Advon hörte den Ruf des Wächters, der die Rückkehr des Vaters ankündigte. Der Junge hatte gerade an seiner Waschschüssel gestanden und den letzten Rest Ruß mit Seife und einer Bürste vom Körper geschrubbt. Rasch trocknete er sich ab, schlüpfte in Hemd und Hose und wollte gerade hinaus auf den Gang stürzen, um dem Vater entgegenzulaufen. Im letzten Moment zögerte er, ging zurück und drehte das schmutzige Kopfkissen um. Später musste er wohl oder übel einen der arcaval’ay ins Vertrauen ziehen und ihn bitten, den Bezug sauber zu zaubern. Wahrscheinlich würde er den Gelben fragen. Der hatte schließlich Elosál gegenüber auch den Vorfall mit dem leergekauften Kuchenstand verschwiegen.

Als er sich umdrehte, stand sie in der Türöffnung, wie eine Erscheinung aus einem Alptraum, gebeugt, gebrechlich und mit so viel Unwillen im Blick, dass Advon schauderte. Siledaú.

„So früh schon wach, Advon Irísolor? Ich hatte damit gerechnet, dich wecken zu müssen.”

„Vater kommt nach Hause, Siledaú. Der Wächter kann ihn bereits sehen.”

„Wie schön. Dann habe ich gleich einige Dinge mit ihm zu besprechen.”

„Ich will ihm entgegenlaufen. Deshalb bin ich schon wach und angezogen, und …”

„Entgegenlaufen? Jetzt? Ich denke, du begibst dich jetzt erst einmal schleunigst ins Lernzimmer. Die Ferien sind vorbei.”

Advon stand wie vom Donner gerührt und starrte die alte Frau entsetzt an. „Jetzt? Aber ich hab keine Zeit! Papa kommt zurück!”

„Keine Zeit? Der Tag erwacht, und wir haben eine Menge nachzuholen.”

„Aber es ist doch nicht meine Schuld, dass du nicht da warst!”

Sie schüttelte missbilligend den Kopf. „So aufmüpfig, Advon Irísolor? Wie schade. Ist dir denn wirklich danach, den ganzen Tag beim Lernen zuzubringen? Bis die Sonne untergeht?”

Advon zögerte. Er hatte die Wahl zwischen einer bockigen Erwiderung und strategisch klugem Gehorsam. Dass Siledaú ihre Launen durchsetzte und ihn bis abends beschäftigen würde, stand außer Frage. Aber damit wäre der Plan, den sicher unschuldig verurteilten Unkundigen aus der Wüste zu retten, dahin.

„Darf ich ihn nicht wenigstens begrüßen?”, fragte er daher kompromissbereit.

„Glaub mir, Advon, sobald das Einhorn deines Vaters seine Hufe auf den Boden gesetzt hat, hat er alles andere zu tun, als sich um dich zu kümmern. Dafür ist später noch Zeit.”

„Klauen”, murmelte Advon.

„Was war das?”

„Nichts. Ist es denn so wichtig?”

Siledaú kam in den Raum und dem rußbefleckten Bettzeug bedenklich nahe. Advon schnitt ihr instinktiv den Weg ab. „Advon, mein Junge … ist es denn nicht viel vernünftiger, jetzt ein klein wenig Geduld zu üben und später das Widersehen mit deinem Vater ganz in Ruhe und Ausführlichkeit zu feiern?”

„Schon”, sagte Advon kleinlaut.

„Heute Abend hat er Zeit für dich”, tröstete sie mit einer für ihre Verhältnisse ganz ungewöhnlichen, ja: verdächtigen Freundlichkeit. „Ich bin mir sicher, sobald dein Vater und deine Mutter ihre Angelegenheiten erledigt haben und der sinor seinen Pflichtbesuch abgestattet hat, ist das alles viel schöner für dich, als jetzt in aller Eile nur einen Blick zu erhaschen.” Sie lächelte für einen halben Wimpernschlag, dann erstarrten die Falten in ihrem Gesicht wieder zur üblichen Strenge. „Und nun komm!”

Sie legte ihm die Hand auf die Schulter und dirigierte ihn unnachgiebig mit steifen Altfrauenfingern aus dem Raum. Advon fügte sich, obwohl er sich innerlich sträubte. Wenn er es sich jetzt verdarb, geriet vielleicht ein Mensch in Lebensgefahr. Farbenspiel wartete auf seinen Einsatz. Bis dahin durfte er Siledaú nicht erzürnen.

