
Moréaval kam langsam wieder zu Kräften, nachdem er Yalomiros Elixier zu sich genommen hatte. Dass er mehr als einen Tag ohne Bewusstsein und, nüchtern betrachtet, auf der Schwelle des Todes gewesen war, sah man ihm schon bald nicht mehr an. Als er sich wieder sicher bewegen konnte, hatte er ein kurzes Bad im See genommen, denn Blut, Schweiß und Schmutz waren nach seinem heldenhaften Kampf gegen den Regenbogenritter natürlich nicht verschwunden gewesen. Ich hatte heimlich Magie an seinen zurückgelassenen Gewändern zu wirken versucht, um sie auf die Schnelle zu reinigen, denn wir hatten keine Zeit, um sie zu waschen. Als ich damit am Ende war, wirkte sein grün-gelbes Wappenkleid ein wenig ausgeblichen. Der Stoff war am Ende zwar repariert und sauber, aber angesichts von Zauberei nicht farbecht. Nun, Moréaval war duldsam und würde damit leben können.
Anschließend nahm ich aus dem Garten alles, was das Pferd verschmäht hatte, um ihm eine Mahlzeit zu improvisieren. Das Tier graste friedlich vor dem Haus uns wirkte so zufrieden, wie ich mir ein Pferd nur vorstellen konnte. Sicher hatte es die feinsten Gräser und Kräuter aus dem ganzen Boscargén ausgewählt und war nun gestärkt und bereit für die weite Heimreise. Vermutlich hatte nie zuvor ein Pferd solche Köstlichkeiten bekommen.
Doch Moréavals Aufbruch würde noch eine Weile warten müssen. Als ich den Ritter in Dýamirées Zimmer geführt hatte, wo das Sattelzeug lag, schien er für einen winzigen Moment daran zu sein, die Fassung zu verlieren. All die komplizierten Riemen und Schnallen zu schließen, würde ihn noch etwas beschäftigt halten. Aber auch das nahm er hin. Wahrscheinlich hielt er es in Noktámas Heiligtum für unangemessen, zu fluchen.
Yalomiro hatte sich währenddessen in seinem Arbeitszimmer hinter geschlossene Türen zurückgezogen. Ich schaute vorsichtig nach, was er trieb und fand ihn nachdenklich an seinem Tisch stehend. Vor ihm glomm etwas unter einer hauchzarten Schicht von Magie. Da ich nicht sicher war, ob ich ihn bei irgendetwas unterbrach, wartete ich schweigend.
„Kennst du das Gefühl”, fragte er plötzlich, „wenn du nicht mehr sicher bist, ob du etwas Bestimmtes getan hast oder nicht?”
„Du meinst, wenn man aus dem Haus ist und plötzlich daran denken muss, ob man den Herd ausgeschaltet hat? Klar. Das hatte ich früher sehr oft, sogar, wenn ich überhaupt nicht gekocht hatte.”
Er blickte auf. „So ähnlich.”
„Wie kommst du darauf?”
„Ich weiß nicht recht. Es ist ein Gefühl. Etwas in mir drängt es, nachzuschauen, ob in Wijdlant alles in Ordnung ist. Es verwirrt mich.”
Ich setzte mich auf den Stuhl am Tisch und betrachtete das, was Yalomiro da gerade zauberte. Es war etwas metallisches, aber mehr war durch die aktive Magie hindurch schwer zu erkennen.
„Was könnte in Wijdlant schiefgegangen sein?”, fragte ich beunruhigt.
„Ich bin mir noch nicht sicher. Ich denke, das Widerwesen versucht, an einer sehr empfindlichen Stelle des Weltenspiels Unruhe zu stiften. Mit etwas Glück habe ich gerade noch festgehalten, was anderenfalls in ein paar Wintern zusammengebrochen wäre.”
„Hat es mit Dýamirée zu tun?”
Er zuckte die Achseln. „Möglicherweise. Stell dir ein Geflecht vor, eines aus verschiedenfarbigen Fäden, die ein schönes Muster ergeben sollen. Ein gewobenes Zierband für ein Gewand zu Beispiel. Am Anfang sind die Farben ordentlich nebeneinander. Mehr als das sehe ich noch nicht. Aber ich denke, ich habe vorerst verhindert, dass einer der Fäden schon zu Beginn gekappt oder verfilzt wird und später das Ganze verknotet. Trotzdem will mich der Gedanke nicht loslassen, dass stattdessen etwas anderes passiert ist. dass es … eine andere Möglichkeit prüft, einen Knoten an eine Stelle zu machen, wo keiner hingehört..”
