Der Hahn in der Burg hatte einen erbitterten Streit mit einem angefangen, der auf einem der kleinen Gehöfte jenseits des östlichen Hains am Rande der riesigen Planwiese leben mochte. Jeden Morgen wetteiferten die beiden Vögel, wer wohl die lautere Stimme hatte. Die teiranda wusste, dass nicht wenige Burgbewohner sich den Hahn in einer Suppe wünschten und an manchen Tagen schloss sie sich dem an. Andererseits sorgte das brave Tier dafür, dass niemand über die Maßen verschlief. Gerade heute hätte sie das nicht brauchen können.

Ihre Zofen warteten bereits im Gemach neben der Schlafkammer, um sie einzukleiden und ihr mit ihrer Frisur zu helfen. Aber die teiranda schickte die Mädchen zunächst wieder fort. Sie hatte keine Zeit, zu warten bis ihr langes blondgraues Haar in ordentlichen Zöpfen lag. Kíaná von Wijdlant hatte sich gewaschen, ein ganz schlichtes Kleid übergezogen und kaschierte die morgendliche Zerzaustheit mit einem goldbestickten Schleier aus hauchfeinem Stoff in zarten Blütenfarben, rosa und weiß und himmelblau. Das schöne Tuch, kam Kíaná von Wijdlant in den Sinn, war einst ein Geschenk der hýardora von Waýreth Althopian gewesen, nach der Mode, die die Damen in Ivaál trugen. Die teiranda betrachtete sich im Spiegel und seufzte. Mit der yarlara von Ivaál hatte sie sich in ausschweifenden Gesprächen über Gewänder, Geschmeide und Schönheitsmittel verlieren können, eitle, alberne Plaudereien. All das erschien ihr nun so nebensächlich, so sinnlos, da die schöne Dame aus dem fernen yarlmálon tot und begraben war und ihre Schönheit sich im Fluss der Zeit, im fortschreitenden Weltenspiel zersetzen würde. Möge sie hinter den Träumen geborgen sein.

Asgaý von Spagor hatte sie begleiten wollen, aber für ihn hatte die teiranda einen anderen Auftrag. Er sollte ihr einen Augenblick Vorsprung geben und dann das Seine tun. Und so wanderte Kíaná von Wijdlant in informeller Gewandung und weitgehend unbehelligt von Gesinde, das sein Tagwerk aufnahm, hinüber zu dem Gebäudeflügel, wo yarlay, Gäste und die eigene Tochter ihre Stuben hatten.

Sie betrat den Korridor, wo der Wachmann müde und mit sichtlich schlechtem Gewissen immer noch seinen Dienst versah. Die teiranda entließ ihn von seinem Posten, nicht ohne ihn noch einmal streng zu mehr Aufmerksamkeit zu ermahnen. Dann klopfte sie an die Tür nebenan.

Es dauerte nicht lange, bis Alsgör Emberbey ihr öffnete, sich beim unerwarteten Anblick seiner Herrin ganz offensichtlich erschreckte und auf der Türschwelle artig niederkniete.

„Guten Morgen”, grüßte Kíaná von Wijdlant den alten Ritter freundlich. „Bitte, erhebt Euch. Es gibt keinen Grund zur Förmlichkeit. Ich wünsche, Euren Sohn zu sprechen.”

„Hat er sich erneut ungebührlich betragen, Herrin?”, fragte Emberbey misstrauisch.

„Nein. Wieso denkt Ihr da?”

„Ich habe keine Kenntnis davon, was er seit der frühen Nacht getrieben hat. Durch Zufall bemerkte ich, dass er sich auf eigene Wege gemacht hat.”

„Soso”, sagte die teiranda mit geringer Überraschung.

„Solches pflegt er daheim nicht zu tun”, fügte Emberbey hinzu. „Ich denke, jemand nimmt schlechten Einfluss auf ihn.”

„Habt Ihr nach ihm gesucht?”

„Natürlich. Althopian und ich waren die späte Nacht hindurch unterwegs. Wir vermuteten, er habe Kenntnis vom Verbleib des jungen Althopian.”

„Ich nehme an, Ihr habt beide nicht gefunden?”

