Die sinora hatte kaum schlafen können. Viel zu viel Lärm veranstalteten die Nachbarn, die in ihrer Villa wieder einmal die Nacht zum Tag machten. Früher, als junge fánjula, nein, noch als reife Frau hatte sie gern dabei mitgetan, erinnerte sich an jene Zeiten, zu denen das Leben ihr als viel zu kurz vorkam, um lange zu schlafen. Wie viele durchtanzte Nächte hatte es damals gegeben, und wie unendlich war ihr die Jugend erschienen.

Nun stand sie am Fenster und schaute hinüber, wo hinter der Mauer der Garten mit Laternen geschmückt war und Gelächter, lautes Reden und Rufen und Musik erschallte. Offenbar hatten die Nachbarn Musikanten mit Trommeln und lauten Dudelsäcken engagiert. Neumodische Klänge, viel zu laut und wild für ihren Geschmack, aber nicht ganz ohne Reiz.

Sie seufzte. Sie hätte die Autorität gehabt, auf mehr Ruhe zu bestehen, denn sie war eine der Mächtigen in der Stadt. Aber was sollte sie den jungen Leuten die Freude und Lasterhaftigkeit verbieten? Eines Tages würden die, die jetzt laut feierten, innehalten und sich fragen, wohin sie ihre Jugend verschwendet haben. Der Kreis würde sich schließen.

Außerdem konnte sie ohnehin nicht schlafen. Was nutzte ihr da die Stille?

So wurde sie Zeugin, wie Saháalírs Sänfte vor ihrem Tor halt machte. Der Besuch zu dieser späten, oder vielmehr ungewohnt frühen Stunde verwirrte sie, machte sie zugleich munter und neugierig. Die Gesellschaft des lieben Freundes war ihr immer sehr angenehm. Wenn sie beide noch fünfzig oder sechzig Sommer jünger wären …

Einsam, war sie, seit ihr hýardor vorangegangen war, um sie hinter den Träumen zu erwarten. Dreißig Sommer war das nun her. So lange Zeit …

Die sinora ging vorsichtig, tastend hinüber zu ihrem Frisiertisch, setzte sich ihre Perücke auf und warf sich ihren kostbaren Hausmantel über. Sie hielt nachdenklich inne, tupfte sich aus einem Flakon noch rasch ein wenig betörendes Duftwasser auf und beeilte sich dann, hinab in die geschmackvoll geschmückte Halle zu kommen. Bis sie die Treppe aus weißem Marmor dorthin bewältigt hatte, hatten ihre Hausdiener Saháalír und seine Begleiter bereits empfangen und für den alten Mann einen Tragstuhl herbeigeschafft.

„Saháalír!”, rief sie aus. „So früh am Tag! Was verschafft mir das Vergnügen?”

Der alte Mann lächelte bei ihrem Anblick. Sie zu dieser Zeit wach anzutreffen überraschte ihn wohl nicht. Sie hatte sich oft mit ihm über die Schlaflosigkeit ausgetauscht.

Sie begrüßten einander herzlich. Er bemerkte den Duft, wie sie amüsiert feststellte, aber er schien etwas Dringendes auf dem Herzen zu haben.

„Ich habe hier etwas,” sagte er, „das du dir anschauen solltest. Gibt es hier einen Ort, wo wir ungestört sind?”

„Im Garten”, schlug sie vor. „Sie feiern nebenan wieder so laut, dass niemand horchen kann.”

Die sinora scheuchte ihre Dienerschaft voraus, um ihrerseits in der weinumrankten Laube draußen etwas Licht mit Laternen zu machen und Getränke bereitzustellen. Kurz darauf saß sie mit gepolsterten Kissen auf der Gartenbank, er auf seinem Stuhl neben ihr.

„Úldaise war bei mir”, sagte er, nachdem sich die Hausdiener entfernt hatten. „Er hat den báchorkor gepackt.”

„Mögen die Mächte gnädig mit dem jungen Burschen sein”, sagte sie. „Schade. Zu gern hätte ich einer Geschichte von ihm gelauscht.”

„Hast du von dem Brand in den Hügeln gehört?”