Ich blickte von dem Werkzeug auf, das Yalomiro gerade schuf. „Was für Knoten?”
„Alle möglichen Knoten. Ich berichte dir später davon. Und was Dýamirée betrifft – wir holen sie zurück, sobald Moréaval sich auf den Weg gemacht hat.” Er griff in den Schimmer und holte seine Schöpfung heraus. Das Licht verglomm und ich sah, was Yalomiro getan hatte. Er reichte es mir in die Hand. „Das hier ist für ihn”, sagte er und wandte sich dann den Regalen zu, wo kleine Dosen und Schatullen standen. Er nahm ein Döschen und steckte es ein. „Wie ist es mir gelungen?”
Ich untersuchte das Werkzeug. Es war ein silbernes Hufeisen, und zugleich war es das nicht. Es war eine U-förmig gebogene Feder, die duftig und hauchzart aussah, aber irgendwie zu Metall geworden war und ein erstaunliches Gewicht hatte, wie ein echtes Hufeisen.
„Was ist das? Ich meine: Was kann es?”
Er nahm mir das Werkzeug wieder ab und winkte mir, ihm ins Freie zu folgen. Das Pferd blickte auf, das Maul voll von den gestreiften Süßbinsen, die am Haus wuchsen, und schaute uns aufmerksam entgegen. Yalomiro lockte es näher, klopfte ihm den Hals und machte sich dann an seinem rechten Vorderfuß zu schaffen. Mit einem kleinen Zauber nahm er das alte Eisen mitsamt Nägeln ab und setzte das Neue auf den Huf. Daraufhin veränderte das Silber in seiner Hand die Konsistenz, wurde wie flüssig und goss sich um den Pferdefuß. Es passte dem Pferd wie angegossen. Es trug jetzt einen silbernen Schuh und störte sich nicht daran. Unbeeindruckt schritt es weiter zum nächsten köstlichen Grasbüschel.
„Was macht Ihr da?”, fragte Moréaval, der gerade sein Sattelzeug ins Freie schleppte.
„Ich beschleunige Eure Heimreise, Herr Jóndere. Schon bald könnt Ihr Eure hýardora und Euer entzückendes Töchterlein wieder in die Arme schließen.”
„Nein, was macht Ihr da mit meinem Pferd?”
„Schaut.” Yalomiro deutete auf den nun kühl in der Sonne glänzenden Huf. „Ich habe aus den Einhornfedern, die Ihr im Eifer Eures Kampfes erbeuten konntet, ein kleines Werkzeug gefertigt. Solange Euer Ross es am Fuß trägt, wird es sich ebenso schnell bewegen können wie sich das Einhorn, dessen Federn es waren, durch die Luft bewegt.”
Jóndere Moréaval hob überrascht die Brauen. „Das ist möglich?”
„Nein, natürlich nicht. Es ist Zauberei, und dazu eine mit einer sehr, sehr geringen Kraft. Sie ist nur dazu bestimmt, Euch schnell nach Hause zu bringen. Weiter wird sie nicht reichen. Ich würde Euch dennoch raten, erst anzugaloppieren, sobald Ihr die Heide vor Euch habt. Hier im Wald stehen zu viele Bäume unberechenbar im Weg.”
Der Ritter wollte etwas darauf einwerfen, aber Yalomiro ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Ich schicke Euch mit mehreren Aufträgen los, Herr Jóndere. Zum einen: Habt Ihr noch die Samen, die meine Tochter Euch geschenkt hat?”
„Wenn niemand meine Taschen angetastet hat, dann …”
„Gut. Ich will, dass Ihr sie der kleinen Tíjnje überlasst. Sie soll sie im Frühling in einen Topf mit guter Erde legen und gut pflegen, damit daraus starke Pflanzen werden. Den Blumentopf soll sie hüten wie ihren allergrößten Schatz. Die Blumen werden reifen und blühen und welken, und sie werden neue Samen bilden. Diese Samen, Herr Jóndere, soll Tíjnje weitergeben. Immer und immer wieder, und immer mehr. Ich will, dass sich die weißen Nachtblumen, die Euch beschützt haben, binnen wenigen Sommern in so vielen Gärten der Burgen und Dörfer der teirandon Wijdlant und Spagor befinden wie nur möglich.”