„Nein. Natürlich nicht. Majestät, man könnte meinen, diese Burg verschlinge Kinder.”

„Macht Euch keine Gedanken, Herr Alsgör. Ich werde mich darum kümmern. Euer teirand erwartet Euch, sobald Ihr für den Tag bereitet seid, im großen Audienzgemach in unseren Räumen. Bitte zögert nicht allzu lange.”

Er tat einen Schritt aus dem Raum heraus und schloss die Tür hinter sich. In der Tat, er war bereits in förmlicher Gewandung, wenn auch einiges von seinem zivilen Eisenzeug nicht ganz akkurat am Leib saß. Dabei half ihm gewöhnlich wohl der Sohn.

„Ich bin bereits auf dem Weg”, sagte er, verneigte sich und ging stolz erhobenen Hauptes fort. Kíaná von Wijdlant blickte ihm einen Moment nach. War ihr nie zuvor aufgefallen, dass der alte Ritter gebeugt und mit kleineren Schritten ging? Sie nahm sich vor, Asgaý zu bitten, dem betagten yarl in Ehren das Metall zu ersparen. Im gleichen Moment fragte sie sich, ob gerade diese Rücksichtnahme den alten Mann kränken würde. Die Männer waren so kompliziert in diesen Dingen.

Sie beschloss, sich später darüber Gedanken zu machen und klopfte nun an die Tür des Gästegemachs von Waýreth Althopian. Als ihr dort nicht geantwortet wurde, trat sie vorsichtig ein und schaute sich um. Sie hatte befürchtet, den vielleicht übermüdeten Herrn im Schlaf oder beim Ankleiden zu überraschen. Aber Althopian war gar nicht anwesend. Stattdessen ertappte sie Osse Emberbey, den vermissten Sohn, wie dieser stocksteif am Tisch saß und sie hinter seinen Brillengläsern erschrocken anblickte, wie ein Kaninchen eine Schlange.

Kíaná von Wijdlant schloss die Tür hinter sich. „Bleib sitzen, Osse Emberbey. Genau mit dir wünsche ich zu reden.”

„Majestät”, stammelte der Junge, „ich … vergebt mir, Herrin. Ich …”

„Bei den Mächten, Junge, beruhige dich”, sagte sie sanft und zog sich den zweiten Stuhl heran. „Wir sind hier nicht in einer Audienz. Aber wieso bist du im Gemach von Herrn Waýreth?”

„Ich verstecke mich vor meinem Vater”, sagte Osse ebenso verlegen wie aufrichtig.

„Bei Herrn Waýreth? Weiß er, dass du in seinem Zimmer bist?”

„Ja. Er hat mir erlaubt, hier zu sein.”

„Und wo ist er selbst?”

Osse Emberbey blickte auf den Tisch nieder. Er saß vor einem auf Holz gemalten Bild. Kíaná von Wijdlant sah es kopfüber, aber sie erkannte, dass es ein Porträt von Althopians Dame war.

„Er … sucht nach seinem Sohn.”

Aha. Dann musste der Ritter das Gebäude gerade in dem Moment verlassen haben, als sie mit ihren Zofen geredet und das Fenster aus den Augen gelassen hatte. „Hast du ihm einen Hinweis gegeben, wo er suchen muss?”

Er schwieg und litt offensichtlich Gewissensqualen dabei. Die teiranda sah das mit geringem Erstaunen.

„Hat es etwas mit dem Turmzimmer zu tun?”

Nun schaute er ruckartig auf, die rauchfarbenen Augen hinter dem Glas entsetzt geweitet. Aber er stillschwieg tapfer.

„Meine Tochter ist nicht im selben Raum mit dir, Osse Emberbey, falls deine Treue dir die Lippen verschließen sollte. Du kannst mit mir reden.”

„Majestät”, flüsterte er, „bitte, redet zunächst Ihr mit der teirandanja.”

„Das habe ich schon. Sie fragte mich nach eben diesem Zimmer aus und benahm sich insgesamt sehr verdächtig. Und sie deutete an, dass du mit ihr über das Zimmer geredet hast.”

