgendwas wie eine Rüstung. Wie ihr das auch macht.”

Manjév rückte Steine hin und her. Tíjnje schaute zu den Männern hinüber.

„Wenn ich Angst haben müsste, dass mich ein Schattensänger mit Zauberei angreift”, überlegte Osse, „gäbe es wohl ein Mittel, um mich zu schützen?”

„Meine Mama”, verriet Tíjnje, „reibt sich im Sommer ein Öl auf die Haut. Das duftet ganz toll, nach Sauerblumen und Honig.”

Die Jungen schauten sie verwirrt an. „Und?”, fragte Láas schließlich ungeduldig.

„Sie sagt, dann kommen keine Stechkäfer und pieken sie. Weil die Käfer den Duft nicht mögen.”

„Wenn wir irgendetwas hätten, was Meister Yalomiro nicht mag”, überlegte Osse, „würde uns das vielleicht helfen. Ob der Mann in seinem Zimmer wohl etwas hatte, womit er sich hätte verteidigen können?”

„Wenn er was gehabt hätte, hätte man ihn nicht besiegt, Eulengesicht”, murrte Láas.

„Ich habe nicht gesagt, dass ich die Lösung kenne.”

„Es ist jedenfalls eine bessere Idee, als nochmal einfach auf die Tür einzuprügeln”, wandte Manjév ein und tat ihrerseits einen Zug. „Was schlägst du vor, Osse?”

„Befragt ihr Eure Mutter danach”, sagte Osse und beendete das Spiel mit einem trickreichen Zug. Jándris schaute verblüfft, wie der Junge all seine Steine einstrich. „Gibt es Schriften hier? Gelehrte Bücher?”

„Sicher. Meine Eltern haben eine Bibliothek oben bei den Gemächern. und im Schulzimmer sind auch welche.”

Osse schaute die beiden yarlandoray an. „Das forscht ihr nach. Vielleicht weiß euer mestar mehr, wenn ihr sehr geschickt fragt. Du scheinst doch sehr gut reden zu können, Altabete. Wir müssen wissen, welche Schwächen Schattensänger haben.”

„Und ich?”, rief Tíjnje aufgeregt aus. „Was mache ich?”

„Du lenkst die opayra ab”, bestimmte Manjév und erhob sich. „Halte sie mir vom Hals. Lass dir ein Märchen erzählen. Wir machen es so, wie Osse es gesagt hat. Geht schon!”

Láas und Jándris verneigten sich gehorsam um entfernten sich. Um zum Schulzimmer im Nebenhaus zu kommen, mussten sie hinaus in den Regen. Kaum waren sie draußen, folgten ihre Väter ihnen mit gebührendem Abstand nach. Tíjnje nahm sich ihren Pfannkuchenteller und tappte schnell und mit wichtiger Miene durch die Halle, hinüber zur Treppe. Die opayra würde sich um diese Zeit im Vorraum des Audienzgemachs aufhalten. Asgaý von Spagor nickte Alsgör Emberbey zu und schlenderte ihr unauffällig nach.

„Wo ist meine Mutter?”, fragte Manjév.

„Im Turm.”

„So.” Die teirandanja runzelte die Stirn. „Bist du ein Verräter, Osse Emberbey?”

„Nein. Eure Mutter hat sich selbst gedacht, dass jemand im Turm gefangen ist. Sie weiß weder von dem Brief noch von dem, was Ihr zu Merrit Althopian gesprochen hattet.”

Das Mädchen seufzte. Dann ließ sie den Jungen wortlos stehen.

Osse Emberbey schaute ihr nach. Er wagte es nicht, sich zu seinem Vater umzudrehen. Erst als der alte Ritter keinerlei Anstalten machte, die teirandanja zu verfolgen, gab der Junge sich einen Ruck und ging, ohne nach links und rechts zu sehen, auf die Treppe an der Stirnseite der Halle zu.