Ich war verwirrt, aber aus anderen Gründen als Moréaval, der verdattert fragte: „Ihr wollt meine Tochter zur Gärtnerin machen?”
„Warum nicht? Es wäre ein ehrbarer Beruf. Aber es mag dem Kind besser gefallen, wenn Ihr sagt … ja, sagt ihr, Meister Yalomiro höchstselbst habe sie zur obersten ehrwürdigen Hüterin der Mondlichtblumen bestimmt. Das ist ein unglaublich wichtiges Amt, das nur sie selbst versehen kann und in das ihr niemand dareinreden darf. Schon gar nicht die Knaben oder die teirandanja. Sagt ihr das, und zwar genau so. Sie wird sich dafür begeistern und ihre Sache hervorragend machen.”
„Aber …”
„Vertraut mir, Herr Jóndere. Es ist mir ernst damit und wird möglicherweise einst von hoher Bedeutung sein, dass diese Blumen sich verbreiten.”
„Und dann wollt Ihr eine so bedeutsame Sache einem kleinen Mädchen von fünf Sommern anvertrauen, das noch mit Puppen spielt?”
„Ich möchte es dem makellosen und unversehrtesten Herzen anvertrauen, das ich unter den Unkundigen gefunden habe. Können wir nun zum Nächsten?”
Moréaval wechselte einen hilflosen Blick mit mir. Ich nickte ihm zu.
„Gut.” Yalomiro holte das Döschen hervor. „Gefallen Euer hýardora Edelsteine, Herr Jóndere?”
„Sicherlich. Sind nicht alle Damen angetan davon?”
„Welche Farbe?”
„Welche … ich weiß nicht recht.”
„Salghiára? Was meinst du?”
„Opal”, sagte ich, ohne nachzudenen. „Da muss er sich nicht entscheiden.”
Der Ritter blickte auf. Ich zuckte die Achseln. „Meine Großmutter hatte so ein … Geschmeide, Herr Jóndere. Das hab ich mir als Kind gern angeschaut. Es glänzte so schön bunt im Licht.”
Yalomiro lächelte und fischte einen glatt geschliffen kleinen Stein aus der Dose, etwas größer als ein Kirschkern nur, und schloss seine Faust darum. Ich konnte spüren, dass er zauberte, aber er tat es ganz nebensächlich, während er mit dem Ritter weiterredete. „Ich gebe Euch ein zweites Geschenk für Eure hýardora mit, Herr Jóndere. Mit den besten Empfehlungen und meiner aufrichtigen Ehrerbietung, nachdem ich ihr aus denkbaren Gründen nicht selbst meine Aufwartung machen konnte. Es ist nichts weiter als ein schöner Funkelstein, aus dem Ihr für sie ein Geschmeide fertigen lassen könnt. Vielleicht einen hübschen Ring. Aber in den Stein lege ich noch etwas herein. Etwas, von dem ich möchte, dass es so schnell wie möglich nach Wijdlant gelangt, bis ich selbst wieder dort sein kann.”
„Sagt schon”, forderte der yarl und legte endlich den Sattel ab, der ihm in den Armen langsam schwer zu werden schien.
„Ich habe mir erzählen lassen, dass in anderen Orten fremder Weltenspiele zuweilen Magie in Edelstein versiegelt wurde, auf eine Weise, dass Unkundige sie benutzen konnten. Ich will das ausprobieren. In dieses Steinchen, Herr Jóndere, lege ich die Erfüllung eines Wunsches, den Eure hýardora, und nur sie, wirken kann, indem sie ihn laut ausspricht.”
„Wie im Märchen”, fügte ich hinzu und war fast etwas belustigt. Ich entsann mich, wie Yalomiro und Dýamirée einmal ausdauernd mit mir darüber diskutiert hatten, wie viel Unfug Unkundige anrichten konnten, wenn ihnen ein solches Wundermittel in die Hand fiel und sie sich etwas sehr Dummes wünschten. Das war gewesen, als ich ihnen ein Märchen mit einem Wunschring erzählt hatte. Dýamirée war über die Möglichkeit, dass Unkundige Magie missbrauchen könnten, sehr beunruhigt gewesen. Yarl Moréaval schien ähnlich zu denken. „Ist das nicht sehr gefährlich?”, fragte er besorgt.
