Der Indigofarbene hatte die Nacht in seiner Nische beim Tor verbracht, eine kleine kunstvolle Schnitzarbeit dabei vollendet und nachgedacht. Irgendetwas an seinem kurzen Gespräch mit der alten Siledaú war ihm seltsam vorgekommen, eine Kleinigkeit nur. Aber eine ganze Weile lang gelang es ihm nicht, festzumachen, was es war. Vielleicht lag es an der Dunkelheit und Stille des Cielástel. In der Nacht lag das riesige Gebäude mit den hohen Türmen immer in Schweigen, solange die arcaval’ay nicht gerade zu einem ihrer seltenen nächtlichen Ausritte aufbrachen. Regenbogenritter bevorzugten es, während Noktámas Zeit zu ruhen, solange es sich so einrichten ließ.

Als Pataghíus Glanz aufleuchtete, kam der Orangene hinzu, um seinen Kameraden abzulösen. Sie wechselten einige Worte miteinander, und der Orangene erzählte von dem nächtlichen Einsatz im brennenden Garten. Advons Begeisterung und Ehrfurcht vor den Flammen war zu drollig gewesen.

Der Indigofarbene hörte zu, und der festsitzende Gedanke lockerte sich.

„Wie weit ist dieser Garten von hier entfernt gewesen?”

„Nicht weit. Ein paar Flügelschläge südwestlich, einer der letzten Gärten vor den Hügeln und der Wüste.”

„Das ist weit genug weg von Aurópéa, damit keine Flammen überspringen, nicht wahr?”

„Etwa halb so weit wie vom Cielástel zum Garten.”

Der Indigofarbene zeichnete mit dem Absatz drei Kreuze in den Sand, der sich auf den Pflastersteinen abgelagert hatte. Der Orangene neigte sich darüber.

„Wie lange”, fragte der Indigofarbene, „wäre ein Unkundiger von diesem Garten nach Aurópéa unterwegs?”

„Zu Fuß? Keine Ahnung. Vielleicht zwei ihrer Gongschläge. Es ist hügeliges Terrain, und sie können schließlich nicht fliegen.”

Der Indigoritter verband zwei der Kreuze mit einer Linie.

„Und von Aurópéa hierher? Zu Fuß?”

„Für einen geübten Wanderer?” Der Orangene hockte sich hin und zog eine weitere Linie. „Auch zwei Gongschläge, schätze ich.”

„Obwohl die Strecke weiter ist?”

„Weiter, aber durch ebeneres Gebiet. Leichter zu laufen für einen Menschen.”

„Siledaú verschweigt uns etwas”, sagte der Indigofarbene beiläufig. Der Orangene blickte auf.

„Wieso?”

„Angeblich hat sie auf dem Weg von Aurópéa hierher erfahren, dass Advon bei euch war. Es habe sich herumgesprochen.”

„Nun ja”, sagte der Orangene, „es mag Unkundigen spektakulär erscheinen, wenn wir mit dem Kind unterwegs sind.”

„Aber selbst wenn dem so wäre. Es hätte sich hier”, er zeigte die erste Linie, „vorantragen müssen. Bei Nacht. Durch die Hügel. Und selbst, wenn es einem berittenen Unkundigen so wichtig gewesen wäre, im Dunklen nach Aurópéa zu eilen, um von einem unbedeutenden Brand am Rand der Wüste zu berichten …” Er zog die dritte Linie. „Die Alte hätte schon längst auf dem Weg hierher sein müssen. Zu Fuß. Auf sehr alten Beinen. Nachts. Sie kann nicht davon gehört haben, es sei denn, jemand sei zurück in die Stadt gejagt und habe es dort von den Mauern geschrieen, sodass sie es im Fortgehen noch hinter sich vernommen hätte.”

„Es sei denn”, gab der orangene Ritter zu bedenken und zog einen Kreisbogen, „sie wäre auf diesem Weg gekommen und der Kunde entgegengelaufen.”

„Das ergibt keinen Sinn. Warum sollte sie einen solchen Umweg machen?”

„Irgendetwas stimmt da nicht.”

