Siledaú gelangte gerade in dem Moment auf den Hof, als auch Elosál den Cielástel verließ, um ihren hýardor zu begrüßen. Die fajía trat gemessenen Schrittes ins Freie, schaute sich aber um, als die alte Frau in hinter ihr heran hastete. Die goldenen Augen verschatteten sich für einen kurzen Moment, so als empfinde sie einen gewissen Unwillen über das Hinzukommen der Greisin.

„Siledaú! Und gerade zur rechten Zeit. Wo bist du gewesen?”, fragte die fajía.

„Ich? Ein ganz klein wenig Schlaf habe ich genommen. Die letzten Tage waren anstrengend.”

„Hast du Advon gesehen? Mich wundert, dass er nicht längst hier ist, um seinen Vater zu begrüßen.”

Siledaú schnaufte abfällig und wich ihr aus. „Besser ist das. Sobald Cýelú hier ist, haben wir einiges zu bereden.”

„Ausruhen soll er sich, und erfrischen”, mahnte Elosál. „Er hat diesen Weg in übermagischer Eile zurückgelegt!”

„Dafür ist später noch Zeit.” Sie ließ die fajía stehen, drängte sich an ihr vorbei durch das Tor und schalt sich selbst. Die Gier! Diese verfluchte Gier, die musste sie zurückhalten! Das war verdächtig, man konnte es der fajía unschwer ansehen. Aber was konnte sie dagegen tun, nun, da ihr so frühzeitig erfüllt wurde, wonach sie all die Zeit gestrebt hatte?

Und wieso fiel Cýelú ausgerechnet nun ein, direkt den Cielástel anzusteuern? Zu hoffen stand, dass er wenigstens die Geistesgegenwart gehabt hatte, das zu verstecken, was er aus dem Etaímalon geholt hatte, so wie sie es ihm eingeprägt hatte.

Noch stand ihnen die Sonne im Rücken und blendete nicht, als das mattweiß schimmernde Einhorn so nahe war, dass sich Details erkennen ließen. Siledaú dachte nicht an Vorsicht. Sie lief ihm auf den Hof entgegen und runzelte die Stirn.

Hätte er es bei sich, er hätte es nicht verbergen können. Gut. Oder nicht? Hatte der Idiot es tatsächlich außerhalb des Heiligtums abgelegt? Oder war seine Mission etwa gescheitert? Sie hätte beruhigt sein müssen; aber da war etwas, das sich verkehrt anfühlte.

Die Schwingenschläge des Einhorns waren nun bereits zu hören.

Siledaú starrte in die Luft und schreckte auf, als der Violette ihr die Hand auf die Schulter legte.

„Er braucht Platz zum Landen”, mahnte er. „Tritt zurück.”

Er packte sie vorsichtig beim Oberarm und führte sie zu den Anderen. Da standen sie, die sieben arcaval’ay, genau in der Ordnung, in der ein Regenbogen am Himmel erschien. Elosál in ihren vielfarbig schillernden Gewändern wartete links daneben. Der Violette bugsierte Siledaú in die Lücke dazwischen und warf ihr einen mahnenden Blick zu.

Cýelú lenkte Perlenglanz noch einmal in einer großen Runde um die Türme herum und setzte dann zum Landeanflug an, zum Nordtor hin ausgerichtet. Das hatte seinen Sinn, denn den Einhörnern fiel es manchmal schwer, steil von oben auf dem Hof aufzusetzen. Auf diese Weise ließ es sich notfalls durch das Tor hindurch ausgaloppieren, wenn die Tiere zu schwungvoll am Boden aufkamen.

Aber Perlenglanz beherrschte das Kunststück und kam sicher zum Halt. Aus dem Stall eilte der unkundige Stallmeister heran, um das Einhorn entgegen zu nehmen. Die Ritter ließen ihm die Freude. Der Mann war immer erleichtert, wenn alle Rösser beisammen waren.

Kaum dass das Einhorn stand, strebten die arcaval’ay auf ihren Anführer zu, verwirrt, zögernd, neugierig. Elosál rannte Cýelú entgegen, als der abstieg und seine Last aus dem Sattel hob, während der getreue Knecht Perlenglanz wegführte. Die ausgetauschten Federn in seiner Schwinge veranlassten ihn zu einem missbilligenden Kopfschütteln. Offenbar war Cýelú nicht sorgsam genug gewesen mit dem kostbaren Tier.