„Nein. Es sind Regeln dabei. Zum Einen: Es darf nichts sein, das sie sich aus Eigenutz für sich selbst wünscht. Das beschützt sie vor Unvernunft. Und zweiten: Es muss etwas sein, das sich nicht anderweitig durch Menschenhand bewerkstelligen ließe. Das beugt unbedachter Verschwendung vor, Es ist nur ein ganz einfacher Zauber darinnen, Herr Jóndere. Es ist klug, ihn aufzusparen.” Yalomiro überließ ihm den Stein. Der Ritter nahm ihn an sich und wirkte verwirrt. „Und wenn unbedacht gegen diese Regeln verstoßen wird?”
„Keine Sorge, Herr Jóndere. In diesem Fall wird schlichtweg überhaupt nichts passieren. Ich würde Euch niemals in Gefahr bringen wollen, nach alledem, was Ihr getan habt,”
Der Ritter bedankte sich mit einer Verneigung, bevor er den Opal sorgsam verstaute.
Du willst also etwas für Notfälle in Wijdlant platzieren, dachte ich.
Natürlich. Für den Fall, dass ich den Herd nicht gelöscht hatte, obwohl ich nichts gekocht habe. Yalomiro verzog keine Miene, während er aufmerksam beobachtete, wie Moréaval den kleinen Stein in einem Taschentuch einschlug und sicher in seiner Gürteltasche einpackte.
Was genau tut der Stein?
Er bricht Magie zum Schaden von Unkundigen. Sobald wir Dýamirée befreit haben, muss … jemand in Wijdlant nach dem rechten sehen. Aber jetzt haben wir es eilig. Sobald er weg ist, müssen wir dringend etwas miteinander besprechen.
Als hätte er das verstanden, fragte Moréaval, indem er sich mit dem Zaumzeug dem Pferd näherte: „Ihr werdet den feigen Kindsentführer suchen und Eure Tochter befreien, nicht wahr?”
„Ja. Ich habe andere Mittel dazu als Ihr, Herr Jóndere. Aber auch Ihr sollt noch eine Belohnung für Euer selbstloses Eingreifen erhalten.”
„Was redet Ihr! Ich habe nichts getan, was es zu belohnen gäbe. Ich habe nur meine Pflicht getan, und auch die vergebens. Aber dürfte ich Euch vielleicht um eine Sache bitten?”
„Bitten könnt ihr, selbstverständlich. Aber ich weiß nicht, ob ich Euch zubilligen werde, was Ihr haben wollt.”
„Wenn ihr dem Ehrlosen begegnet, richtet ihm bitte aus, dass es mir ein Anliegen wäre, ihm abermals zu begegnen. Am Boden, und ohne ein Kind zwischen uns.”
Ich seufzte. War das wieder so eine traditionelle, zeremonielle Geschichte um Ehre und Anstand? Mir war unwohl bei der Vorstellung, dass die Ritter ernsthaft aufeinander einschlugen. Solange es ein sportliches Geplänkel war, war es hinzunehmen. Aber zwischen Jóndere Moréaval und Cýelú Irísolor ging es möglicherweise um etwas weit bedeutungsvolleres.
Ich wollte nicht, dass erneut Blut floss, auch wenn es keinen Anlass zu Mitleid mit dem Regenbogenritter gab.
„Ich werde es ihm sagen”, sagte Yalomiro. „Aber ihr werdet verstehen, dass ich, wenn es die Situation erfordert, keine Rücksicht auf Eure Ansprüche nehmen kann. Ich werde Euch nicht den Vortritt lassen, wenn meine Tochter in Gefahr ist und ich einschreiten kann.”
„Selbstverständlich.”
Nun wurde es mir unheimlich. Yalomiro legte mir beschwichtigend die Hand auf den Arm. „Sattelt auf, Herr Jóndere. Ihr habt keine Zeit zu verlieren. Wenn mein Zauber geglückt ist, könntet ihr schon im nächsten Morgengrauen in Wijdlant sein.”
***
Cýelú stand neben Siledaú auf der Südmauer und war in sich zusammengesunken. Neben der zornigen Alten fühlte er sich wie ein gescholtener Knabe. Siledaú war unfassbar wütend. Elosál hätte sie vielleicht bändigen können, aber Elosál durfte von der ganzen Sache nichts erfahren. Cýelú hatte sie fortgeschickt, um ihr diese schandvolle Szene zu ersparen.
