
Das Mädchen ließ sich ohne Widerstand von Siledaú durch den Cielástel zerren. Die Wange der Kleinen war flammend rot, wo die Hand der Alten sie mit ganz überraschender Wucht getroffen hatte. Das Kind war in Schockstarre. Offenbar hatte es niemals zuvor in seinem noch nicht allzu lange währenden Leben Gewalt erfahren. Warum auch? Schattensänger neigten weder zu Temperamentsausbrüchen noch zu Handgreiflichkeiten.
Siledaú lächelte befriedigt, zerrte das Mädchen hinunter auf den Hof und von dort hinüber in den Stall. Wenn sie es schnell genug anstellte, würde ihr dort vorerst kein Regenbogenritter in den Weg kommen. Die Sieben, Cýelú und Elosál waren in Pataghius Halle versammelt. Siledaú war überzeugt davon, dass der Goldene der fajía nichts von seinem ursprünglichen Auftrag preisgeben würde, solange er damit rechnen musste, dass ein falsches Wort das große Unheil auslösen konnte.
Im hinteren Winkel des Stalls stand in einer Nische ein wenig nützliches Gerümpel, das zu sperrig war, um es in der Sattelkammer zu verstauen, aber zu wichtig, um es in einen Keller zu verbannen. Darunter, das wusste die Alte, war ein großer goldener Vogelkäfig, der eigentlich dazu diente, Prachtvögel zu transportieren. Gelegentlich verirrten sich die aggressiven Biester in die Gärten der fajíaé und erschreckten dort die Einhörner, wenn sie unvermittelt trompetend aus dem Gebüsch aufflatterten. Die Regenbogenritter fingen die Prachtvögel dann ein und brachten sie fort, zurück in die Hügel. So ein Käfig war gerade groß genug, damit auch ein zartes Kind darin sicher eine Weile verwahrt war.
„Geh da rein”, forderte die Alte schroff und öffnete die Gittertür.
„Ich will nicht”, murmelte Dýamirée.
„Stell dich nicht an. Dir macht Gold nichts aus, das habe ich gesehen!”
„Der Großmeister hat gesagt, ich bin euer Gast“, beharrte das Kind. „Die fajía ist gut! Die wollen bestimmt nicht, dass du mich einsperrst! Das ist böse!”
„Das kann ich wohl selbst entscheiden.”
„Man soll nichts einsperren”, beharrte Dýamirée.
„Wirst du wohl gehorchen?”
„Bist du eine böse Hexe?”
Siledaú blinzelte verwirrt. „Eine was?”
„Die Märchenhexen wollen auch immer Kinder einsperren. Und sie gewinnen am Ende niemals”, redete die Kleine konfus weiter. „Die Kinder werden immer gerettet. Jemand wird kommen und dich besiegen!”
„Geh jetzt sofort da hinein”, zischte Siledaú und hob drohend die Hand.
Das Mädchen warf ihr einen finsteren Blick zu. Aber es war verständig genug, um seine Lage richtig einzuschätzen. Dýamirée kletterte wortlos in den Prachtvogelkäfig und setzte sich mit angezogenen Beinen hin. Siledaú schloss die Tür, verriegelte sie und atmete auf. Das war für den Moment geschafft.
„Mein Papa und meine Mama holen mich hier heraus”, beharrte das Kind trotzig.
„Das will ich sehen”, spottete Siledaú. „Hat dir niemand beigebracht, dass Schattensängermagie an Gold abprallt? Nicht einmal mit den Händen berühren könnte dein Vater dieses Schloss. Selbst wenn er in diesem Moment hier wäre, er bekäme dich niemals dort hinaus.”
„Und jetzt?”
„Keine Sorge. Du bleibst nicht lange da drin. Nur solange, bis mir eingefallen ist, wo ich dich noch besser unterbringen kann. Ich glaube, ich weiß sogar schon, wo das möglich wäre.” Aber dazu, dachte die Alte, benötigte sie Hilfe. Doch das konnte sie in den nächsten Stunden regeln.
„Ich habe Hunger”, quengelte das Kind. „Und was ist, wenn ich mal muss?”
Siledaú hob erstaunt die Brauen. Das wurde ja immer besser. Das Kind hatte körperliche Bedürfnisse? War das ein Hinweis darauf, dass die Schwarzgewandeten degenerierten?