„Eines der Mädchen erzählte davon, ja. Es schien ja schnell wieder unter Kontrolle gewesen zu sein, soweit man es von den Mauern beobachten konnte.”

„Es war Úldaises Garten.”

Nun war sie verwirrt. „Úldaise hat einen Garten? Seit wann?”

„Schon immer. Mindestens seit …” Saháalír runzelte die Stirn. „Seit ich denken kann. Ich entsinne mich gar nicht, wann er das Grundstück gekauft hat. Aber was soll’s auch. Er hat ja niemals etwas daraus gemacht.” Er nahm einen Schluck von dem sehr stark verdünnten Wein, den man ihnen gebracht hatte. Ein stärkeres Getränk vertrugen sie beide nicht mehr. „Er behauptet, der báchorkor sei das gewesen.”

„Nein! Warum?”

„Nun”, sagte der Greis leichthin , „offenbar will der Bursche Aurópéa brennen sehen, und den Mob den Palast überrennen und den konsej stürzen. Oder etwas in der Art. Ein Wahnsinniger, oder jemandes dienstbarer Handlanger.”

„Bei den Mächten!” Nun war sie erschrocken. „Ist das wahr, Saháalír?”

„Nein.” Der sinor schüttelte den Kopf. „Es ist reiner Unfug. Es ist einiges an Lügen im Umlauf.”

Sie setzte den Becher neben sich ab und musterte ihn fragend. Er nestelte an seinem Mantel, förderte aus einer der Taschen die kleine kristallene Spielfigur zutage. Er setzte den Miniaturmagier neben den Weinbecher auf die Bank.

„Wie schön”, sagte sie. „Du hast die Figuren zurück. Dann hat er sie tatsächlich gestohlen?”

„Ich habe nur diese eine. Möglicherweise sind die anderen verloren. Aber das ist nicht alles. Schau dir das an.” Er gab ihr ein Wachstäfelchen in die Hände und reichte ihr seinen kostbaren Lesestein hinüber.

„Was ist das?”, fragte sie, als sie gelesen hatte.

„Ich denke, der báchorkor will uns damit etwas mitteilen. Da stimmt etwas nicht. Úldaise benimmt sich sehr verdächtig. Er behauptet, der junge Bursche habe sich selbst die Zunge verletzt und war sehr eifrig dabei, zu lesen und Geschriebenes zu löschen. Ich glaube, er war äußerst nervös.”

Die sinora schaute nachdenklich zu ihm hinüber. Im Garten nebenan tobten die Jugend und der Übermut.

„Diese seltsame Einladung der fajía. Kurz darauf brennt sein Garten. Und der Dieb, den es galt, dingfest zu machen, lässt sich nicht verhören. So viel sonderbare Begebenheiten zugleich.”

„Hat der báchorkor das hier geschrieben?”

Saháalír nickte und nippte an seinem Becher.

O Aurópéa, in Demut klage ich um deine Vergebung, um Stille und Starre am Kwell deiner Macht. Hütet Euch, o Rechtschaffene, mein Los zur Gemahnung.” Sie las die Zeilen wieder und wieder. „Ich verstehe nicht.”

„Und ich verstehe nicht, wieso ein Mann, dem ein grausames Ende vor Augen ist, etwas so Seltsames niederschreiben sollte.” Saháalír schaute mit trüben Augen in die Richtung, den der die Trommeln und Tröten zu wilden Tänzen aufstachelten. „Zuerst dachte ich, er zitiert einen der großen Dichter, aber ich entsinne mich nicht. Ich dachte, du könntest mit diesen Worten etwas anfangen, belesen, wie du bist.”

„Nein, Es ist nichts, was ich schon einmal gelesen hätte, obwohl es danach aussieht.” Sie schüttete bedauernd den Kopf. „Ich bin vergesslich und alt.”

„Aber nicht doch, meine Liebe. Wenn einer hier alt und töricht wäre, dann ich.” Er lächelte sie charmant an und fügte nachdenklich hinzu: „Úldaises Verhalten hingegen, das erscheint mir seit einigen Tagen mehr als sonderbar. Es schien mir, dass es ihm nicht passte, mir den dreisten Dieb vorzuführen, wie er mir versprochen hatte. Schon als ich ihn vorgestern darum bat, schien es ihm lästig.”