Brav tappte er neben ihr durch den Cielástel, die Treppen hinauf zum verhassten Studierzimmer. Der Gelbe und der Violette kamen ihnen entgegen, aber Advon wagte nicht, stehenzubleiben und den Ersteren um die Gefälligkeit bezüglich des Bettzeugs zu bitten. Die Magier grüßten freundlich, aber Siledaú hatte nur ein unwirsches Schnauben für sie übrig.

„Und was soll ich heute tun?”, fragte Advon. Das Zimmer wirkte ungewohnt leer, nachdem ein Großteil der, wie er nun wusste, verbotenen Bücher fort war. Der leere Rahmen der verzauberten Wachstafel lag noch auf dem Tisch.

Siledaú nahm ihn in die Hand und runzelte ärgerlich die Stirn. Die Schreibtafel war ihr liebstes Instrument gewesen, um Advon zu plagen. Der Junge fragte sich immer noch, was genau es gewesen war, das die Zerstörung bewirkt hatte, als Elosál sie in die Hand genommen hatte.

„Soll ich etwas schreiben?”, fragte Advon mit Unschuldsmine, wohl wissend, dass es in diesem Zimmer derzeit kein anderes Schreibzeug gab.

Die alte Frau zögerte, aber nicht wegen Advons Einwand. Sie horchte auf die Rufe von draußen, vom Turm. Offenbar war Cýelú, der Goldene, der Großmeister, sein Vater, schon ganz nah. Die Ritter johlten und jubelten ihm freudig entgegen.

„Hier stehen genug Bücher”, sagte sie geistesabwesend und ließ den Rahmen einfach fallen. „Such dir irgendeines aus und lies. Hundert Seiten, bis ich wieder da bin. Ich frage dich ab.”

„Was? Über irgendeines dieser Bücher?”

Aber die Alte war bereits auf dem Weg nach draußen. „Irgendeines. Ich habe sie alle gelesen.” Sie würdigte ihn keines weiteren Blickes und eilte aus dem Zimmer. Advon sprang auf und wollte hinterher. „Siledaú! Warte!”

Aber im selben Moment, als er die Tür erreichte, schlug diese ihm vor der Nase zu. Das Schloss schnappte ein, der Schlüssel wurde gedreht.

„Hundert Seiten!”, klang es noch von der anderen Seite. Dann war Advon allein, eingesperrt mit fünf Dutzend alter Schriften der Unkundigen.

Der Junge starrte die Tür an. Dieses Verhalten der alten Frau war mehr als sonderbar. Ärgerlich kehrte Advon zurück an sein Pult, versetzte dem Rahmen dabei einen ärgerlichen Tritt und beförderte ihn unter eines der Regale. Was war nur in die alte Unkundige gefahren, dass sie so mit ihm umsprang? Nun gut – dass sie ihn eingeschlossen hatte, hatte er sich selbst zuzuschreiben. Sicher wollte sie nicht, dass er sich wieder davon stahl. Das hatte er zu oft getan.

Das Fenster des Studierzimmers war schräg zum Hauptturm des Cielástel ausgerichtet. Aus diesem Winkel konnte Advon nicht viel von dem sehen, was auf dem Hof und der Anflugschneise von Norden geschah. Nicht einmal einen kleinen Blick auf den Vater würde er von hier aus erhaschen.

Es half nichts. Der kürzeste Weg hinaus aus diesem Kerker der Gelehrsamkeit war es, Siledaú zu gehorchen und sich hundert Seiten Text zu widmen. Er bückte sich, um den nun aus den Fugen geratenen Rahmen aufzuheben und griff sich dabei wahllos eines der Bücher vom untersten Regalbrett.

Die Chroniken der Chaoskriege, las Advon den Titel. Gesammelt von sinor Úldaise Benévolír.