Sie kam nicht dazu, sich Gedanken darüber zu machen, denn eine weitere Person näherte sich. Der unkundige Stalldiener kam heran, angelockt von den Stimmen. Er hatte Ersatzfedern in der Hand, die zu Perlenglanz’ Fellfarbe passten und schaute nun verblüfft auf das Mädchen in dem Käfig, versteckt inmitten des Gerümpels.
„Es ist nicht nötig, den arcaval’ay zu melden, dass sie hier ist”, sagte Siledaú. „Wenn jemand fragt oder sich wundert, soll er sich an mich wenden. Ich erkläre es ihnen schon selber.”
„Das ist’n Kind”, sagte der Unkundige einfältig. „Was macht’n Kind im Stall?”
„Das ist kein Kind”, behauptete Siledaú. „Das ist eine widerliche Ausgeburt der Verderbnis, deren Existenz die Mächte lästert! Halt du dich von ihr fern!”
Der Mann kam zögernd näher. Dýamirée musterte ihn mit ihren großen hellgrünen Augen.
„Ist’n süßes kleines Mädchen”, widersprach der Stalldiener. „Seh’ ich doch von hier aus!”
„Das ist Schattensängerbrut“, zischte Siledaú. „Du weißt, was das bedeutet, Dummkopf!”
„Bei den Mächten”, sagte der Stallmeister und wich erschrocken einen Schritt zurück.
„Was bedeutet das denn?”, fragte Dýamirée.
„Halt den Mund, vorlautes Balg”, fuhr Siledaú sie an.
„Warum hat der Mann plötzlich Angst?”, beharrte das Kind. „Ich will das wissen!”
Die Greisin warf einen Blick zwischen beiden hin und her und verschränkte dann stirnrunzelnd die Arme vor der Brust. „Hat dein Vater dir nie etwas über die Chaoskriege und die Schlacht um Aurópéa erzählt?”
„Nein”, antwortete das Kind arglos.
„Tränen, Tod und Vernichtung haben Schattensänger über Aurópéa gebracht. Frag nur deinen neuen Freund, den aufsässigen Advon, falls du ihn noch einmal zu Gesicht bekommst. Gleich vier seiner Tanten hat ein einziger Schattensänger mit einem Streich aus dem Weltenspiel getilgt.”
Dýamirée runzelte die Stirn. „Das ist nicht wahr”, behauptete sie. „Schattensänger tun niemandem etwas zuleide.”
„Ach?”, lächelte Siledaú dünn und wandte sich dem Stallmeister zu, der unschlüssig immer noch da stand, zugleich verstört und fasziniert, und offenbar nicht daran dachte, sich zu entfernen. „Und du? Was weißt du darüber?”
Der Mann schaute betreten auf die Einhornfedern hinab.
„Hatte einen schönen Weinberg, mein Urgroßvater, etwas landeinwärts, nördlich von Aurópéa”, erzählte er dann. „Alles kaputt. Die halbe Familie tot. Verfluchte Schwarzmäntel.”
„Da hörst du es”, sagte Siledaú.
„Mein Vater”, beharrte das Kind leise, „hat aber niemals jemanden getötet.”
„Noch nicht”, sagte Siledaú kühl. „Und du da, um auf deine Frage zurückzukommen: Das Kind ist vorübergehend hier und für dich und die Tiere völlig ungefährlich, solange es in diesem Goldkäfig sitzt. Kümmere dich einfach nicht um sie. Höre nicht auf sie, falls sie ruft und schreit und jammert. Sie wird mit Sicherheit versuchen, dich zu überlisten, sie herauszulassen.”
„Wenn du das sagst”, stimmt der Stallmeister zaghaft zu.
„Und lass dich nicht von ihrem niedlichen Äußeren und unschuldigen Blick täuschen. Sie können töten mit ihrem Blick. Das Gold sollte dich vor dem Ärgsten schützen, aber möglicherweise kann sie dich verletzen. Schau sie am besten gar nicht an und hör nicht hin.”
„Und wie lange bleibt sie … hier?”, fragte der Stallmeister und betrachtete das Kind nun mit einem ganz anderem, argwöhnischen Blick. Etwa so, als habe er eine giftige Spinne entdeckt, die zu weit weg war, um sie zu zerquetschen. Etwas, das er wirklich nicht gern in der Nähe seiner Tiere hatte.