Aber … was war das? Was hatte der Idiot da mitgebracht?

Siledaú trat vor. Die anderen schwiegen, warteten, dass ihr Meister sich äußerte. Cýelú nahm seinen Helm ab und klemmte ihn sich unter den Arm.

„Das”, sagte er in die Runde, noch bevor er jemanden grüßte, „ist unser lieber junger Gast. Heißt sie willkommen. Sie steht unter meinem und Pataghíus Schutz.”

Siledaú starrte. Das Kind blickte sich scheu um. In seinen rabenschwarzen Gewändern inmitten der hellen, bunten Umgebung, wirkte es wie ein Fremdkörper, wie eine Störung. Wie Schmutz.

Die Alte blickte fassungslos auf und in Cýelú Irísolors schuldbewusstes Gesicht.

„Was …”, brachte sie hervor, aber er fiel ihr ins Wort.

„Ich erkläre es dir später. Es ist gut so.”

„Liebster”, sagte Elosál verwirrt, „wer ist das?”

Er nahm das Kind, dieses widerliche, abscheuliche Ding, an der Hand, und sie griff vertrauensvoll zu. Er führte es zu der fajía hin.

„Schau, Kleines”, sagte er dabei, mit einer Freundlichkeit, die Siledaú die Haare zu Berge stehen ließ. „Das ist Elosál Irísolor. Meine geliebte hýardora.”

Das Kind schaute die fajía mit intensiven, grünen Augen forschend an. Dann nickte es schüchtern zum Gruß.

„Wer bist du, Kind?”, fragte Elosál, und auch ihre Stimme triefte vor aufrichtiger Freundlichkeit, nein, noch schlimmer: vor Mütterlichkeit.

„Ich bin Dýamirée Lagoscyre”, sagte das Balg, und Siledaús Herz setzte einen Schlag aus vor Entsetzen. Lagoscyre!

„Das ist ein hübscher Name”, nahm Elosál das Gespräch an sich, schaute aber irritiert zu ihrem hýardor auf.

„Meister”, wagte der Indigofarbene es, zu reden. „Was … ist das …”

Cýelú schüttelte den Kopf. „Nein. Seid unbesorgt. Das ist einfach nur ein liebes unkundiges Kind, das für einige Zeit hier bei uns bleiben wird. Bis auf Weiteres.”

„Cýelú!”, fand Siledaú endlich die Sprache wieder. „Wo hast du … das her?”

„Etwas freundlicher, Siledaú!”, mahnte der Regenbogenritter.

„Warum hast du das … sie hergebracht?”

Cýelú warf ihr einen so beschwichtigenden Blick zu, dass es sie zur Weißglut brachte. „Sie war in Gefahr, dort wo ich sie gefunden habe. Alles weitere unter vier Augen, Siledaú.” Er strich dem Mädchen übers Haar und blickte sich suchend um. „Wo ist Advon?”

„Sicher schläft er noch”, sagte Elosál. „Er hatte eine anstrengende lange Nacht. Aber dazu später.” Sie neigte sich zu dem Mädchen hinab und streckte ihr die Hände entgegen. „Komm zu mir, Kind. Willkommen in Pataghíus Heiligtum. Du bist hier unter Freunden.”

Das Kind lächelte verlegen und legte dann ihre Finger auf Elosáls Handflächen.

Nicht weiter geschah. Weder versengten beide einander das Fleisch noch fuhren sie vor Schmerz auseinander. Auch Cýelús goldener Panzerhandschuh lag weiterhin auf der Schulter des Kindes.

Unkundig. Unkundig wie ein Stück Holz. Siledaús Gedanken rasten.

„Cýelú”, sagte sie tonlos, „du hast sicher eine gute Erklärung dafür.”

„Sicher. Aber nicht jetzt.” Er wandte sich dem Mädchen zu. „Schau, Kleines. Das hier sind die sieben arcaval’ay, die Hellen Magier und Meister der Farben. Pataghíus Diener. Kommt näher!”