Die beiden schauten einander nachdenklich an. Dann erhob sich der Indigofarbene rasch auf die Füße. „Ich berichte es der Meisterin. Siledaú macht sich verdächtig.”

„Geh nur”, sagte der Orangene und bezog Stellung am Tor. „Wenn sie hier heraus will, werde ich sie aufhalten, bis die Sache geklärt ist.”

Der Indigoritter klopfte ihm zustimmend auf die Schulterplatte und wollte sich zum Gehen wenden. In diesem Moment erschallte der Ruf des Roten, dem, der auf dem Turm Wache hielt, der Ruf, auf den sie alle gespannt gewartet hatten.

„Der Goldene! Der Goldene kommt zurück!”

***

Warmer, dunkelgoldener Sonnenschein stieg über die Mauern und tauchte den westlichen Marktplatz in stilles, läuterndes Licht. Die letzten Nachtschwärmer torkelten davon, um sich in ihren Häusern einen ruhigen Platz zu suchen, um wenigstens ein klein wenig Schlaf nachzuholen. Einen Volltrunkenen trug man in eines der Gasthäuser hinein. Sobald er aufwachte, würde man ihm für diese Fürsorge eine Zeche abverlangen, die er vielleicht noch zahlen konnte, sofern nicht sein Geldbeutel einen neuen Besitzer gefunden hatte. Die Schanktische am Rande der Stadt wichen Marktständen und Handwerker öffneten die nachts fest geschlossenen Läden ihrer Werkstätten. Da war es, das fleißige, rechtschaffene, blütenreine Aurópéa mit der größerenteils anderen Hälfte seiner Bevölkerung, die den letzten Müll wegräumte, den die Nacht hinterlassen hatte.

Úldaises Knechte waren verkatert, aber das machte den beiden wenig aus. Alles, was sie nun noch zu tun hatten war, sicherzustellen, dass es nicht im letzten Moment noch Unregelmäßigkeiten auf seinem letzten Gang gab. Vielleicht konnten sie sich im Anschluss daran ein paar Tage freinehmen.

Galéon blickte auf, als eine Gruppe Berittener den Marktplatz erreichte. Die Tritte ihrer Pferde klapperten hart und scharf in der gemächlichen Morgengeschäftigkeit. Man machte den Stadtwächtern Platz, störte sich aber nicht weiter an ihnen.

Zu sechst waren die Wächter, gerüstet und mit Glefen bewaffnet, aber keiner von ihnen schien besondere Erfüllung in seiner Aufgabe zu finden. Einer der Männer war unrasiert und wirkte, als sei er von einer Bank im Wirtshaus direkt in den Sattel gestiegen. Im Gegensatz zu ihm erschien einer seiner Gefährten regelrecht aufgedreht und dienstbeflissen. Er saß ab, zückte ein Klemmbrett und wechselte ein paar Worte mit jenem Wächter, der brav seinen Dienst versehen und den báchorkor bewacht hatte. Sein Rüstzeug fiel etwas ziviler aus, war nicht mehr als eine symbolische Ergänzung seiner Kleidung. Ein maedlor.

Während die beiden ihre Formalitäten erledigten, warf Galéon einen mitfühlenden Blick auf die fünf anderen Delinquenten, die die Wüste heute bekommen sollten. Sogar eine käufliche fánjula jenseits ihrer blühenden Sommer war dabei, und ein älterer Mann, dessen Kleidung und Statur nahelegte, dass es sich um einen der wohlhabenderen unter den Übeltätern in der Stadt handeln musste. Vielleicht hatte man ihn irgendeiner Betrügerei mit geschäftlichen Papieren überführt. Die drei anderen sahen aus wie die üblichen zwielichtigen Gestalten, die es viel öfter zu erwischen schien als betuchtes Tagvolk. Die fünf der Wüste geweihten sahen allesamt mitgenommen und erschöpft aus, aber keiner von ihnen setzte sich zur Wehr. Sie wirkten wie betäubt, wie sie da auf den geduldigen Pferden saßen, die Köpfe gesenkt, die Hände hinter dem Rücken an den Sattel gefesselt.

Tatsächlich kam der diensteifrige Knecht flotten Schrittes auf Galéon zu und winkte Úldaises Knechten ungeduldig, ihn loszubinden. Die beiden erhoben sich lustlos.