Advon stutzte über die Namensgleichheit. Sein Interesse war geweckt. Das Buch war handlich, aber das Papier bereits verblichen und mürbe, der Einband bestand aus mit Leinen überzogener Pappe und zerbröselnden Lederecken. Er musste äußerst behutsam damit umgehen, damit es nicht beim Umblättern auseinanderfiel. Auf der ersten Seite fand er einen Vermerk darüber, dass diese Auflage ein Nachdruck der handschriftlichen Aufzeichnungen dieses anderen Úldaise war. Das Buch war über einhundert Sommer alt, und seine Qualität hatte der Zeit nicht standgehalten. Das Vorwort klärte darüber auf, dass Benévolír ein großer Historiker gewesen war, ein forscor, der sich leidenschaftlich mit der Geschichte Aurópéas auseinandergesetzt hatte, von seiner Zeit als junger Soldat bis zum vierten Jahr seines Einsatzes im konsej. Bis zu seinem unerklärlichen Verschwinden. Gegenüber zeigte ein Holzschnitt das Porträt des Autors, einen ernsthaft dreinblickenden älteren Herrn mit Kinnbart und buschigen Augenbrauen. Advon fand, dass es keine Ähnlichkeit mit dem Úldaise hatte, den er kannte. Sicher, so dachte der Junge, war der Namensvetter ein viel angenehmerer Mensch gewesen. Allein der Umstand, dass man ihn als forscor nicht vergessen hatte, machte ihn sympathisch. Sicher hatte er viele Abenteuer erlebt und geheimnisvolle Orte erforscht.

Das waren zumindest interessante hundert Seiten.

***

„Osse? Bist du noch da?”

Osse Emberbey schrak hoch. Er war wohl tatsächlich eingenickt, im Dunklen, im Turm. Allerdings: Es war nicht mehr völlig düster. Durch die nur eine halbe Hand breiten Scharten in der Mauer weiter unten im Turm drang etwas graues Licht. Der Junge warf einen Blick auf die Laterne. Das Öl war ausgebrannt. Er musste eine ganze Weile geschlafen haben.

„Ja”, sagte er. „Entschuldige. Ich bin eingedöst.”

„Ich auch. Ich habe geträumt. Wunderliche Dinge. Du warst tatsächlich die ganze Zeit da? Wo sind die anderen?”

„Die teirandanja ist wahrscheinlich im Haupthaus und versucht, etwas über das Zimmer in Erfahrung zu bringen. Die yarlandoray werden sich den Kopf zerbrechen, warum sie mit grober Gewalt die Tür nicht aufschlagen konnten.”

„Und du? Dein Vater wird dich suchen!”

„Deiner sucht dich auch.”

Im Zimmer blieb es einen Moment still.

„Geh zu meinem Vater”, bat Merrit Althopian. „Sag ihm, wo ich bin.”

„Dein Vater bekommt die Tür auch nicht auf. Und wenn mein Vater mich zu fassen bekommt, lässt er mich gar nicht mehr aus den Augen.”

„Aber du bist doch schlau. Du lässt dich nicht erwischen.”

„Was soll es bringen?”

Schweigen hinter der Tür. Dann: „Ich weiß, dass er die Tür auch nicht öffnen wird. Aber ich will mit ihm reden. Kannst du es so machen, dass niemand außer ihm erfährt, wo ich bin?”

„Natürlich. Ich meine … ich kann es versuchen.”

„Die teirandanja und die beiden anderen müssen es auch nicht wissen. Vielleicht finden sie ja heraus, was zu tun ist. Aber mein Vater … sag ihm, ich bin aus purer Dummheit hier herein gegangen. Das ist keine Lüge. Und … ich habe Angst.”

„Du bist doch mutig. Du hast keine Angst”, widersprach Osse aufmunternd.

„Sag ihm, er soll herkommen, ohne etwas den teiranday zu sagen. Bring ihn her. Kannst du das tun, Osse? Tust du das für mich?”

„Aber natürlich.”

„Geh noch nicht weg. Ich bin noch nicht fertig. Wenn ich jemals etwas für dich tun kann …. also, vorausgesetzt, ich komme hier irgendwie heraus …”

„Du kommst da heraus! Dann müssen die teiranday eben Meister Yalomiro noch einmal herrufen. Mit Magie geht die Tür auf, bestimmt! Allerdings dauert das dann ein paar … Monde.”

Er hörte Merrit hinter der Tür lachen. „Bis dahin bin ich hier verschmachtet. Ich hab jetzt schon solchen Durst …”

„Wir finden einen Weg. Irgendetwas wird uns einfallen.”

„Gehst du dann bitte jetzt meinen Vater holen”, fragte Merrit.

Osse erhob sich und klopfte sich den Schmutz von der Hose. „Es kann eine Weile dauern, bis ich ihn finde”, warnte er.

„Ich laufe nicht weg.”

„Du kannst doch gar nicht …”

„Das war ein Scherz, Osse.”