Sie horchten eine Weile der lauten, treibenden Musik von nebenan.

„Wenn er sich nur den Anschein gibt, sich mit den Worten eines großen Dichters hervorzutun”, sagte die sinora schließlich, „dann vielleicht, weil er befürchten musste, dass klare Worte gefährlich sind.”

„Sicher”, sagte Saháalír. „Hätte Úldaise diese Botschaft gelesen, er hätte sie für das Gestammel eines verzückten Dichters gehalten.”

„Können wir den jungen Mann retten?”, fragte sie nachdenklich. „Oder ihm ein paar Tage Aufschub verschaffen?”

„Nein. Wir haben Úldaise die Gewalt über diese Dinge gegeben. Wir können nicht nach unserem Gutdünken Milde walten lassen. Der báchorkor gehört der Wüste. Retten können ihn allenfalls noch die Mächte.”

„Aber er hat dir das hier mitgeteilt.” Sie lauschte. Die Musik gefiel ihr plötzlich auf eine sonderbare Weise. Sie fühlte sich jünger, angeregt. „Er hat eine Botschaft.”

„Hast du Freude an Rätseln?”

„Ich liebe Rätsel. Das weißt du doch und deswegen bist du hier.”

Saháalír lächelte. „Nun, dann lass uns die Worte entschlüsseln.”

***

Láas und Jándris ließen sich erschöpft auf der Treppe nieder. Manjév schaute die beiden betreten an.

„Es hat keinen Zweck”, sprach Láas es schließlich aus. „Diese Tür ist unzerstörbar.”

„Aber wie kann das sein?”, fragte sie bang.

„Zauberei.” Jándris betrachtete traurig seinen verbogenen Streithammer.

„He”, rief es aus dem Turmzimmer, „seid ihr etwa schon fertig?”

„Wir ruhen uns nur einen Moment aus, Wiegenkind!”, gab Láas gereizt zurück.

Jándris erhob sich. „Ich gehe und besorge uns neue Äxte.”

„Bleib hier! Das bringt doch nichts.”

„Ich hätte mir denken können, dass das nichts wird”, sagte Merrit im Gemach. „Ich hab’s ja hier drin auch schon versucht.”

„Dann ist diese Stube verzaubert”, sagte Osse Emberbey sachlich. „Deswegen all diese Heimlichtuerei.”

Die vier Kinder schwiegen einen Moment. Dann wandte Jándris sich seufzend um. „He, Althopian. Es führt wohl kein Weg daran vorbei. Wie machen wir es? Wirfst du was runter und lässt uns in Unschuld?”

„Ich kann nichts werfen. Die Läden sind zu.”

„Was? Warum?”

„Weil … das ist eben so.”

„Warum hast du Idiot die Läden zugemacht, wenn schon die Tür blockiert war?”, zürnte Láas.

„Deswegen! Ich muss dir das nicht erklären!”

„Hört auf!” Manjév trat zwischen ihre beiden künftigen Ritter und hob die Hände. „Ich bin verantwortlich für all das. Ich gehe zu meinen Eltern und werde es bekennen. Ich hätte es sofort tun müssen.”

„Damit”, gab Osse zu bedenken, „wird die Sache nicht besser, Majestät.”

„Ich bin bereit, für meine Unbedachtheit einzustehen wie eine echte teiranda!”, sagte sie zornig. Gerade eben hatte sie sich dazu gebracht, zu ihrem bösen Denken zu stehen, da schlug der neu hinzugekommene Junge dazwischen!

„Das ehrt und adelt Euch”, entgegnete er ruhig. „Aber was sollten Eure Eltern tun, was wir nicht versucht hätten? Von Eurem Geständnis öffnet sich diese Tür auch nicht.”

„Und was schlägst du stattdessen vor?”, fragte sie wütend.

„Wenn es Magie ist, die diese Tür schließt”, antwortete er, „und es Meister Yalomiro war, der sie öffnen konnte, dann ist es sein Zauber.”

„Möglich”, sagte Jándris.

„Sicher”, verbesserte Láas.