„Ich weiß nichts über das Zimmer”, sagte er kleinlaut, „außer dem, was Ihr und der teirand gestern Mittag erwähntet, als Meister Yalomiro Euch dorthin einlud.”

„Und nun? Ist Waýreth Althopian auf den Turm gestiegen?”

Er nickte. Über die Zunge wollte es ihm nicht.

„Osse Emberbey”, nahm sie ihn weiter ins Verhör, denn eine ungute Ahnung, so absurd sie sich annahm, wandelte sich immer mehr zu einer Gewissheit. „Wo ist Merrit Althopian?”

„Majestät … versteht doch. Ich darf es Euch nicht sagen.”

„Gut, also sage ich es dir. So musst du es nicht aussprechen. Es ist Merrit Althopian irgendwie gelungen, das verschlossene Turmzimmer zu betreten.”

Er zögerte. Dann nickte er, kaum dass man es sehen konnte.

„Und meine Tochter weiß davon?”

Nun schwieg er. Bei den Mächten, dachte Kíaná von Wijdlant. Er deckt Manjévs Heimlichkeit und ist selbst völlig ahnungslos!

„Ich könnte dafür sorgen, dass dein Vater dich nicht für deinen Ungehorsam bestraft”, sagte sie beiläufig. „Wenn du mir ehrlich antwortest, Junge, würde ich dich stattdessen gut belohnen.”

Nun schüttelte er den Kopf und schaute, wie flehend, auf das Bild der schönen bunt gewandeten Dame, der toten Mutter seines wohl besten Freundes, der in Not war.

Unbestechlich, dachte Kíaná von Wijdlant beeindruckt. Die teiranda begriff, dass der Junge sich in einem entsetzlichen Zwiespalt befand. Vermutlich hatte er Manjév schwören müssen, über was auch immer die Kinder trieben, den Mund zu halten. Zugleich war Merrit Althopian offenbar in größeren Schwierigkeiten als man sich ausdenken konnte. Warum mussten die Kinder das unter sich halten? Hatten sie denn gar kein Vertrauen?

Aber wie sollte der Junge durch eine geschlossene Tür gekommen sein? Wann sollte das geschehen sein? Sicher erst, nachdem sie und Asgaý am Abend zuvor …

Die teiranda erstarrte, als sie sich ins Gedächtnis rief, wie brüskiert sie und ihr hýardor nach dem überstürzten, fast panischen Aufbruch, nein: buchstäblich sich-in-Schatten-auflösen des Magiers auf der Treppe gestanden hatte.

Hatten sie die Tür geschlossen?

***

„Wo ist Althopian?”, fragte Asgaý von Spagor, als Alsgör Emberbey das Audienzzimmer betrat.

„Ich weiß es nicht”, antwortete der alte Ritter, verneigte sich vor seinem Herr und begrüßte die beiden anderen Ritter, die bereits anwesend waren und wesentlich ausgeruhter aussahen als er selbst. „Ich denke, die teiranda schickt ihn alsbald hierher.”

„Wir können nicht auf ihn warten”, sagte der teirand. „Hört Ihr mir derweil schon einmal zu. Die teiranda hat einen recht sonderbaren Einfall gehabt, der uns vielleicht dazu bringt, den jungen Merrit Althopian wiederzufinden und endlich zu dem überzugehen, weshalb wir Euch beieinander haben wollen.”

Grootplen, Altabete und Emberbey schwiegen auffordernd. Asgaý von Spagor lehnte sich in seinem Sessel zurück und blickte in die Runde.

„Ich möchte, dass Eure Söhne heute von allen Pflichten und Plänen befreit sind. Dasselbe gilt für die teirandanja und Tíjnje. Die Kinder sollen sich vollkommen frei und nach ihrem Willen bewegen können. Grootplen, Ihr regelt das mit dem Kampf- und Reitlehrer, Altabete, Ihr besänftigt den mestar und die opayra.”

„Herr”, warf Emberbey ein, „gibt es einen Grund, die Kinder solchermaßen zu belohnen? Der meine jedenfalls benimmt sich derzeit ganz und gar nicht geziemlich.”