„Ich beeile mich”, versprach der Junge. „Ich muss nur auf der Treppe langsam gehen.”

„Schau nicht nach unten. Der Abgrund ist gefährlich.”

Aber darauf bekam Merrit Althopian schon keine Antwort mehr. Seufzend lehnte der Junge sich gegen die Tür und strich schaudernd über den Boden. Etwas war anders als am Abend zuvor.

Angst? Vor etwas Sand?

***

Jóndere Moréaval schlug die Augen auf und kniff sie gleich wieder zu. Das Tageslicht schien ihn zu blenden.

„Was ist passiert?”, brachte er mit brüchiger Stimme über spröde Lippen.

„Bleibt liegen”, bat Yalomiro. „Keine vorschnelle Bewegung. Ihr seid gleich wieder frei.”

Der Ritter wandte langsam den Kopf. Vor seinen Augen verblühten die duftenden weißen Nachtblumen. Die Blüten wurden braun und brüchig, fielen nach und nach von den Ranken. Die Laubblätter schrumpften zusammen, bis sie kleine Knospen an den Stengeln waren. Ich hatte noch nie gesehen, wie Pflanzen sich zurückentwickelten. Sobald es möglich war, begannen wir, Moréaval aus dem Rankennetz auszuwickeln. Die klaffende Wunde an seinem Hals war nunmehr nur noch eine helle Narbe.

„Meister Yalomiro”, wisperte Moréaval. „Was macht Ihr hier?”

„Dasselbe möchte ich Euch fragen. Wieso seid Ihr nicht in Wijdlant? Eure hýardora, Euer Töchterlein warten auf Euch. Der Dame bin ich nicht zu nahe gekommen, seid unbesorgt. Aber die Kleine ist ein überaus entzückendes Kind, das Euch beiden gut geraten ist.”

„Tíjnje? Wieso … was …”

„Woran erinnert Ihr Euch, Herr Jóndere?”

Er ächzte. Yalomiro half ihm, sich aufzusetzen. Ich reichte ihm Wasser. Der Ritter trank wie ein Verdurstender und sah sich dann benommen um.

„Da war ein Regenbogenritter. Das Kind … bei den Mächten! Wo ist das Kind?”

„Ihr habt sie tapfer verteidigt, Herr Jóndere”, sagte ich schnell. „Ihr habt gefochten bis zum äußersten.”

„Ich war also nicht siegreich, nicht wahr?”, fragte er betroffen.

Yalomiro streifte die letzten Ranken von ihm ab. „Herr Jóndere, für das, was Ihr für meine Tochter getan habt, sei Euch auf immerdar der Dank und der Schutz der camat’ay sicher. Eure Heldentat rechtfertigt einen ähnlichen Bund, wie ihn vorzeiten Schattensänger mit den Vorfahren von yarl Althopian geschlossen haben. Wenn auch unter verdrehten Vorzeichen.”

„Was?”, fragte Moréaval verwirrt.

„Trotzdem wüsste ich gern, was Ihr hier zu suchen hattet. Als ich Euch verließ, waren wir fast am Montazíel und nach Norden unterwegs. Was hat Euch vom Heimweg abgehalten?”

Der Ritter stöhnte. Sicher war er nach dem langen Liegen ganz wund und steif. „Das wüsste ich selbst gern. Ich bin in die Irre geritten. Jeden Abend kam ich an meiner Lagerstätte vom Vorabend an. Zuletzt ließ ich die Mächte entscheiden und mein Pferd einfach seinen eigenen Weg gehen, um mich aus diesem blödsinnigen Reigen zu befreien.”

Yalomiro hob die Brauen. „Herr Jóndere, hattet Ihr irgendetwas aus diesem Wald ohne mein Wissen und meine Erlaubnis an Euch genommen?”

„Bei den Mächten! Niemals würde ich etwas stehlen! Was unterstellt Ihr mir?”

„Denkt nach”, bat ich ihn. „Es mag Euch nicht wie ein Raub vorgekommen sein.”

Er rappelte sich auf alle Viere hoch und versuchte, sich aufzurichten. Yalomiro half ihm, bis der Ritter schwankend stand. Offenbar dachte er angestrengt nach.

„Das Kind hat mich genötigt, Samen von eben diesen Pflanzen als Geschenk anzunehmen”, gestand er schließlich. „Mehr fällt mir wirklich nicht ein.”

„Ah.” Yalomiro nickte. „Dann ist das Rätsel gelöst.”

