
Autorinnenvorbemerkung: Bitte beachtet den Kommentar am Kapitelende.
„Was soll das heißen – sie ist weg?”, fragte Jándris, als Láas sich keuchend neben ihm auf den Stufen niedersinken ließ. Der Junge hatte die Distanz zwischen dem Stiegenhaus der Gastunterkünfte und Wohnstuben der yarlay in so beachtlich kurzer Zeit zurückgelegt, dass Jándris nicht einmal mit der Hälfte seiner Botschaft fertig geworden war.
„Sie muss aufgestanden und herausgelaufen sein, kaum dass ich sie zugedeckt und das Nachtlicht angezündet hatte”, schnaufte Láas.
„Das geht doch nicht mit rechten Dingen zu, dass hier ständig irgendwelche Kinder verschwinden!”, zürnte Jándris mit gesenkter Stimme und erhob sich. „Komm mit. Weit kann sie nicht sein.”
„Sollen wir es meiner Schwester sagen? Oder wenigstens der opayra?”
„Bist du närrisch? Wie viel Ärger willst du denn noch bekommen! Die opayra will ich nicht zur Feindin haben! Wir stöbern sie auf und bringen sie zurück ins Bett!”
„Lass mich wenigstens kurz zu Atem kommen!”
Jándris stöhnte unwillig, aber dass sie nicht sofort beide den Platz verließen, war ihnen letztlich von Nutzen. Der junge Emberbey, in schlichtem honigfarbenem Hausgewand, verließ den Gastbereich und betrat die Treppe. Er führte Tíjnje, barfuß und im Hemdchen, an der Hand.
„Den Mächten sei Dank!” Láas stieß einen Stoßseufzer aus und erhob sich seinerseits wieder.
„Hallo”, sagte Tíjnje unbekümmert. „Da seid ihr ja. Siehst du”, wandte sie sich stolz an ihren Begleiter. „Das sind mein Onkel und sein Freund. Seid ihr fertig mit eurer Abendtüre?”
„Womit?”
„Na, mit dem, was ihr vorhattet!”
„Tíjnje! Was läufst du nachts umher und belästigst die Gäste der teiranday?”, schimpfte Láas hastig. „Sofort bringe ich dich wieder nach oben!”
„Ich wollte ihn ja nur was fragen!”
„Du gehst augenblicklich wieder schlafen und bleibst in der Kemenate! Und wenn ich dich festbinden muss! Was denkst du dir eigentlich!”
„Du bist auch noch nicht im Bett!”, protestierte das kleine Mädchen. „Das sag ich Opa!”
„Ich bin zehn Sommer älter als du!”
„Jetzt haltet doch alle den Mund!”, zischte Jándris dazwischen. „Es muss ja nicht jeder wissen, dass wir noch wach sind!”
„Ihr habt ein Problem, nicht wahr?”, brachte der bebrillte Junge sich höflich in Erinnerung.
„Was? Ach ja … danke, dass du sie zurückbringen wolltest.” Jándris wandte sich ihm zu und grinste verlegen. „In diesem Alter sind kleine Kinder kaum zu hüten. Das kennst du sicher auch von …” Er verstummte und blickte ertappt auf den wohlbekannten Brief, den der Junge ihm wortlos vorhielt.
„Wo hast du das her?”, fragte er tonlos.
„Es wurde gefunden.”
„Tíjnje!”, entfuhr es Láas entsetzt, als er begriff, was da gerade geschah. Aber das Mädchen schien sich keiner Schuld bewusst.
„Wieso hast du nicht besser darauf aufgepasst!”, fragte Jándris ihn wütend.
„Ich dachte, du hast ihn!”
„Ich muss ihn … bei den Mächten! Ich hab gar nicht gemerkt, dass er weg ist!”
Die beiden starrten einander einen Moment wütend an und wandten sich dann verlegen dem anderen Jungen zu.
„Ich musste es lesen, um herauszufinden, an wen das Schreiben gerichtet ist. Hier. Nehmt es zurück.”