„Macht Euch nichts daraus”, sagte Grootplen unbeeindruckt. „Es ist nicht unüblich, wenn die Kinder ihren eigenen Kopf entdecken und Unfug treiben. Mit Láas habe ich meine liebe Not gehabt, als …”

„Nein, Emberbey, keine Belohnung“, sagte Asgaý von Spagor, bevor sein strenger mynstir ausschweifende Ratschläge erteilen konnte. „Die teiranda wünscht, dass wir die Kinder laufen lassen und genau beobachten, was sie tun.”

„Erklärt uns das, Herr”, verlangte Altabete. „Denn ich verstehe den Sinn nicht.”

„Offenbar hatte meine Tochter in dieser Nacht einen wunderlichen Traum, der meine hýardora zutiefst beunruhigt hat. Nachdem wir Meister Yalomiro dazu nicht befragen können, hält sie es für eine kluge Idee, den Dingen freien Lauf zu lassen, um das Rätsel zu entschlüsseln.”

„Wir beobachten sozusagen die Folgen des Traumes eines Kindes?”, fragte Grootplen amüsiert.

„Wir deuten das, was die Mächte geschehen lassen, genau so. Zumindest, bis wir verstehen, was wir selbst in der Sache unternehmen können.”

Die drei Ritter verneigten sich. Von ihrem teirand waren sie solch seltsame Ideen gewohnt. Zugegeben: Ein Kind, das in einer belebten Burg voller Menschen so spurlos verschwinden, kurz auftauchen würde wie ein Phantom und dann wieder verloren gehen konnte, das war etwas, das nicht alle Tage geschah.

„Kíaná glaubt, dass die Kinder etwas wissen, es uns aber nicht anvertrauen wollen oder können”, schloß Asgaý von Spagor. „Aber vielleicht führen sie uns ungefragt zum Ziel.”

***

So unerwartet ihr Erscheinen gewesen und so sehr sie ihn zunächst erschreckt hatte – es dauerte keinen halben Gongschlag, und Advon war sich sicher, die Freundin gefunden zu haben, nach der sich immer gesehnt hatte. Zumindest seit dem Zeitpunkt, zu dem ihm bewusst geworden war, dass er allein als Kind im Cielástel lebte und kein Gleichaltriger in der Nähe war, es nie sein würde.

Nun, natürlich war die Behauptung, sein Vater habe sie aus ihrem fernen Zuhause entführt, der Mutter einfach weggenommen, völlig absurd. Advon war sich sicher, dass es ein Missverständnis war, dass Cýelú Irísolor sie in Wirklichkeit vor einer Täuschung, vor einem großen Blendwerk bewahrt hatte. Aber was machte das schon aus?

Vielleicht war tatsächlich ein hinterlistiger, ein verderbter Schattensänger ihr Vater. Ihre Herkunft stellte Advon nicht in Frage, so fremd, so dunkel und geheimnisvoll sah sie aus. Aber es war eine gute Art von Dunkelheit, wie die kühle Nacht über der heißen Wüste, die die Glut linderte, die Pataghíu im Sommer über das Land brachte.

Sie stand wieder am Fenster, redete mit ihm, aber er hörte nicht auf ihre Worte. Dazu war er zu sehr abgelenkt. Die Weite, der Sand von Soldesér hinter der Wüste, das schien sie zu faszinieren. Ihre hellgrünen Augen suchten die Weite ab und waren voller Ehrfurcht.

„Das ist fast wie das große weite Meer”, sagte sie. „Nur mit Sand statt mit Wasser.”

„Warst du schon einmal am Meer?”, fragte er verträumt. Das Meer, das war am anderen Ende der Welt, so unfassbar weit entfernt.

„Nein”, sagte sie. „Aber ich weiß ganz genau, wie es da aussieht.”

„Ich will das Meer auch einmal sehen.”

Sie wandte sich ihm zu. „Wirklich? Ich dachte, deine Leute fürchten das Wasser.”

„Ich nicht. Aber ich sehe tagein, tagaus nichts weiter als die Wüste und vielleicht mal etwas von der Gegend um Aurópéa herum. Das kann nicht alles sein.”