„Euer Herr wünscht”, erklärte der Wachdiener und klopfte auf eine Zeile in seinen Papieren, „dass ihr mitkommt und ein Auge darauf habt, dass der hier ordnungsgemäß der Wüste übergeben wird. Ihr sollt bloß nicht vergessen, diese kostbaren Riemen zu verwenden.” Er schüttelte missbilligend den Kopf und schien regelrecht pikiert zu sein. „Wenn ich mir diese Bemerkung gestatten darf: Nie zuvor wurde um einen Halunken wie den da so viel Gewese gemacht. Was hat er angestellt, dass er eine solche Sonderbehandlung bekommt?”

„Keine Ahnung”, nuschelte der verkatertere der beiden. „Soll wohl diesmal wirklich klappen.”

„Diesmal?”

„Heimlich im Brunnen hat ja nicht funktioniert”, kam die rätselhafte Antwort. Der mahnende Tritt vors Schienbein seitens des zweiten Knechts kam zeitverzögert. Er war offenbar noch nicht wirklich wach.

Der maedlor schaute stirnrunzelnd zu, wie sie Galéons Fesseln umarrangierten und ihn aus der Zelle schleppten. Der schläfrige Wächter führte eines der noch ledigen Pferde heran. Tatsächlich standen zwei weitere Gäule für die unfreiwillige Eskorte bereit.

Galéon versank einen Augenblick in Gedanken. Wäre er nun einer der unbesiegbaren, tapferen Krieger aus den Geschichten, die auf den Burgen in Männerrunden die yarlay so gern hörten, hätte er wohl einem der Stadtsoldaten die Glefe entrissen. Mühelos hätte er diese traurige Truppe besiegen und die Flucht ergreifen können. Mit nur einer Hand hätte er die nachlässigen Kerle und den maedlor, der allenfalls mit seiner Schreibfeder fechten konnte, niedermetzeln, auf eines der Pferde springen und damit in wilder Flucht über die Markstände entkommen können wie über Hürden.

Lächerlich. Solche Geschichten waren hanebüchen. Aber sie kamen gut an, wenn er sie vor Publikum erzählte. Menschen liebten Helden, die die Grenzen der Glaubwürdigkeit überwanden.

„Hier”, sagte einer der Wächter, der noch auf seinem Pferd saß. Er hatte einen Holzbecher bei sich und füllte aus einem schlaffen Trinkschlauch eine bräunliche Flüssigkeit hinein. Offenbar reichte der Inhalt gerade noch für den Becher. „Das solltest du trinken, bevor es losgeht.”

„Was ist das?”, fragte der wachsamere von Úldaises Handlangern.

„Keine Sorge. Wir tun ihm schon nichts vor der Zeit. Das ist, damit sie ruhig bleiben und nicht in Panik geraten.”

„Muss ja nicht sein, dass unterwegs einer den Helden spielt und abhaut”, erklärte der vierte. „Ist besser so.”

„Trink nur, báchorkor.” Der Wächter reichte Galéon das Holzbecherchen hinab. „Wenn du Glück hast, hält es so lange vor, bis es vorbei ist.”

Interessiert nahm Galéon den Becher entgegen. Es war nur ein Mundvoll Flüssigkeit darin. Es roch sogar angenehm, erfrischend und süß. Musste er das kennen? Und wenn ja … woher kannte es jemand in Aurópéa?

Er nickte dem Wächter dankbar zu und trank den Becher in einem Zug aus.

„Gut so”, kommentierte der maedlor. „Dann wären wir bereit. Beeilen wir uns. Wenn wir vor der Zeit wieder hier sind, ist der Rest des Tages Freizeit.”

Diese Ankündigung wurde von den Wächtern mit beifälligem Murmeln aufgenommen. Galéon ließ sich in den Sattel befördern. Um seine Hände zu fesseln, genügte ein Einhornzügel. Die restlichen drei rollte der begriffsstutzigere Knecht mit großem Gehabe demonstrativ ein und kletterte dann wiederwillig auf das letzte verbliebene Pferd.