„Ich kann es noch einmal versuchen”, sagte er leise.
„Dazu ist es zu spät”, sagte die Alte kalt. „Es war der perfekte Moment. Du hättest in ihr Nest hineinspazieren und das besorgen können, wonach ich dich ausgeschickt habe. Das, was nicht im Etaímalon sein darf. Wir hätten es in die Wüste gebracht und das Problem ein für allemal aus der Welt geräumt. Ihr hättet in Sicherheit und Frieden leben können, für alle kommenden Zeiten.” Sie seufzte ärgerlich und funkelte ihn mit ihren verwaschen Augen an. „Was meinst du eigentlich, wie viel Zeit und Mühe und Studien es mich gekostet hat, diesen Plan auszuarbeiten? Den rechten Moment zu finden? Du musstest nicht einmal mitdenken! Du hättest einfach nur tun müssen, was man dir sagt”
„Was hätte ich den für eine Wahl gehabt?”, fragte er. „Da war das Kind, und die Mutter ….”
„Du hättest dir das Balg greifen und der Mutter sagen sollen, sie könne die kleine Kröte im Tausch zurückhaben.”
„Das habe ich!”, verteidigte er sich.
„Und warum bist du dann mit dem Kind hergekommen?”
„Bei Pataghíu! Weil die Mutter offenbar keine Ahnung hatte, wovon ich rede!”
„Pah!” Siledaú schien ausspeien zu wollen, hielt sich aber gerade noch im Zaum. „Ein Weib und ein kleines Kind, und der Großmeister der arcaval’ay ist nicht in der Lage …”
„Wenn der Menschenritter nicht aufgetaucht wäre, wäre es vielleicht anders ausgegangen. Ich musste die Sache abbrechen.”
„Was?”
„Der Mann hat mich angegriffen wie eine wildgewordene Hornisse!”
„Ein Unku- … ein Mensch? Im Boscargén?”
„Ja, ein junger Mann, ganz sicher ein yarl, höchstens dreißig Sommer alt von nördlich des Montaziél. Er schien vertraut mit der camat’ayra und dem Kind. Sonst hätte er sich wohl kaum eingemischt.”
Siledaú kniff die Lippen zusammen und starrte gen Soldesér. Ihr Blick verfolgte die Reitergruppe, die auf die Wüste zuhielt und gerade so eben vom Cielástel aus noch auszumachen war. Die ausgeblichenen Rottöne der Kleidung eines der Reiter waren ein Fixpunkt, an dem man sich orientieren konnte.
„Hat er sich vorgestellt?”
„Ich erinnere mich nicht. Alles geschah so schnell und unerwartet.”
„War sein Wappenrock blau?”
„Nein, er hatte zwei Farben. Gelb und grün.”
„Dann verbünden sie sich also weiterhin mit Menschen.”
„Verbünden?”
„Oder verführen, Cýelú, wie es dir besser gefällt. Das ist nicht gut. Das ist gar nicht gut. Es könnte gefährlich werden.”
Sie wandte sich von der Wüste ab und schaute nachdenklich zu dem Turm mit dem Schulzimmer hinüber. Zu lange allein lassen durfte sie die Kinder dort nicht. Wahrscheinlich war es bereits ein großer Fehler gewesen, sie überhaupt zusammenzubringen. Aber was hätte sie so schnell mit diesem kleinen Mädchen, dieser Monstrosität anstellen sollen?
„Es ist sehr beunruhigend, wenn im Boscargén, bei Noktámas Heiligtum, Menschen ein und aus gehen. Menschen können den Wald nur mit Billigung eines Schattensängers betreten.” Sie warf dem Goldenen einen scheelen Seitenblick zu. „In diesem Punkt sind sie vorsichtiger als gewisse Magier, deren Tür allzeit geöffnet ist. Es würde mich nicht wundern, wenn der Großmeister einen Plan ausheckt, um erneut Menschen gegen Menschen und alle zusammen gegen Magier aufzubringen.”
„Das kann ich nicht glauben. Das kleine Mädchen …”
„Du bist ja ganz vernarrt in dieses dreckige Gör!”
Nun runzelte er die Stirn. Sie wich zurück, aber nur einen Fingerbreit.