Die arcaval’ay umringten das Kind. Sie ließen sich vor ihm aufs Knie nieder, um es nicht zu überragen. In ihren Mienen überlagerte Freundlichkeit und eine irritierende Faszination alle Vorbehalte. Das Kind schaute von einem zum anderen.

„Seid ihr Menschen?”, fragte sie dann unbefangen, verwundert.

„Nein”, antwortete der Gelbe freundlich. „Nicht so ganz.”

„Aber fast”, lenkte der Rote ein.

„Bald”, stellte der Indigofarbene fest.

„Du musst keine Angst vor einem von uns haben”, schloss der Grüne amüsiert. „Wir beißen nicht.”

Elosál lächelte und wandte sich dann wieder Cýelú zu. „Kannst du mir das in kurzen Worten erklären, Liebster?”

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist eine lange Geschichte. Und nicht vor den Ohren der Kleinen.”

„Cýelú!” Siledaú wagte sich einen Schritt näher an das Kind heran. Eine unmittelbare Gefahr schien zumindest nicht von ihr auszugehen. „Was soll das? Wieso bringst du ein … und nicht … was soll ich davon halten?”

„Und das, Kleines”, ignorierte er sie auf geradezu unverschämte Manier, „ist Siledaú, eine liebe Vertraute unserer Gemeinschaft. Advons mestara.”

So. Advons mestara war sie nun also in seinen Augen. Eine höhere Hausangestellte! Siledaú senkte zornig die Brauen. Dieser tumbe Idiot, dem würde sie …

Die Finger des Kindes umschlossen die Hand der fajía fester. In seinen Augen flackerte Unbehagen, als das unkundige Ding Siledaú anschaute.

„Nun, Kleines”, zwang die Alte sich zu Freundlichkeit. „Sicher hast du nach der weiten Reise Hunger und Durst und bist müde. Magst du mich begleiten? Ich gebe dir zu essen und bringe dich zu dem … anderen Kind.”

„Nein.” Die Antwort des Mädchens war knapp und unmissverständlich. Und die Botschaft in ihrem Blick funktionierte, ganz ohne Gedanken zu hören. Das Mädchen mochte sie nicht.

Nun, darauf musste Siledaú auch keinen Wert legen. Hauptsache, es ließ sich ein privates Wort mit diesem Dummkopf wechseln, der … Brut aufgelesen hatte und damit ankam wie ein kleiner Junge, dem irgendwo ein Straßenköter zulief. Wenn das Balg ein Souvenir war, ein Beifang, dann ließ es sich verschmerzen. Wenn nicht …

„Geh mit Siledaú, Kleines. Ich habe mit meinen Leuten langweilige Dinge zu besprechen.”

„Das denke ich auch”, sagte Elosál. Die arcaval’ay erhoben sich.

„Ich will nicht”, sagte das Kind entschlossen.

„Bitte. Sei brav, Kleines. Wir sind ganz schnell wieder bei dir. Es dauert nicht lange.”

„Komm, Kindchen”, säuselte Siledaú. „Advon freut sich sicher, deine Bekanntschaft zu machen.”

Sie schaute fragend zu Cýelú auf. Der Goldene nickte ihr aufmunternd zu.

Das Kind seufzte und trat dann zu Siledaú hin. Nun, gut erzogen und gehorsam war die Kleine aller Offensicht nach. Siledaú griff nach der schmalen Kinderhand. Tatsächlich. Unmagisch wie ein Stein.

Elosál trat an ihren hýardor heran. Die beiden standen Stirn an Stirn. Dann umarmten sie einander innig. Die Regenbogenritter nahmen taktvoll Abstand, um den Moment des Wiedersehens nicht zu stören. Siledaú schloss ihren Griff fester.

„Cýelú!”, mahnte sie, „deine Sache ist noch nicht beendet und in Gefahr.”

„Ja”, murmelte er und schmiegte sein Gesicht an das Haar der fajía. „Ich werde auf dich warten.”

„Gut. Ich bin gleich zurück.” Die Alte setzte sich so unvermittelt in Bewegung, dass sie das Mädchen mit sich riss. Dann stapfte Siledaú mit allem, was sie an Rüstigkeit aufzubieten hatte, zurück in den Cielástel. Das Kind hatte Mühe, ihr zu folgen.