Unter den Blicken des ehrenhaften Tagvolks verließ der Zug den Markplatz und hielt auf das Westtor zu. Hier und da wünschten mitleidige Menschen den Delinquenten die Milde der Mächte und hier und dort sprach jemand einen vorauseilenden Totengruß. Galéons Reittier trottete in der Mitte der Gruppe. Wahrscheinlich lief es diese Strecke, mit einem betäubten Menschen, alle paar Tage einmal. Zu Galéons Linken war der stattliche Wohlhabende, rechts von ihm einer der Kleingauner, die die Stadt nun ausspie.

Als die Gruppe für einige Pferdelängen den dunklen Torbogen in der Stadtmauer durchquerte, tat Galéon dasselbe mit dem Gebräu, das er getrunken, aber nicht geschluckt hatte. Dann sank er zusammen und ließ den Kopf hängen, genau so, wie er es bei den anderen sah.

Nur einmal schielte er noch kurz in die Höhe, als der kühle Schatten eines Einhorns über den Tross hinweg glitt, auf direktem Weg zum Cielástel.

***

„Salghiára! Salghiára! Wach auf!”

Aufwachen? Wo es mir doch gerade eben erst gelungen war, einzuschlafen? Ich versuchte, die aufgeregte Stimme zu ignorieren, die in mein Bewusstsein drang und mich zurück in die Schwärze fallen zu lassen.

„Salghiára! Salghiára Lagoscyre! Wach auf!”

Nein. Ich musste schlafen. Das musste Yalomiro doch wissen! Wie sonst sollte ich für ihn erreichbar sein? Und außerdem war ich nicht bereit, für einen Wachzustand. Dafür flimmerte mein Geist viel zu stark, und die Wirklichkeit um mich herum schwankte.

„Salghiára!”

Seine Hände berührten und schüttelten mich. Ich schrak aus meiner Benommenheit hoch wie elektrisiert, bereute es sogleich, denn ich verlor die Kontrolle über mich und spuckte bitteren Speichel aus. Dann gelang es mir irgendwie, die Augen zu öffnen.

Er war abgekämpft, erschöpft und aufgebracht zugleich. Und er stand leibhaftig neben dem Bett. Draußen war es noch dunkel, dunkelgrau, aber die ersten Vögel riefen ihre einsamen Melodien in den Wald hinaus, um den Morgen anzukündigen.

Yalomiro! Ich erschrak, als ich begriff, dass er da war, wie auch immer er das bewerkstelligt hatte. In nur einer Nacht musste er von Wijdlant in den Boscargén gehetzt sein, alarmiert vom Klang der lächerlichen Harfe, die am Fußende auf der Matratze lag. Das musste selbst für einen Magier, selbst mit Noktámas Hilfe, eine übermenschliche Leistung sein. Welchen Preis mochte er dafür bezahlt haben?

Einen Moment lang brauchte mein Verstand noch, um wieder einzurasten. Dann fiel ich ihm in die Arme, teils aus Erleichterung, teils aufgrund übler Gleichgewichtsstörungen. Mir war schlecht, zum einen wegen des Kräutersudes und zum anderen, weil ich es ihm nun beichten musste. Ich begann, hemmungslos zu heulen.

„Dýamirée!”, war so ziemlich das Einzige, was ich artikuliert von mir geben konnte.

„Salghiára! Was ist passiert?”, fragte er leise, drückte mich an sich und hielt mich fest im Arm. Ich spürte seine maghiscal an der meinen, als versuche er, all das, was ich meinem Körper zugemutet hatte, fortzuwaschen. Da war sie wieder, diese Geborgenheit, die ich so vermisst hatte. Das Vertrauen, das ich missbraucht hatte.

„Sie … sie ist weg!”, brach es aus mir heraus. „Er hat sie entführt! Ich hab es versucht, Yalomiro, aber da war dieser Bann und ich konnte nicht hindurch … und Moréaval … und ich konnte nichts tun! Und …” Ich schluchzte auf und wagte nicht, ihn anzuschauen. „Sie ist weg! Ich hab sie nicht beschützt! Ich …”

„Entführt? Wer hat sie entführt?”, fragte er alarmiert. „Wie konnte jemand in den Wald gelangen?”