„Ist es nicht. Es gibt so viel mehr. Dein Vater hat es mir gezeigt, wir sind darüber hinweg geflogen. Und in der anderen Richtung, da ist das große Gebirge. Aber am schönsten ist es im Boscargén. Am See in unserem Wald.”

„Wald … wie ist es in einem Wald?”, fragte Advon. Er wusste, was ein Wald war, aber er kannte nur die Haine und Gärten mit ihren lichten Bäumen.

„Kühl”, erzählte sie. „Auch an ganz heißen Tagen wird es da nie zu warm. Die Luft riecht anders. Und alles ist voller grüner Schatten und flimmerndem Licht. Und die Bäume … die sind mindestens so hoch wie der Turm hier.”

„Jetzt flunkerst du.”

Sie ließ die Schultern hängen. „Nun ja. Sie sind jedenfalls sehr hoch.”

„Wälder sind gruselig, sagt Papa. Da sind lauter Räuber und wilde Tiere drinnen, hauptsächlich hungrige Wildwölfe.”

„Ach was. Solange man nicht die Kuchenhäuser aufisst, passiert nichts.”

„Was sagst du?”

„Der Wald passt auf einen auf. Bäume sind gut. Mein Papa sagt …”

„Nein, ich meine … was für Kuchenhäuser?”

„Oh. Also, in manchen Wäldern, da wohnen seltsame alte Frauen, die Kinder fangen und essen wie die Wildwölfe. Wildwölfen darf man tatsächlich nicht trauen, wenn sie einem den Weg erklären, denn dann sind sie darauf aus, die Großmutter zu fangen. Jedenfalls, die alten hungrigen Frauen wohnen in Häusern aus Kuchen und Brot und Keksen, aber nur, um damit Kinder anzulocken, die sich im Wald verlaufen haben. Und …”

„Ist das nicht komisch? Wenn sie sie doch so hungrig sind, warum bauen sie ein ganzes Haus aus Brot, statt selbst davon zu essen? Wozu der Aufwand?”

Dýamirée stutzte und kletterte vom Fensterbrett hinab. „Stimmt. Darüber hab ich noch gar nicht nachgedacht. Ich fand nur, man darf nicht ohne Erlaubnis Häuser essen.”

„Mein Papa sagt”, erklärte Advon, „die alte Hexe kann Backwerk nicht vertragen und bekommt Bauchweh von Kuchen. Aber irgendwas musste sie mit all dem Zeug machen, und dann hat sie eben darin gewohnt.” Er zögerte kurz und fügte hinzu: „Ich glaube, das hat er sich ausgedacht, weil er keine Antwort wusste.”

„Dein Vater kennt die Geschichte von der alten Frau mit dem Kuchenhaus und den Kindern im Wald auch?”

Advon nickte. „Ja, und noch eine Menge mehr. Mein Papa kann fast so gut erzählen wie ein báchorkor. Aber ich glaube, er bringt alles durcheinander.” Er grinste und fügte hinzu: „Ich glaube, Siledaú würde gut in so ein Kuchenhaus passen.”

Dýamirée kicherte. „Hat sie versucht, dich aufzuessen?”

Advon dachte nach. Irgendwie kam ihm das nicht so absurd vor, wie es klang.

Das Schattensängerkind ging hinüber zum Tisch, wo noch immer das alte Buch aufgeschlagen lag. Sie warf einen Blick auf den gedruckten Text, ohne zu lesen. „Ich habe immer gedacht, nur meine Mama hätte so seltsame Geschichten bei sich.”

„Vielleicht haben sie sie einmal im selben Buch gelesen oder von einem báchorkor gehört. Wäre doch möglich, oder?”

Sie antwortete ihm nicht, aber wenn er es recht bedachte, erschien ihm diese Idee doch recht unwahrscheinlich. Aber sie war schon weiter mit ihren Gedanken.

„Wenn du mit deinem Einhorn in die Wüste reitest, nimmst du mich mit?”