„Sie ist fest davon überzeugt, dass ihr Vater sie befreien wird. Wenn er das tut, dann werden wir ihn niederringen und unschädlich machen, und du kannst dir selbst aus dem Etaímalon holen, was immer du willst.”
Sie wollte ihm etwas Aufbrausendes antworten, besann sich aber. Das klang gar nicht schlecht. Nein, bei näherem Bedenken klang es sogar noch viel besser.
Siledaú schaute hinauf zum Turm. Vielleicht war das Kind, das nicht sein durfte, doch zu etwas nutze.
„Gut, Cýelú Irísolor. Warten wir ab, was geschehen wird. Derweil werde ich dafür Sorge tragen, dass das Kind hier in Sicherheit ist. Im Turm kann sie nicht bleiben. Aber überlasse diese Sache mir. Und nun geh, bevor Elosál sich noch mehr erzürnt, als sie es ohnehin tut.”
Er nickte und wollte sich entfernen; etwas zu eilig für Siledaús Geschmack. Es war so befriedigend, zu beobachten, wie unbehaglich dem Regenbogenritter in seiner Haut war.
„Cýelú? Es wäre nicht gut, wenn Elosál irgendetwas von dem erführe, was wir beredet haben.”
„Es schmerzt mich, vor meiner hýardora solche Geheimnisse zu haben”, sagte er bedrückt.
„Wenn du sie und deinen Sohn liebst, hütest du das Geheimnis”, gab sie streng zurück. „Du hast doch schon etwas von selbsterfüllenden Prophezeiungen gehört?”
Er antwortete nicht, sah sie nur mit ergebenen goldtrüben Augen an.
„Wenn Elosál Wind von dem bekommt, was wir zu ihrem Schutz planen”, erklärte Siledaú ihm genüsslich und nicht zum ersten Mal, „dann wird genau das geschehen, was die Mächte mir in den Visionen gezeigt haben. Dann wird ein Schwarzgewandeter sich auch die letzte der fünf fajíaé holen. Willst du das riskieren?”
„Nein. Natürlich nicht.”
„Erzählen kannst du es ihr, sobald alles vorbei ist. Sei froh, dass ich dir den Rücken frei halte. Die Verantwortung für den Cielástel lastet auf deinen Schultern, Cýelú. Ich kann gut nachfühlen, welche Kraft, welche Opfer du dafür bringst. Du hast mein Mitgefühl.”
„Danke. Aber das nimmt mir nichts von der Last.”
„Trotzdem hätte ich ein winzigkleines Anliegen. Eine Formalität.”
Er lehnte sich an die Zinnen. „Was willst du?”
„Elosál hat mir meine Bücher verboten. Ich musste alles in Aurópéa einlagern. So kann ich nicht arbeiten, Cýelú. Meine Studien …”
„Bücher? Die Schattensängerbücher, die Elosál erwähnte? Ich wusste nicht, dass es solche Bücher waren. Ich …”
„Dürfte ich mir bitte nach und nach meine Bibliothek zurückholen? Mit deiner offiziellen Erlaubnis? Es sind Bücher dabei, die mir sehr lieb und wert sind.”
„Elosál wird ihren Grund gehabt haben, dass sie das Zeug nicht im Cielástel haben wollte.”
„Und ich habe wichtige Gründe, warum ich die wertvollen Bücher und Artefakte nicht in irgendeinem schlecht bewachten Schuppen in Aurópéa haben möchte, wo sie jederzeit gestohlen und an andere Sammler verramscht werden könnten. Wir haben gerade darüber gesprochen.”
„Artefakte? Was denn noch?”
Siledaú zuckte die Achseln. „Cýelú, was sollte ich denn mit Schattensängerartefakten für einen Unfug treiben können? Ich bin nur eine alte Frau, die die Schwarzmäntel studieren und verstehen will, die seit Anbeginn der Zeit den Hellen Tag und die Farben bedrohen.”
Er seufzte. Dann nickte er. „Gut. Sieh zu, dass du dein Eigentum in Sicherheit bringst. Aber bitte so, dass es Elosál nicht unter die Augen kommt.”
Er wandte sich ab und ging eilig fort. Wahrscheinlich fürchtete er, sie könne noch weitere Wünsche äußern, die ihm Verdruss bringen würden.
Siledaú lächelte. Das war gut. Aber nun hatten andere Dinge den Vorrang. Die Bücher konnten warten. Nun war das Kind an der Reihe, bevor es ihr noch entwischte.
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