„Ich habe den Schutzzauber verpatzt”, bekannte ich. „Es war ein Regenbogenritter.”

Yalomiros maghiscal zersplitterte. Zumindest fühlte es sich so an. Das warme, stärkende und schützende Fließen schien zu explodieren und zugleich zu erstarren. Es lässt sich kaum beschreiben. Wie ein Dornenpanzer, wie die spitzige Schale einer Kastanie fühlte es sich an. Es tat weh, als stießen von allen Seiten Nadeln aus Eis auf mich ein!

Ich wich entsetzt wieder auf die Matratze zurück. Seine Augen waren gleißend silbern, und er selbst strahlte etwas aus, das ich an ihm nicht kannte und nicht wirklich umschreiben kann. Er war zornerfüllt!

Für einen viel zu langen Augenblick war Yalomiro … gefährlich.

Dann entspannte er sich wieder etwas. Ich lag zusammengekauert da und hatte nun entsetzliche Angst. Ich war fast überzeugt davon, dass er mich nun anschreien und beschimpfen würde. Das war ein Moment, eine Erinnerung, die ich in meiner alten Welt hatte zurücklassen wollen, und der nun auf mich einstürzte wie ein Felsbrocken, um mich zu erschlagen. Oder nein … eher wie Klumpen Gelee, etwas Klebriges, was mich einschloss und ersticken würde.

Verdient hatte ich das, zweifellos, denn es war meine Schuld, dass Dýamirée in Not war.

„Ich wollte das nicht”, wimmerte ich. „Bitte, Yalomiro … Ich war nicht stark genug … ich habe versagt … Ich …” Und dann überwältigte mich ein hysterischer, verzweifelter Zusammenbruch, wie ich gehofft hatte, in meiner alten Welt zurückgelassen zu haben. Ich krümmte mich so klein zusammen, wie es ging und begann, zu zittern und zu krampfen. Es war wieder da! Ich war wieder die inkompetente, unselbständige Unkundige aus einer anderen Welt, die Witzfigur und das jämmerliche Elend, als das ich mich all die Jahre vorgekommen war.

„Salghiára!” Ich hörte ihn, wie aus weiter Entfernung, wie hinter Glas, durch Watte. Ganz weit weg.

Mein Verstand war blank. Er redete mit mir, aber ich verstand ihn nicht. Ich hatte mich aus der Wirklichkeit herauskatapultiert, war ihr entglitten wie ein Stück Seife aus den Händen und steckte nun in diesem zähen Klumpen fest, in dieser Scham und Schuld.

Dann spürte ich ihn. Er legte sich zu mir, umschlang mich mit seinen Armen und hielt meinen Rücken fest gegen sich gedrückt, die eine Hand auf meinem Bauch, die andere auf meiner Brust.

„Ich bin da”, flüsterte er mir sanft zu. „Alles ist gut.”

„Ich … ich hab es gleich unter Kontrolle”, beteuerte ich wirr. „Ich … das ist mir so peinlich … seit Jahren ist mir das nicht passiert!”

„Kämpf nicht dagegen an. Lass es geschehen. Ich bin bei dir.”

„Es tut so weh …”

„Ich bin bei dir”, wiederholte er. „Du musst keine Angst haben.”

„Ich ertrage es nicht …”

Aus seinem festen, bergenden Griff wurde eine Umarmung. Ich schluchzte, versuchte erfolglos, mich zusammenzureißen.

„Es ist nicht deine Schuld”, sagte er. „Hörst du? Du hast dir nichts vorzuwerfen.”

„Und wenn er ihr etwas antut?”, brachte ich hervor. „Wenn er sie …”

„Scht!” Ich spürte seine Lippen nahe meinem Ohr. „Regenbogenritter töten keine Kinder. Dýamirée ist in Sicherheit. Verstehst du? Sie werden ihr nichts antun. Sie ist sicher.”

„Aber …”

„Nein. Kein aber. Sie ist in Sicherheit. Die Regenbogenritter wollen ihr nichts antun. Es geht um etwas anderes.”

„Aber was will er mit ihr? Ich habe versucht, ihn aufzuhalten, aber … und Moréaval … “

„Ruhig. Komm zur Ruhe. Wir werden alles ordnen. Was ist mit Moréaval?”