„Lass mich los!”, begehrte es auf. „Du tust mir weh!”

„Dann beweg dich schneller”, zischte Siledaú ärgerlich, während sie zur Treppe hinüber strebte. Als sie sich sicher war, dass ihr kein arcaval’ay gefolgt war, fragte sie: „Lagoscyre, sagst du? Ich habe einmal jemanden gekannt, der genau so hieß.”

„Wirklich?”, fragte das Kind ungläubig. „Du kennst meinen Papa?”

Siledaú schnaubte. „Wohl kaum. Aber es ist interessant zu erfahren, dass der Name noch existiert.” Sie stutzte. „Dein Vater?”

„Ja, natürlich.”

„Wer bist du, Kind?”

„Ich heiße Dýamirée.”

„Und dein Vater ist…?”

„Yalomiro Lagoscyre. Er ist der Großmeister der camat’ay.”

Warum sollte sie darüber lügen? Siledaú wurde heiß und kalt.

„Sag mir, Kleines”, fuhr die Alte fort, „ich frage mich, woher deine Mutter gekommen sein mag.”

Die Kleine japste bereits. Offenbar war sie es nicht gewohnt, hohe Treppen zu steigen. Kein Wunder. Im Etaímalon gab es keine Treppen. „Woher?”

„Sag mir, von wo dein Vater sich eine Frau geraubt hat!”

Nun war das Kind verstört. „Er hat meine Mama nicht …”

„Ach, was willst du davon schon wissen. Bist du so dumm? Haben sie begonnen, es untereinander zu treiben? Oder hat er es sich irgendwie von einer Unkundigen geholt?”

Nun war das Kind völlig verwirrt. Siledaú blieb stehen, um ihr ins Gesicht schauen zu können. Eine willkommene Verschnaufpause auf dem Treppenabsatz.

„Ist deine Mutter ein Mensch?”, fragte sie scharf. „Ein unkundiger Mensch?”

„Ein wenig zaubern kann sie. Sie lernt noch.”

„Und aus welchem yarlmálon stammt sie, deine Mutter? Bist du so dumm, dass du es nicht weißt?”

„Ich weiß nicht, wie der Ort heißt”, gab das Kind kleinlaut zu. „Es ist ganz anders da. Und sie erzählen ihren Kindern seltsame Geschichten.”

„Ein … anderer Ort?”, fragte Siledaú und zog das unkundige Schattensängerkind weiter die Treppe hinauf. Sie ahnte.

„Ganz anders. Ganz weit weg. Mama sagt, sie geht nie wieder zurück.”

Eine äußere Welt. Es ergab Sinn. Es ergab Wahnsinn. Siledaú blieb stehen und schaute den Turm hinauf. Noch vier Etagen bis zum Lernzimmer. Dort wären die Bälger beide zusammen und sie bis auf weiteres ungestört.

Das Kind schaute sich verstört um. Das Gebäudeinnere aus Glas und Gold, Perlmutt, Marmor und bunt opalisierendem Stein schien es einzuschüchtern. Siledaú war es anfangs ähnlich ergangen. An all das Gefunkel und die vielen Farben auf kleiner Fläche musste man sich gewöhnen, bevor man die Ästhetik schätzen lernte, oder vielmehr das, was Pataghíus beschränkte Diener dafür halten mochten. Etwas Pechschwarzes gab es hier nicht. Das schwarzhaarige Kind mit den schwarzen Gewändern wirkte wie ein Schmutzfleck vor all der Regenbogenpracht.

„Wieso hat Cýelú dich mitgenommen?”, fragte Siledaú und trieb das Mädchen weiter.

„Er scheint zu denken, dass mein Papa ein schlimmer Mann ist”, antwortete sie. „Er wollte mich beschützen.”

Siledaú lachte. Das war so typisch für Cýelú Irísolor.

„Der freundliche Menschenritter wollte ihn daran hindern”, fuhr Dýamirée fort. „Da hat er ihn erschlagen. Aber ich glaube, das hat er nicht wirklich gewollt. Es tut ihm weh, wenn er daran denkt.”