„Ich mache mich gleich auf den Weg, um eine Lösung zu finden. Ich denke, binnen der nächsten vier Gongschläge werde entweder ich selbst oder jemand in meinem Namen hier sein, um sich um die Sache zu kümmern. Du hast doch bestimmt in der Zeit genug Wichtiges zu tun?”
„Sicher”, sagte er verunsichert. „Muss einen Flügel reparieren …”
„Dann mach hier drin nicht mehr als nötig und lass dich nicht zu irgendwelchen Dummheiten verführen. Sicher führt das Kind bereits etwas im Schilde. Ihr, die arcaval’ay und du, ihr könnt euch glücklich schätzen, dass ich da bin und mit der Gefahr umzugehen weiß.”
„Die schlimme alte Frau lügt”, sagte Dýamirée. „Ich finde, das solltest du wissen.”
„Siehst du? Es fängt schon an. Ach, ihr Mächte, welcher Übermut hat Cýelú Irísolor nur geritten, dieses die Mächte lästernde Wesen herzubringen?”
Der Stallmeister schaute unbehaglich auf.
„Du musst keine Angst vor mir haben”, beteuerte Dýamirée zutraulich in seine Richtung. „Ich bin ganz bestimmt nicht gefährlich.”
„Sie sind listig. Egal, was sie erzählt: Verschließ deine Ohren. Ich …” Siledaú zögerte. Warum eigentlich nicht?
„Wenn ich zurückkomme und du ihrem Geplapper tapfer widerstanden hast, dann habe ich dir eine gute Belohnung zu bieten.”
„Belohnung?”
„Und ganz ohne Aufwand. Alles, was du tun musst, ist das kleine Biest bis spätestens heute Nachmittag zu ignorieren. Kannst du das?”
„Was für eine Belohnung?”
„Wie wäre es mit einer guten Handvoll Silbermünzen?”
Der Stallmeister zögerte. Dann wandte er sich ab und verschwand in den Verschlag, wo Perlenglanz stand, die Schnauze tief in einem Eimer Hafer, und entspannt zuließ, dass der Mensch sich an seinem beschädigten Flügel zu schaffen machte.
Siledaú wartete noch kurz, versicherte sich, dass er tatsächlich beschäftigt war.
„Ich bin tatsächlich fast sicher, dass dein Vater hier auftaucht”, sagte sie. „Fragt sich nur, was ihm einfallen wird, um Cýelú dazu zu bringen, dich freizugeben.”
Dýamirée seufzte. Dann drehte sie sich um und kehrte Siledaú den Rücken zu. Die Alte blieb noch einen Augenblick stehen und beobachtete sie. Der kleine schwarzgewandete Körper bebte. Weinte das Kind?
Nun, es blieb nicht die Zeit, es auszukosten. Siledaú hatte keine Zeit zu verlieren. Advon war gut verschlossen. Cýelú würde schweigen, so sehr Elosál und die anderen auf ihn eindrangen. Alle zusammen waren beschäftigt.
„Jemand wird dich holen”, sagte sie. „Und wenn es dein Vater ist, werde ich ihn persönlich willkommen heißen. Lass dir die Zeit nicht zu lang werden, Kleines.”
Sie gab Dýamirée noch einen Augenblick, um darauf zu reagieren, aber die Freude tat ihr das Kind nicht. Egal. Die Zeit drängte, je näher Pataghíus Glanz dem Montazíel kam. Sie musste sich sputen.
Kaum, dass die Alte den Stall verlassen hatte, wandte das Mädchen sich wieder um und versuchte, auf die Stallgasse zu spähen. Aber das brachte nicht viel, da die Nische mit dem Prachtvogelkäfig etwas zurücksprang. Doch sie konnte einen Blick schräg auf die gegenüberliegende Seite erhaschen, wo sich hinter goldenen Gittern ein großes Tier bewegte. Es ähnelte Perlenglanz, aber sein Fell glänzte nicht matt wie Perlmutt, sondern war viel bunter, trug in einem wirren Muster alle schillernden Farben einer Seifenblase. Mit aufmerksam aufgestellten Ohren und rätselhaften Reptilienaugen blickte es neugierig zu Dýamirée hin. Es war wunderschön und von unschuldiger Gefährlichkeit.