„Er ist verletzt. Arámaú … die Blumen ….”

Er drückte mich enger an sich. Er zog mich langsam zurück in die Wirklichkeit und hielt mich geborgen. Die Krämpfe, die Last wichen einer großen Erschöpfung. Mein Verstand fühlte sich an wie eine frisch gewischte Kreidetafel, die sogar noch feucht glänzte.

„Lass dich fallen”, sagte er. „Sei ganz ruhig. Darf ich deine Gedanken anschauen? Durch deinen Geist sehen, was du gesehen und hören, was du gehört hast?”

Ich schmiegte mich erschöpft an ihn und ließ es geschehen. So war es besser, ersparte die Mühe und die Zeit, ihm alles ausführlich erklären zu müssen. Das war gar nicht so leicht, angesichts meines verstörten Zustandes. Doch dann verloren sich meine Gedanken, und Bilder tauchten vor meinem inneren Auge auf, Fragmente von Geräuschen und Stimmen. Ich sah mich, wie ich diesen verfluchten, unverständlichen Schutzzauber entnervt aufgab. Und dann den Goldgerüsteten auf seinem monströsen Reittier, Dýamirée klein und zerbrechlich in seinem Arm, hörte sie flehen und nach mir rufen, sah Moréaval erneut unter dem goldenen Schwert stürzen. Ich sah mich selbst gegen diese unbegreifliche Barriere ankämpfen, Dýamirée und ihr Entführer wie hinter Glas.

Yalomiro kommentierte nichts von alldem. Er beobachtete, was geschehen war, als spiele es sich auf einer Bühne ab, als sei es ein Schauspiel.

Als die hysterischen Krämpfe sich schließlich lösten, hatte die Morgendämmerung den Etaímalon hinter sich gelassen. Ich zitterte nicht mehr. Yalomiro setzte sich auf.

„Was du da getrunken hast”, sagte er beiläufig und erhob sich, „war kein Nachtwindenkraut. Ich werde bei nächster Gelegenheit alles genau beschriften. Mach so etwas bitte nie, nie wieder, Salghiára.”

„Mir ist schlecht …”

„Es gibt ein Gegenmittel. Es wächst gleich draußen vor der Tür. Ich pflücke es dir auf dem Weg zu Moréaval.”

Kein Wort über das, was er gesehen hatte. Kein Vorwurf, kein Tadel. Er nahm es hin. Die Wut, die ihn gepackt hatte, war gänzlich aus seiner maghiscal gewichen. Es war überstanden, zumindest, was mich betraf.

„Warte. Ich komme mit!”

„Kannst du denn schon wieder laufen?”

„Es geht wohl.” Ich rappelte mich hoch und torkelte zu ihm. Nach ein paar Schritten ging es wieder. Er stützte mich. Die Luft im Freien war herrlich herbstkühl. Es duftete nach Wald. Es tat gut.

„Wir kümmern uns darum, dass Moréaval wieder auf die Beine kommt. Mir ist nur nicht klar, wieso er kehrtgemacht hat und hierher gekommen ist.”

„Yalomiro …” Ich blieb stehen, während er auf eine Kletterpflanze an einem Baumstamm zutrat und eine Handvoll gelblicher Beeren pflückte. „Wieso hat der Regenbogenritter Dýamirée entführt?”

„Hier. Einzeln essen, gut zerkauen. Dann ist dir gleich wohler.”

„Warum …”

„Er ist nicht gekommen, um Dýamirée zu rauben, Salghiára. Das war nicht sein Plan. Er war auf etwas anderes aus. Ihr drei, Dýamirée, du und Moréaval, habt sein Vorhaben durchkreuzt. Er musste improvisieren.”

„Du weißt, was er wollte?”

„Ich kann es mir gut denken.”

„Und? Erklärst du es mir?”

„Sobald wir den armen Ritter wieder hergestellt haben. Ich will ihn nicht in der Nähe wissen, wenn ich auf diese unerhörte Provokation reagiere.”

„Ist es etwas Gefährliches?”

„Ja.”