Das wurde ja immer besser! Siledaú verbarg ein dünnes Lächeln zwischen den Falten auf ihrem Gesicht. Wenn dem Goldenen bei seinem Abenteuer irgendwo ein argloser Mensch vors Schwert gestolpert war, mochte das einen schönen klebrigen Fleck auf seinem Herzen hinterlassen haben.

„Und das Werkzeug?”, fragte sie begierig. „Wo hat Cýelú das versteckt?”

„Was für ein Werkzeug?”

Siledaú blieb stehen. Sollte etwa …

„Das Werkzeug. Das, was im Etaímalon versiegelt ist.”

Das Kind machte große, verständnislose Augen.

„Es ist ziemlich groß”, half die Alte. „Es ist nicht zu übersehen. Hat der Goldene denn nichts mitgebracht aus dem Etaímalon?”

„Nein”, sagte das Mädchen kleinlaut und verstört. „Da ist er doch gar nicht hinein gegangen. Meine Mama hat den Schutz gewirkt.”

Verflucht.

„Komm mit”, zischte Siledaú und zog das Kind so ruckartig weiter, dass es beinahe gestolpert wäre. Die Kleine wimmerte und versuchte erfolglos, sich loszureißen. Aber Siledaús unbändige Wut verlieh der Greisin erstaunliche Kraft.

Verflucht! Verflucht! Verflucht! Wieso ging alles aus dem Ruder?

Mit nur einer Hand schloss die Alte die Tür auf. Advon, der am Tisch saß, fuhr erschrocken auf.

„Ich bin noch nicht so weit!”, protestierte er.

Sie hatte keine Zeit, sich mit ihm abzugeben. Beflügelt und belebt von der unbändigen Wut in ihrem Geist stieß die Greisin das Mädchen in die Stube und zu Boden, knallte wortlos die Tür wieder zu. Sie schloss ab und zog den Schlüssel heraus.

Alles geriet ins Rutschen! Nun besonnen sein. Erst Cýelú. Und dann … das andere.

Sie jagte treppab und war auf dem Hof, noch bevor Elosál und Cýelú ihre wortlose Begrüßung beendet hatten. Sogar die arcaval’ay standen noch alle gemeinsam beieinander.

Siledaú atmete tief ein. Dann schritt sie so gefasst wie möglich auf den Goldenen und die fajía zu.

„Cýelú?”

Er wandte sich ihr zu und machte ein geradezu schuldbewusstes Gesicht. Elosál griff nach seiner Hand.

„Es gibt nichts”, sagte die fajía, „was meine Ohren nicht erreichen sollte, Siledaú.”

„Es könnte dich verstören. Die Prophezeiung …”

„Ich kann mit Prophezeiungen sehr gut umgehen. Ich bin die Großmeisterin. Ich habe diese Welt gesehen, lange bevor der Regenbogen verblasst ist.”

„Gut”, sagte Siledaú kalt. „Und ich hatte gehofft, dass Cýelú die Katastrophe noch hätte abwenden können. Ich hätte ahnen müssen, dass er sich von Kindereien ablenken lässt.”

„Ich habe vielleicht nicht getan, wonach du mich geschickt hast”, verteidigte er sich. „Aber die Sache ist nicht verdorben.”

„Nicht? Du hast Schattensängerbrut in das Heiligtum Pataghíus geschleppt. Du entweihst die Stätte des Hellen Tages und der Farben mit … Abschaum!”

„Das sagt jemand, der eine Sammlung verderbter Schriften in diese Mauern gebracht hat wie einen Hehlerschatz”, wandte Elosál ein. Siledaú verzog das Gesicht und ignorierte Cýelús verwunderten Blick. Von dieser Episode konnte der Goldene noch nichts wissen.

„Von meiner Büchersammlung wissen die Schwarzmäntel nichts”, sagte Siledaú. „Dass dein hýardor aus lauter Mitleid ihre Brut verschleppt, dürfte ihnen nicht entgangen sein. Du aber hast ihnen einen Grund geliefert, auf uns aufmerksam zu werden.”

„Das ist wahr”, sagte Elosál, in einem so neutralen Ton, dass Siledaú es nicht als einen an Cýelú gerichteten Tadel interpretierte.

„Was kann passieren”, sagte der Goldene. „Das Kind mag aus ihren Reihen kommen, aber es ist … wie Advon. Es passt ohnehin nicht zu ihnen. Vielleicht lassen sie es auf sich beruhen.”