„Und ganz gewiss hat Meister Yalomiro nicht gewollt, dass jemand eingeschlossen wird. Es war sicher eine Unachtsamkeit oder ein Zufall. Oder”, er warf einen ersten Blick auf die Jungen, „eine Fügung. Als ihr gehört habt, dass die Tür ausnahmsweise einmal offen ist, habt ihr die Gelegenheit sofort genutzt, nicht wahr?”

„Wir haben nicht gewusst, dass die Tür nicht wieder aufgehen würde”, beteuerte Láas. „Wirklich nicht.”

„Schau, wenn wir damit gerechnet hätten, dann hätten wir die Tür doch nicht verbarrikadieren müssen.”

„Warum war die Tür denn überhaupt offen?”, fragte Merrit, der offenbar gut mithören konnte.

„Die teiranday haben hier mit Meister Yalomiro geredet. Aus irgendeinem Grund schien ihm wohl dieses Zimmer bedeutsam dafür zu sein.”

„Eine geheime Unterredung. Du musst uns das glauben”, beteuerte Jándris. „Wir wussten nicht, dass das ein verfluchtes Zimmer ist. Wir dachten uns nur, hier oben sucht dich niemand.”

„Dann waren diese Geschichten von dem Schatz, der Mordtat und der verrückten Verwandten also nur Rederei?”

„Es hat funktioniert, oder nicht?”

Osse schüttelte missbilligend den Kopf und wandte sich an die teirandanja. „Herrin …. was hat es mit diesem Raum auf sich? Was wisst Ihr darüber?”

Sie seufzte unglücklich. „Nichts. Sie reden nicht mit mir darüber. Der Boden sei morsch, hieß es. Es sei gefährlich, hinein zu gehen. Deshalb sei immer zugesperrt.”

„Merrit? Was ist wirklich dort drin, in dem Gemach?”

„Jemand hat hier gewohnt. Hier sind Möbel und gibt hier ganz viel Kräuterzeug, wie … wie im Haus von Isan. Du kennst doch Isan, Osse? Die doayra?”

„Natürlich.” Mehr sagte Osse nicht dazu.

„Und einen Schatz gibt es hier drinnen auch. Du hast Recht gehabt, Altabete!”

Nun schaute Jándris verdutzt drein. „Tatsächlich?”

„Ich hab einen riesigen Edelstein in der Hand. Schade, dass ihr den nicht sehen könnt.”

Láas tippte Jándris auf die Schulter und schüttelte den Kopf. „Der will uns veralbern”, raunte er.

„Es könnte uns helfen, zu wissen was es mit diesem Zimmer auf sich hat, Majestät. Wer einst darin lebte, und warum Meister Yalomiro es mit einem Zauber belegt hat. Denkt Ihr, Ihr könntet das in Erfahrung bringen, wenn Ihr die richtigen Fragen stellt?”

Sie überlegte einen Moment. Dann sagte sie: „Láas, Jándris … begebt euch zur Ruhe. Ihr seid von dieser Sache entbunden. Ich werde niemandem sagen, dass ihr mit dabei wart. Ich nehme es auf mich.”

„Aber Manjév!”

„Bitte. geht und seht zu, dass es nicht noch mehr auffällt. Schlaft noch eine Weile und lasst mich die Dinge regeln. Haltet Eure Väter und yarl Althopian vom Turm fort. Ich werde sehen, was ich derweil tun kann.”

„Manjév, du …”

„Das ist ein Befehl. Und nehmt dieses Gerümpel und das Waffenzeug mit und versteckt es im Keller. Beeilt euch.”

Die beiden machten kurz den Anschein, als wollten sie ihr widersprechen. Dann aber packten sie schweigend die Hälften der Lanze, Hammer und Axt zusammen und machten sich daran, die Treppe hinabzusteigen.

Manjév seufzte. Dann setzte sie sich vor die Tür und lehnte sich an. Die verstörende Gegenwart des Jungen im Zimmer spürte sie trotz der Magie, die sie voneinander trennen mochte. Sie stellte sich vor, dass er auf der anderen Seite, ebenso angelehnt saß. Wie mochte es sich anfühlen, allein und ausweglos in einem düsteren Zimmer eingesperrt zu sein?

„Ich muss es bekennen”, vertraute sie ihm an. „Ich habe mich dumm und eigensüchtig benommen. Aber ich hab nicht gewollt, dass so etwas passiert.”