Das trug nicht zu meiner Beruhigung bei. Ich knabberte gehorsam die Beeren. Sie schmeckten süß, aber die Kerne waren bitter.

„Ich kann dir versichern, dass Dýamirée im Augenblick in Sicherheit ist. Regenbogenritter würden niemals grundlos Unkundigen schaden, und schon gar nicht einem unkundigen Kind. Er hat sie mit sich genommen, um uns … nein. Um mich zu erpressen. Vielleicht auch, um mich herauszufordern.”

„Herauszufordern?”

„Geduld, Salghiára. Diese Sache ist zu kompliziert, um sie dir zwischen Tür und Angel zu erklären. Und es darf unter gar keinen Umständen ein Unkundiger hineingezogen werden. Zuerst Moréaval, dann alles Weitere.”

Wir gingen am See entlang hinüber zu der Stelle, wo der yarl zwischenzeitlich unter einem Polster von Blumen begraben lag. Yalomiro bückte sich nach etwas am Boden und hob zwei perlmuttfarben schimmernde Federn auf. Der untere Teil des Kieles fehlte, so sauber hatte Moréavals Schwert sie gekappt.

„Die hat er wohl hier verloren”, sagte er und steckte sie sich unter seinen Gürtel. „Sehr gut.”

„Yalomiro … wo bist du so schnell hergekommen?”

„Ich habe mir Sorgen gemacht. Erst dein Hilferuf, dann dein Verstummen … Ich bin gerannt.”

„In nur einer Nacht? Diese weite Strecke?”

Er bückte sich erneut, sammelte Moréavals Schild und Schwert auf und drückte mir beides in die Hand.

„Nach Aurópéa werde ich wohl etwas länger brauchen.”

„Ich komme mit!”, beeilte ich mich, klarzustellen. Was immer sein Plan war, was immer er in Aurópéa tun würde, um Dýamirée zu retten, nicht ohne mich.

„Ich weiß”, antwortete er ruhig. „Salghiára … ist dir klar, was du getan hast?”

„Ja. Ich habe zugelassen, dass dieser Dreckskerl Dýamirée einfach so mitgenommen hat.”

„Du hast einen atemberaubenden Zauber gewirkt.”

„Das mit der Harfe war nur so eine Idee gewesen. Es hat funktioniert?”

„Einwandfrei. Aber ich rede nicht von der Harfe.”

„Wovon dann?”

„Davon, dass du den Großmeister der arcaval’ay um ein Haar mitsamt seinem Einhorn aus der Luft geschlagen hättest.”

„Was?” Ich blieb verdutzt stehen. Er ging weiter auf die Blumen zu.

„Ich bin sicher, wenn er nicht Dýamirée bei sich gehabt und du keine Rücksicht darauf hättest nehmen müssen, hättest du ihn zerschmettert.”

„Was?”

„Die arcaval’ay haben allen Grund, sich vor dir zu fürchten.”

Wahrscheinlich wollt er einfach etwas Aufmunterndes sagen, um mein Selbstbewusstsein zu stärken. Aber darauf fiel ich nicht herein. Es gab Wichtigeres.

„Du wirst es sehen. In wenigen Tagen ist Dýamirée wieder bei dir.”

„Bei mir? Was ist mit dir?”

Aber darauf antwortete er mir schon nicht mehr. Er kniete neben Moréaval nieder und strich die Nachtblumenranken beiseite, die seinen verletzten Hals bedeckten. Unter seinen Fingern begann das rote Unkundigenblut wieder zu fließen, aber diesmal sang Yalomiro Fleisch und Adern wieder heil.

Ich blieb stehen und schaute nachdenklich auf ihn hinab. Bis zur Erschöpfung seiner Magie musste er durch die Schatten gerannt sein. Kaum hier angekommen, linderte er einen kindischen Nervenzusammenbruch und heilte eine potenziell tödliche Wunde. Auf Dýamirées Entführung reagierte er bemerkenswert gelassen, vielleicht, weil er die Zusammenhänge verstand. Das war Yalomiro, wie ich ihn kannte und so innig liebte. Besonnen, hilfreich, gütig.

Aber was waren das für Dornen gewesen, die seine maghiscal vorgebracht hatte?