„Nein”, sagte Elosál. „Was immer der Vater sich mit diesem Kind ausrechnet, die Mutter wird es sich zurückholen wollen. Keine Mutter lässt sich ihr Kind rauben.”

„Wie auch immer. Wenn sie es sich zurückholen wollen, aus Sentimentalität oder aus gewichtigerem Grund … es wird in einem Kampf münden, Cýelú Irísolor. Ich habe dich ausgesandt, um eben einen solchen Kampf ein und für alle Zeiten unmöglich zu machen.”

„Und ich werde mein Versprechen erfüllen”, sagte Cýelú. „Lass uns reden, Siledaú.”

„Ich will mithören”, sagte Elosál.

„Nein”, sagte Cýelú. „Bitte, Elosál .. das ist eine Sache, die Verschwiegenheit erfordert.”

„Verschwiegenheit? Ich bin deine hýardora! Wie können wir Geheimnisse voreinander haben?”

„Bitte. Es … ich muss es mit mir selbst ausmachen. Es ist mein Gewissen, mit dem ich dich nicht belasten will.”

„Und was hat Siledaú damit zu schaffen, mit deinem Gewissen?”

Die Alte lächelte. Dass Elosál ungehalten war, dass die beiden nahe vor einem Streit standen, das gefiel ihr.

„Gar nichts. Aber ich will nicht, dass … Elosál, ich werde dir alles erzählen, wenn es ausgestanden ist. Wenn ich weiß, dass du und Advon in Sicherheit seid.”

Die fajía schaute zu Boden. Siledaú wurde sich bewusst, dass die ganze Regenbogenritterschar die Szene beobachtete.

„Gibt es etwas an der Prophezeiung, das mich davon ausschließt?”, fragte sie bitter.

„Ja”, behauptete Siledaú. „Aber wenn du es wüsstest, es würde dem Unheil die Bahn brechen. Deine Unwissenheit, Elosál, ist unser Schutz.”

„Was für eine seltsame Prophezeiung.” Sie schüttelte den Kopf und winkte dann ihren Rittern, ihr zu folgen. „Kommt mit mir in die Halle. Cýelú … ich hätte mir deine Heimkehr anders gewünscht, aber nun ist es so. Sprich deine Dinge mit Siledaú ab und komm dann zu uns. Allein. Wir haben dir auch so Einiges zu erzählen, das dich interessieren wird. Hier ist viel geschehen, in der kurzen Zeit. Vor dir haben wir nichts Geheimes. Erinnere dich daran.”

Er nickte. Siledaú atmete auf. Die arcaval’ay gruppierten sich um ihre Meisterin. Aber Elosál war noch nicht fertig.

„Lagoscyre. Das war der Name der Kleinen, nicht wahr?”

„Ja, nach dem See im Boscargén nennt sich diese Meisterlinie wohl”, bestätigte er.

„Damals”, sagte Elosál. „Zu jener Zeit, vor der Katastrophe und direkt danach … ich sehe ihn noch vor mir. Er und seine Begleiter … sie haben damals Jagd auf den Abtrünnigen, den Verfluchten gemacht. Ein junger Mann noch, ein ehrenhafter und mächtiger Schwarzmantel war es. Sein Name war Askýn Lagoscyre. Ich frage mich, ob er seine Kunst und seine Lehre in seinem Geist an einen seiner Schüler weitergeben konnte. Wie seltsam, dass die Mächte seinen Namen erneut an diesen Ort tragen.”

Sie warf Cýelú einen vielsagenden Blick aus ihren goldenen Augen zu und ging fort. Die Ritter folgten ihr schweigend.

„Askýn Lagoscyre”, knirschte Siledaú. „Man sagt, er sei einer von denen gewesen, die den Verfluchten zur Strecke brachten. Mit Sicherheit weiß man es nicht. Die Berichte widersprechen sich.”

„Du wirst es bekommen”, sagte Cýelú matt. „Er wird es mit sich bringen. Anders bekommt er das Kind nicht zurück.”

„Erzähl mir alles, was du weißt”, sagte Siledaú tonlos. „Ich habe heute noch viel zu tun.”