„Majestät”, klang es hinter der Tür, „was habe ich getan, dass Ihr so ungnädig seid?”

„Ich weiß nicht, wie ich dir das erklären soll. Du kannst sicher überhaupt nichts dafür. Es kam über mich. Ich hatte Angst. Und je länger ich darüber nachdenke, desto weniger verstehe ich es.”

„Majestät”, fragte er, höflich, schüchtern, wie sie es nicht erwartet hätte. „Habe ich Euch Angst gemacht?”

Sie schaute zu Osse Emberbey auf. Der hielt die verbliebene Laterne und hörte geduldig, mit unbewegter Miene zu.

„Ich hab es mir gewünscht”, raunte sie. „Ich hab mir gewünscht, dass er dauerhaft von mir fortbleiben soll und mir nie zu nahe kommt.”

„Und es hat sich erfüllt”, bestätigte Osse.

„Ich wollte das nicht. Nicht so.”

„Vielleicht”, sagte Merrit plötzlich nachdenklich, „ist das so etwas wie eine Kammer, in der sich Wünsche erfüllen.”

Manjév stutzte. „Hast du da drinnen denn etwas gefunden, was ein Wunsch von dir ist?”

Hinter der Tür blieb es einen Augenblick lang still. „Ja,” sagte er dann. „Aber ich fürchte mich ein wenig davor.”

Sie schwiegen wieder eine Weile.

„Merrit Althopian?”, fragte sie schließlich.

„Majestät?”

„Kannst du mir verzeihen, was ich dir angetan habe?”

Eine Weile musste sie auf seine Antwort waren. „Ich will der treueste und ergebenste Eurer Ritter sein”, ließ er sie dann wissen. „Wenn ihr mich nur nicht verstoßt.”

Osse ließ sich neben der teirandanja auf ein Knie sinken. „Majestät”, wisperte er, sodass man es im Gemach bestimmt nicht hören konnte, „bitte, redet mit Euren Eltern, ganz im Geheimen, sodass keiner der yarlay es erfährt. Es kann so nicht lange bleiben.” Er schaute sie eindringlich an und flüsterte: „Er hat nicht einmal etwas Wasser da drinnen. Sein Leben wird bald in Gefahr gerate.”

Sie nickte. Er gab ihr die Laterne in die Hand. „Geht, Majestät. Lasst uns nicht zu lange allein.”

„Uns?”

„Ich bleibe bei ihm. Ich lenke ihn von den Wünschen ab, die ihn ängstigen.”

Sie nickte und entfernte sich eilig. Osse hörte, wie ihre Schritte sich auf der knarzenden Treppe hinab bewegten.

„Osse?”

„Sie sind weg. Es kommt bald Hilfe.”

„Aber du bleibst da?”

„Natürlich. Ich sitze hier direkt bei dir.”

In der Stube blieb es einen Moment still. „Ich habe Angst”, gestand Merrit.

„Angst? Du?”, fragte Osse. „Was könnt einem wie dir Angst machen?”

„Ich glaube”, klang es leise, fast verzagt, „ich bin hier drinnen nicht allein.”

***

Der Mond war über den Montazíel hinweg gezogen. Im Norden dauerte die Nacht noch an, während ganz am Rande des Horizonts die Dunkelheit bereits verwischte. Zu dieser ungewöhnlichen Stunde schlurfte Siledaú durch das immer geöffnete Burgtor des Cielástel und an der Nische vorbei, wo der Indigofarbene wachte.

„Wo kommst du her?”, fragte der arcaval’ay. „Wir haben und bereits Gedanken gemacht!”

Sie blieb ungeduldig stehen. „Woher soll ich kommen? Ich hatte für Elosál Besorgungen zu machen, und jetzt brauche ich Ruhe.”

„Besorgungen? Bis jetzt am frühen Morgen hast du gebraucht, um für die Meisterin den Brief abzuliefern?”

Sie verharrte einen Moment und schnaubte abfällig auf. „Denkst du, mit einem Brief ist es getan? Hast du eine Ahnung, wie viele neugierige Fragen dieser dumme Brief mit sich gebracht hat?”