Advon zögerte. Es war schon keine gute Idee, ohne Wissen der Eltern heimlich mit Farbenspiel loszuziehen. Er hatte sich bislang nicht einmal Gedanken machen können, wie er das Einhorn unbemerkt aus dem Stall und der Sicht der arcaval’ay bringen konnte. Nur den Zeitpunkt hatte er sich gewählt. Wenn der grässliche alte Úldaise in den Cielástel kam, dann waren sie alle abgelenkt. Dann war die Chance am besten. Aber wenn er nun noch das Mädchen in seinen Plan einbeziehen musste … und wenn es gefährlich wurde, dann …

„Nur”, hörte er sich sagen, „wenn du mir versprichst, alles so zu machen, wie ich es sage. Und wenn ich nicht auf dich warten muss. Und du es dir nicht anders überlegst. Und … und wenn du keine Angst hast.”

Je mehr er sprach, desto mehr lächelte sie.

„Ich nehm dich mit”, versprach er, und im selben Moment riss Siledaú die Tür auf und war mit einem erstaunlich behänden Schritt bei ihnen am Tisch.

„Nun?”, fragte die alte Frau und fixierte Dýamirée mit einem schneidenden Blick aus trüben Augen, „habt ihr euch miteinander bekannt gemacht?”

„Sie ist nett”, sagte Advon überrumpelt.

„Schön. Dann bist du also genauso töricht wie dein Vater und fällst auf die Falschheit und Verführung der Schwarzgewandeten herein, die eure ärgsten Feinde sind.”

Advon zuckte zusammen. „Was?”

„Das ist nicht wahr!”, begehrte Dýamirée auf. „Wir sind keine Feinde! Ich mag ihn!”

„Spar dir das für später auf!” Die Alte packte das Mädchen mit dürren Fingern grob am Oberarm und zog es vom Sessel. „Du kommst jetzt mit. Ich habe einen besseren Ort gefunden, an dem du bis auf Weiteres bleiben kannst.”

„Ich will, dass sie hier bleibt!”, protestierte Advon.

„Schlag dir das aus dem Kopf, Junge! Reicht es denn nicht, wenn dir die paar Augenblicke schon den Kopf verdreht haben?”

„Aber …”

„Vergiss nicht deine Lektüre! Hundert Seiten. Wenn ich zurückkomme, frage ich dich ab! Und du, komm mit!”

Sie zerrte Dýamirée mit sich und aus dem Zimmer. Das Mädchen setzte sich zur Wehr, aber Siledaú schien ihn ihrer völlig unverständlichen und übertriebenen Wut große Kraft zu haben. Bevor Advon um den Tisch herum und mutig hinter den beiden her war, schlug die Tür schon wieder zu und ihm ins Gesicht. Der Junge kam zu Fall und fand sich benommen auf dem Boden sitzend wieder. Auf der anderen Seite der Tür, , die erneut abgeschlossen wurde, hörte er Dýamirée kreischen und toben, dann ein Klatschen, und das Mädchen verstummte.

Advons Herz klopfte ihm bis zum Hals. Er legte bang das Ohr an die Tür. Hatte die Alte es etwa gewagt, das Schattensängerkind zu schlagen? Einen Moment blieb es totenstill. Dann entfernten sich Siledaús energisch schlurfende und Dýamirées barfüßige Schritte.

Advon lehnte sich mit dem Rücken gegen das Holz und versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bringen. Das plötzliche Auftauchen der Alten hatte ihn nie zuvor so verschreckt und verängstigt wie jetzt. Ja, dieses boshafte Weib, das passte in die bizarren Märchen des Vaters, und wenn sie tatsächlich die kleine Schattensängertochter in ihrer Gewalt hatte, dann lag es an ihm, sie zu befreien wie es sich für einen tapferen Helden gehörte.

Einfacher wäre es natürlich, Siledaú bei den Eltern anzuschwärzen. Die Mutter würde es nicht leiden können, dass die alte Frau so grob war. Dass sie das Mädchen in ihren Besitz brachte wie eines der alten Bücher oder Werkzeuge der camat’ay. Sobald Siledaú ihn gehen ließ, würde er es tun. Er würde Vater und Mutter berichten und die Alte anklagen. Und was immer die Prophezeiung an Düsternis vorhergesagt hatte, er war bereit, sich zu stellen. Diesmal ganz bestimmt!

Advon rutschte zu Boden und begann, zu weinen.