„War es unrecht?”, fragte der Ritter besorgt. „Sie sagte, die Blumen wollten, dass ich sie in meinen Garten trage. Ich hielt es für eine nette Geschichte und wollte ihr die Freude tun.”

„Die Pflanze wollte es, so.” Yalomiro warf den Nachtblumen einen tadelnden Blick zu. „Nein, Herr Jóndere, es ist gut so. Nehmt die Samen nur mit. Tíjnje wird ihre helle Freude daran haben. Dýamirée wollte Euch eine Freude damit machen. Sie hat nicht wissen können, dass ohne das Einverständnis des Großmeisters nichts von Unkundigen aus dem Boscargén fortgebracht werden darf und kann. Ihr hättet mich nur einweihen müssen, ich hätte es mit Freuden erlaubt. Aber dann wäre all das hier nicht geschehen.” Er neigte den Kopf und fügte nachdenklich hinzu: „Die Blumen indes, die mussten es wissen. Ich frage mich, was ich davon halten soll.”

„Was ist mit der Kleinen geschehen?”, fragte Moréaval mich.

„Der Regenbogenritter hat sie mit sich genommen.”

„Welche Schande”, sagte der yarl grimmig, „dass ich es nicht verhindern konnte.”

„Ihr konntet nichts tun. Er war …”, ich suchte nach einer Formulierung, die seinen Heldenmut nicht schmälern würde, „… einfach besser ausgerüstet. Er hatte ein magisches Schwert. Und ein Einhorn. Und … und er hat Euch verwundet.”

Moréaval tastete nach seinem Hals. Seine dunklen Augen weiteten sich, als er die Narbe nachverfolgte und wohl realisierte, wo genau die Wunde verlief.

„Wie kann es sein, dass ich lebe?”, fragte er dann leise. „Wie kann ich das überlebt haben?”

Ich schaute hilfesuchend zu Yalomiro hinüber. War das der richtige Moment, dem Ritter zu gestehen, dass er unsterblich war, solange Gor Lucegaths Schwert nicht geborgen wurde?

Nein, hörte ich Yalomiro. Nicht, dass er leichtsinnig wird. Laut sagte er: „Genügt es Euch, wenn ich Euch sage, dass ein wenig Magie Euch das Leben gerettet hat?”

Nun schaute Moréaval noch verstörter drein.

„Herr Jóndere, mit Freuden würde ich Euch die Zeit gönnen, Euch zu erholen und noch einige Tage hier zu verweilen. Aber ich muss Euch gleich auf die nächste Reise schicken. Es drängt mich, mir in Aurópéa das Kind zurückzuholen, das man uns gestohlen hat.”

„Selbstverständlich.” Der Ritter senkte den Blick. „Kann ich dabei etwas mittun?”

„Ja. Aber nicht hier. Ich will, dass Ihr zu Eurer Familie zurückkehrt, so schnell Euer Pferd zu laufen versteht.”

„Ich werde nun nicht mehr in die Irre reiten?”

„Nein. Euer Weg führt jetzt schnurstraks zu Eurer hýardora und der süßen kleinen Tíjnje. Ihr müsst so schnell wie möglich den Boscargén verlassen und nach Hause, Herr Jóndere.”

„Ja”, sagte er. „Das denke ich auch. Aber …”

„Ich gebe Euch ein Elixier, das Eure Kräfte stabilisieren wird, bis Euer Körper das Nötige nachgeholt hat. Versucht, noch bis zum Abend das Eisendorf zu erreichen. Kommt. Begleitet mich in Noktámas Heiligtum.”

„Ins Heiligtum?”, rief Moréaval erschrocken aus.

„Ja. In die Halle selbst darf ich Euch nicht führen, aber unser Haus soll denen von Moréaval in alle Zukunft eine Zuflucht und eine Herberge sein. Das ist etwas, was zuvor kein Unkundiger erlangt hat, nicht einmal die Herren von Althopian.”

„Das”, murmelte Moréaval, „ist eine Ehre, derer ich unwürdig bin.”

„Es genügt, wenn Ihr vor den Unkundigen nicht allzu sehr damit prahlt.”

Der Ritter nickte. Ich versuchte, zu verstehen, was für ein unfassbares Privileg es für ihn sein mochte, einen Ort zu betreten, der einem Wesen geweiht war, das sein ganzes Leben und Denken mitbestimmte. Sicher war das mehr, als ein Unkundiger erfassen konnte. Ich hatte mir nie besondere Gedanken darüber gemacht, wenn ich dort herumlief. Es war Alltag für mich geworden.