Das Mädchen lächelte. Und das Einhorn schnaubte freundlich.
***
Merrit Althopian kauerte sich in der Dunkelheit an der Tür zusammen und umklammerte seinen rostigen Streitflegel, wie er es als ganz kleines Wiegenkind mit seinem Kuscheltier getan hatte. Bei den Mächten, was gäbe er nur darum, nun wieder ein kleines Kind zu sein, wie damals, in Zeiten, zu denen er sich noch vor Lächerlichkeiten gefürchtet und in die Arme der Mutter geflüchtet war. Die yarlara von Ivaál hatte damals niemals auch nur in Erwägung gezogen, ihren Sohn in die Obhut einer Amme oder später einer opayra zu geben, wie es in ihrer Heimat üblich gewesen wäre. Sie hatte den Sohn kaum von sich lassen wollen und ihn mit ihrer Liebe umhüllt wie mit einer wärmenden, weichen Decke, sobald er vor irgendetwas schauderte, vor einem lauten Geräusch oder wenn ein Gewitter Blitze und Donner brachte. Sobald Merrit Althopian aufrecht laufen konnte, hatte er begonnen, es ihr zu vergelten. Er hatte die haarigen Spinnen, vor denen sie sich fürchtete, eingefangen und ins Freie gesetzt, noch bevor sie sie bemerken konnte. Und wenn der große Hund im Raum war, der manchmal ungestüm an Menschen hoch sprang, dann hatte der kleine Merrit ihn am Halsband gepackt und mit Leibeskräften festgehalten, bis die Mutter an ihm vorbei war. Als der Junge alt genug war, um sein erstes hölzernes Schwert zu führen und allein auf einem Pferd sitzen konnte, hatte er begonnen, seine Zukunft als ritterlicher Held zu planen. Mindestens so gut, wenn nicht noch besser als sein Vater wollte er einmal sein.
Die Mutter hatte das mit zärtlicher Belustigung beobachtet und ihn eines Tages auf den Schoß genommen, als er verschwitzt von seinen Übungen und voller Schmutz und Tierhaar war, denn sein Pferd war gerade im Fellwechsel und mit ihm über Stock und Stein und durch Schlammpfützen geprescht. Ihrem duftigen bunten Gewand hatte das nicht gut getan, aber das war ihr unwichtig gewesen.
„Merrit”, hatte sie gesagt und ihre makellose Stirn gegen den Dreck auf der seinen gepresst, „ich bin sehr stolz auf dich.”
„Ich will der beste deiner Ritter werden”, hatte er beteuert. „Genau wie Papa.”
„Merrit”, hatte sie belustigt geantwortet. „Das ist ein edles Ansinnen. Aber du musst das nicht für mich werden. Willst du deinem Vater etwa seinen Platz streitig machen?”
„Wie meinst du das, Mama?”
„Dich wird einmal”, hatte sie erklärt und ihn an sich gedrückt, „eine andere Dame an ihrer Seite brauchen.”
Das war der Tag gewesen, an dem er zum ersten Mal bewusst und auf sich selbst bezogen von Manjév von Wijdlant gehört hatte. Die teirandanja, die nur wenig jünger war als er selbst, die Tochter des Herrn seines Vaters. Das Weltenspiel sah es so vor, dass er einmal als yarl für ihren Ruhm, ihre Ehre und vor allem für ihre Sicherheit einstehen würde. Und ausgerechnet diese teirandanja hatte ihn nun, ohne dass er sich einer ausreichend großen Schuld bewusst war, in eine Lage gebracht, aus der er sich nicht einmal mit Heldenmut befreien konnte.
Merrit strich voller Grauen über den Fußboden. Zuerst hatte er gedacht, er habe wohl bei seinem Herumirren in der finsteren Stube ein Schreibzeug umgeworfen und dabei, ohne es zu bemerken, ein Löschsandfässchen geleert. Aber zwischenzeitlich spürte er so viel Sand am Boden, dass er seine Fingerspitzen darin vergraben konnte, bis er die Holzdielen spürte. Der Sand war gekommen, nachdem das Licht erloschen und der Raum völlig verschlossen war. Wo, bei den Mächten, kam das Zeug her? Und konnte er dem Vater, der bis vor kurzem noch wie ein Besessener auf die Tür eingeschlagen hatte, erzählen, dass hier im Raum etwas absolut nicht normal war?