„Dumme Fragen? Wer hat denn Fragen gestellt?”

Sie setzte zu einer Antwort an, besann sich aber. „Ich denke, es reicht aus, wenn die Meisterin davon weiß. Der sinor hat die Einladung bekommen, und mehr geht mich nicht an.”

Der Indigofarbene zuckte die Achseln. „Nun gut. Es ist ja nicht meine Sache, was du bis tief in die Nacht bei den Unkundigen treibst. Aber der Weg hierher im Dunklen, zu Fuß …. du bist bemerkenswert, Siledaú. Aber warum bist du nicht über Nacht in der Oberstadt im Gästehaus geblieben?”

„Und mich da ausrauben lassen? Das Gesindel ist überall, unten hinter den Mauern und oben auf dem Hügel. Es ist nicht meine Schuld, dass von Euch keiner die Stadt betreten darf! Vielleicht solltet ihr mit dem sinor eine Absprache treffen, was das betrifft, anstatt gebrechliche Frauen wie mich loszuschicken.” Sie ließ ihn stehen, schimpfte noch eine Weile vor sich hin, besann sich dann und drehte sich zu ihm um. „Hat man etwas von Cýelú gehört, während ich fort war?”

„Ja. Die Meisterin sagt, sie spürt ihn. Morgen vor dem Mittag erwartet sie ihn, so die Mächte wollen.”

Vor dem Mittag? Schon?”, fragte sie und wurde mit einem Mal ganz bedacht.

„ Du weißt, wie eng die Meisterin mit ihm verbunden ist. Sie weiß immer, wie weit er von ihr entfernt ist. Perlenglanz ist ein schneller Flieger. Wenn er sich sputet, ist er vielleicht schon in Sicht, wenn die Sonne über die Mauer steigt. Der Wind kommt seit der Nacht von Norden und greift dem Tier unter die Flügel, das macht es noch schneller. Stimmt etwas nicht?”

„Was soll nicht stimmen?”, fauchte sie gereizt.

„Es scheint, dass du mit etwas anderem gerechnet hast”, sagte er.

„Pah! Gut, wenn Cýelú sich endlich wieder hier auf seine Pflichten besinnt und sich wieder um die Ordnung kümmert. Der Junge verwildert ja ganz und gar.”

„Immerhin hat er etwas gelernt heute Nacht”, sagte der Ritter belustigt.

„Ja, wie man in der Asche schnüffelt wie eine Glutechse”, sagte Siledaú bissig und wollte weiter.

„Woher weißt du das?”

„Was?”

Der Indigofarbene verschränkte die Arme. „Woher weißt du, dass er bei dem Brand in den Hügeln dabei war?”

Siledaú erstarrte, aber nur für einen sehr kurzen Moment.

„Es spricht sich herum”, behauptete sie. „Es haben ihn Unkundige gesehen, die gaffen waren. Man fragt sich, wir verantwortungslos die arcaval’ay sind, kleine Jungen in solche Gefahr zu bringen.”

„Die Unkundigen”, lachte der Ritter. „Was soll dem Jungen denn zustoßen, wenn wir dabei sind. Mir scheint, sie sind wirklich nur zufrieden, wenn sie über uns herziehen können, nicht wahr?”

„Unkundige sind einfältig und tratschsüchtig”, stimmte Siledaú ihm zu. „Was denkst du, was erst geschähe, wenn die arcaval’ay wieder in Aurópéa Einzug hielten und mit ihnen wären?”

„Das möge Pataghíu verhüten”, sagte der Regenbogenritter und zog sich wieder in seine Wächternische zurück. „Das muss ich nicht noch einmal erleben. Gute Nacht, Siledaú. Oder besser – guten Morgen.”

„Mögest du sicher in den Träumen sein und nicht zu weit schreiten”, grüßte sie säuerlich zurück und stapfte auf den Turm zu. Dabei wurde ihr bewusst, wie lächerlich dieser Wunsch war.

Regenbogenritter schliefen niemals. Nicht die sieben. Und wenn Cýelú noch schlafen sollte, dann mochte er einen ruhigen Schlummer genießen. Zeit sollte er sich lassen. Lange genug, bis das Spektakel beendet wäre.

Eines nach dem Anderen.