„Euer Zeug habe ich in den Etaímalon gebracht”, sagte ich. „Und Euer Pferd kann nicht weit fort sein. Es plündert meine Beete. Wie lange benötigt Ihr, um Sattelzeug zusammenzuschnallen?”

Yalomiro und Moréaval schauten mich überrascht an.

„Es tut mir leid”, sagte ich. „Ich wusste nicht, wie ich das arme Pferd absatteln konnte. Da hab ich einfach alle Schnallen geöffnet, und …”

„Es wird eine Weile dauern”, sagte Moréaval tonlos. Allzu erfreut klang er nicht.

Zu meiner Überraschung schien das Yalomiro, der es gerade noch so eilig gehabt hatte, zupass zu kommen. Er zeigte plötzlich diesen abwesenden, nachdenklichen Blick, den er immer hatte, wenn ihm eine Idee kam, die ihn herausforderte. Eine Aufgabe, die er meistern wollte. Das Silber in seinen Augen schimmerte auf. Dann zog er die Einhornfedern unter seinem Gürtel hervor und strich vorsichtig mit der Fingerspitze darüber.

„Lass Euch nur Zeit, Herr Jóndere”, sagte er dann. „Ich fertige Euch derweil ein Spielzeug.”

***

Kíaná von Wijdlant hatte einige Zeit in Manjévs Zimmer verbracht. Als das Mädchen endlich schlief, hatte die Mutter den unglücklichen Wächter scharf gerügt, unter dessen Blick die teirandanja entwischt war. Zwar ging die teiranda nicht davon aus, dass dem Kind in der eigenen Burg etwas zustoßen konnte, aber dass Kinder nachts ins Bett gehörten, dieser Meinung war sie schon. Der junge Wachmann hatte den Tadel zerknirscht hingenommen und irgendetwas davon gemurmelt, dass man sich nicht mehr auskenne, welches Kind in der Nacht einherlaufen dürfe und welches nicht. So erfuhr die teiranda davon, dass sich am Vorabend wohl jedes hochedle Kind der Burg, einschließlich Tíjnje, um Manjévs Gemach herumgetrieben hatte, sah man einmal von dem verschollenen yarlandor von Althopian ab.

Nun saß Kíaná von Wijdlant am Fenster des eigene Schlafgemaches, schaute, wie Pataghíus Glanz sich von Süden über den Himmel ausbreitet und hörte ihrem hýardor zu. Asgaý von Spagor neigte zum Schnarchen, ganz leise, ein Geräusch, das die teiranda sehr schätzte und vermisste, wenn er aus irgendeinem Grund nicht bei ihr war. Es beruhigte sie, versicherte sie seiner Nähe. Sie wäre gern noch eine Weile zu ihm unter die Decke gekrochen, aber sie war zu aufgestört, um zu schlafen. So, befürchtete sie, hätte sie ihn möglicherweise durch ihre Unruhe geweckt.

Also saß sie da, schaute hinaus und beobachtete, wie die Burg zum Leben erwachte, da der neue Tag anbrach.

Noch bevor sich ein früher Knecht oder eine Küchenmagd zeigte, noch bevor sich ein Hahn meldete, erblickte sie eine kleine, dünne Gestalt in einem bernsteinfarbenen Hausgewand, die sich eilig quer über den Hof und auf das Wohngebäude zubewegte. Kíaná von Wijdlant runzelte die Stirn. Was mochte Osse Emberbey im Morgengrauen dazu bewegt haben, die Gästestube zu verlassen? Wusste der Junge etwa nicht, dass sich in jeder Stube ein Abtritt befand und war hinausgelaufen, um sich zu erleichtern?

Im Bett regte sich der teirand. Asgaý von Spagor tastete neben sich, stellte fest, dass der Platz seiner hýardora verwaist war und setzte sich auf.

„Geliebte”, fragte er schlaftrunken, als er ihrer gewahr wurde. „So früh schon wach? Treibt dich etwas um?”

„Ja”, sagte Kíaná von Wijdlant nachdenklich, ohne sich ihm zuzuwenden. Sie beobachtete, wie der junge Emberbey sich vorsichtig umschaute und dann ins Gebäude schlüpfte. „Ich glaube, die Kinder verheimlichen uns etwas.”