Und dann war das noch dieses unangenehme Gefühl, das sich erst eingestellt hatte, als er aus seinem Traum mit der schönen Roten Dame erwacht war. Merrit war noch zu jung, als dass er die richtigen Worte dafür gefunden hätte, was er tatsächlich empfand. Aber im Groben war es ihm, als säße irgendwo im Finsteren eine riesige, unsichtbare Spinne, die langsam begann, ihn mit hauchdünnen Klebefäden einzuspinnen.
Und nun war noch ein Geräusch hinzugekommen, von oben. Ein regelmäßiges, monotones Prasseln. Merrit, der tapfere Merrit Althopian hatte sich die Ohren zugehalten und lautlos gewimmert, bis sein Verstand die Kontrolle zurückerlangte und das Geräusch als Regen auf den Dachschindeln über den Fensteröffnungen erkannte.
Der Vater war fortgegangen. Er solle sich keine Sorgen machen, hatte Waýreth Althopian vor der Tür gerufen. Er hatte es versucht, aber nicht verbergen können, wie verstört er gewesen war. Er wolle nach etwas suchen, was effektiver gegen die Tür war als die Axt, die er zuvor gebracht hatte, in der Annahme, es handele sich um die ganz einfache, dünne Zimmertür, die sie augenscheinlich war. Ein Stück altes Holz, das ein kräftiger Mann mit genügend Wut hätte einfach eintreten können.
Ein Rammbock wäre nicht schlecht, dachte Merrit. Aber wie sollte man auf dem kleinen Treppenabsatz genug Anlauf und Kraft nehmen?
Der Sand unter seinen Fingern war warm und trocken, aber es ekelte den Jungen, ihn zu berühren. Ohnehin hatte er bereits begonnen, ihm in Schuhe und Hemd zu kriechen.
Er lehnte sich gegen die Tür und bemühte sich, nicht zu weinen. Das war albern, obwohl niemand seine Tränen gesehen hätte. Andererseits war auch niemand da, um ihn zu trösten und die Tränen zärtlich wegzustreichen, wie die Mutter, wie damals, wenn er sich wehgetan hatte und den Schmerz noch nicht bezwingen konnte.
Er schauderte und sprang auf, als es an der Tür klopfte, recht zaghaft und ohne metallenen Beiklang.
„Papa?”
„Ich bin es, Merrit Althopian. Kíaná von Wijdlant.”
Bei den Mächten! Die teiranda! Was machte die denn nun hier?
„Majestät”, rief er verstört aus, „bitte, bitte, Hohe Dame, Herrin, helft mir! Ich bin hier aus eigener Dummheit eingesperrt worden!”
„Darum, ob es deine Dummheit war oder nicht, Junge, geht es nicht. Es sei denn, du willst mir sagen, was dich wirklich hierher geführt hat?”
Er zögerte. „Nein”, sagte er.
„Ach, Kind. Ihr seid doch schon längst durchschaut. Ist es so, dass meine Tochter darüber Bescheid weiß?”
„Ich darf dazu nichts sagen, Majestät.” Und dann, ganz zaghaft: „Diese Tür wird sich nie wieder öffnen, nicht wahr? Werde ich hier drinnen sterben?”
„Aber nicht doch. Wir werden einen Weg finden, dich dort hinaus zu holen.”
Sie verstummte. Er presste das Ohr an die Tür. Metall. Es kam näher. Dann, ruhig, keine Überraschung in der Stimme des Vaters: „Ihr wisst, dass ich ihn gefunden habe, Herrin?”
„Ich weiß auch, wer Euch davon berichtete. Ich verstehe nur nicht, warum die Kinder es uns nicht beichten.”
„Weil sie denken, dass wir nichts ausrichten können”, sagte Waýreth Althopian und lud mehrere schwere Gegenstände ab, die er auf den Turm geschafft hatte.
„Und so bringt ihr die halbe Waffenkammer mit, und das Handwerkszeug aus der Schreinerei? Wie habt Ihr das erklärt?”
„Ich gab Eurem Handwerker das Doppelte des Wertes und schickte ihn los, sich neues und besseres Werkzeug zu besorgen. Bis er von der nächsten Schmiede zurück ist, um mich hier im Haus für wunderlich zu erklären, habe ich das verfluchte Ding vielleicht offen.”
„Nein”, sagte die teiranda. „Es ist mit Magie verschlossen. Das bekommt Ihr mit einem Brecheisen nicht aufgestemmt.”
„Es war Meister Yalomiro, der diese Tür verzaubert hat, nicht wahr?”
„Ja. Aber es war meine und Asgaýs Schuld, dass Kinder die Gelegenheit hatten, arglos hineinzugehen.”
„Ich denke nicht, dass mein Sohn zufällig in das entlegenste Zimmer gegangen ist, das er finden konnte. Ob nicht vielmehr etwas ihn gelockt hat. Etwas Unwiderstehliches.”
„Das, Herr Waýreth, ist nicht das vordringliche Problem. Ich sehe Euren Sohn in Gefahr, und meine Tochter in Nöten. Lasst uns diese Tür gemeinsam öffnen.”
Merrit horchte. Sie hatte es ausgesprochen. War das eine gute Gelegenheit, den Sand zu erwähnen? Nein, entschied er sich. Es würde sie verwirren. Der Sand war sein Problem. Die Erwachsenen mussten die Tür überwinden.
„Meister Yalomiro zu rufen, ist in der Kürze der Zeit keine Wahl”, erklärte die teiranda. „Es scheint etwas in seiner Heimat vorgefallen zu sein, das ihn regelrecht überstürzt fliehen ließ. Selbst wenn jemand in den Boscargén fliegen könnte, es wäre gar nicht gesagt, das wir ihn dort antreffen.”
„Die Tür widersteht Äxten und Hacken. Mit einer Säge habe ich es noch nicht versucht, aber ich habe eine mitgebracht. Aber wo ansetzen?”
„Was ist mit Feuer? Lässt sich die Tür vielleicht verbrennen?”
„Und der Turm womöglich gleich mit? Nein, Herrin. Ich werde meinen Sohn nicht aus Ratlosigkeit in Gefahr bringen.”
Sie schwieg einen Moment. „Es tut mir so leid, Herr Waýreth!”
„Ich werde mich nicht damit abfinden, Herrin”, sagte er mit gedämpfter Stimme, aber Merrit verstand ihn dennoch, so deutlich als trüge das Regengeprassel und das Rieseln des Sandes seine Stimme zu ihm, „dass dieses verfluchte Zimmer meinen Sohn verschlungen hat und ich mitansehen muss, wie es ihn verdaut. Ich lasse mir nicht mein Liebstes nehmen, nur weil gedankenlose Magier ihre wunderlichen Kräfte nicht bei sich behalten können!”
„Es war nicht Meister Yalomiros Schuld!”
„Nein, seine Unachtsamkeit hat schon ausgereicht!”
„Er hat uns vertraut, dass wir sorgsam genug sind”, sagte sie kühl. „Ihr wisst nicht, welche Umstände hierher führten, ebenso wenig, wie ich es zurzeit weiß. Versucht es mit der Axt oder der Säge, oder beschafft meinetwegen von irgendwoher ein Kriegsgerät und schießt ein Loch in die Außenmauer. Meine Erlaubnis habt ihr. Aber bevor Ihr etwas Törichtes tut, lasst uns beobachten, was die Kinder tun. Vielleicht geben die Mächte ihnen etwas Gangbares ein. Immerhin scheinen sie weit mehr über die Sache zu wissen als wir.”
„Majestät”, entgegnete er mühsam beherrscht, „ich habe einmal hinter dieser Tür gesessen und war diesem rotgewandeten Monster ausgeliefert. Ich habe in diesem Zimmer meine Ehre weggeworfen.”
„Wenn ihr wüsstet, was ich in diesem Zimmer weggeworfen habe, Herr Waýreth, Ihr würdet mir nicht mehr in die Augen schauen können. Aber der Rotgewandete ist fort. Er wurde besiegt. Nie wieder wird er oder einer von seinesgleichen uns behelligen.”
Sein Vater erwiderte flüsternd etwas, aber Merrit verstand es nicht. Der Sand und der Regen prasselten zu laut.
Der Junge drehte sich um. Dort hinten, in der Finsternis, stand der Tisch, darüber das Bildnis der Roten Dame.
Wenn es etwas in diesem schrecklichen Zimmer gab, das gut mit ihm war, dann waren es die Rote Dame und der Tisch.
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