Jándris griff verblüfft zu. „Danke. Das … ist sehr anständig von dir.”
„Ja”, sagte Láas kleinlaut. „Du hättest damit zu yarl Althopian gehen können. Dann wäre es jetzt um uns geschehen.”
„Ich denke, davon hätte niemand einen Nutzen.” Er schaute sich nach dem Gang um, aber es war niemand auf der Treppe zu sehen. Unten in der Halle wurde noch geredet und gelacht.
„Und? Habt ihr ihn den Ratten vorgeworfen, wie die teirandanja es geboten hat?”
„Hör mal”, sagte Jándris unbehaglich. „Du kannst dir nicht vorstellen, wie unangenehm diese ganze Sache uns ist!”
„Doch, das kann ich. Wenn ihr ehrenhafte yarlay werden wollt wie eure, mein und sein Vater, steckt ihr in der Klemme. Was habt ihr vor?”
Die älteren Jungen wechselten stumme Blicke miteinander, aber die Sache war klar. Es blieb ihnen nichts weiter übrig, als den Jüngeren einzuweihen.
„Wir müssen mit der teirandanja reden. Dringend. Wir haben ihr gehorcht. Jetzt muss sie ihren Zorn beenden, solange es noch unter uns bleibt.”
„Aber wir kommen nicht zu ihr. Der teirand lässt ihre Tür bewachen. Wir können nicht um diese Zeit zu ihr, ohne dass jemand fragt, warum.”
„Deshalb wollten wir Tíjnje vorschicken.”
„Ach”, sagte das Mädchen schnippisch. „Dafür bin ich euch gut genug?”
Osse Emberbey ließ sich nicht beirren. „Ist Merrit Althopian in Gefahr?”
„Nein. Nur … stillgesetzt.”
„Ihr habt ihn irgendwo eingesperrt?”
Láas wollte antworten, aber Jándris kam ihm zuvor. „Ja. Aber wir sagen dir nicht, wo.”
„Weil ihr Angst habt, ich könnte es weitersagen?”
„Es ist nicht so, dass wir dir misstrauen,” versicherte Láas. „Es ist nur …”
„Wir kennen dich eben nicht.”
„Nun gut. Was muss geschehen?”
„Na ja”, sagte Láas. „Das Beste wäre, wenn die beiden einander gegenüber stünden und er sie für seine Unverschämtheit um Gnade bittet.”
„Das macht sie nicht”, sagte Tíjnje, die wahrscheinlich nur die Hälfte des Gespräches verstand und sich den Rest zusammenreimte. „Sie findet ihn ganz unglaublich blöd.”
„Ich denke, sie ist milder, als sie sich in diesen Zeilen gibt”, sagte Osse Emberbey freundlich und schaute dann die beiden Jungen prüfend an.
„Euch steht also der Wachmann vor ihrem Gemach im Weg?”
„Wir haben überlegt, wie wir ihn weglocken können. Aber das ist nicht so leicht, ohne dass er etwas davon merkt, dass wir dahinter stecken.”
„Habt ihr Zutritt zur Küche?”
„Zur Küche? Was hat die Küche damit zu tun?”
„Habt ihr oder nicht?”
„Natürlich”, gab Jándris zu. „Wir haben die nächsten Tage Tischdienst.”
„Gut.” Osse Emberbey ließ sich einige Stufen unter ihnen auf der Treppe nieder. Láas und Jándris setzten sich ebenfalls wieder. Tíjnje zögerte kurz und hockte sich mit ihrem Schmusetier zu den Jungen. Niemand schickte sie weg.
„Ich denke, der Wachmann hat eine langweilige Nacht vor sich”, bemerkte Osse sachlich. „Vielleicht freut er sich, wenn jemand ihm etwas zu trinken bringt, falls er Durst bekommt.”
„Einen Krug Wein?”, fragte Láas aufgeregt. „Damit er betrunken wird und einschläft? Wie in der Geschichte vom Eisernen Krieger und…”
„Nein. Er darf im Dienst nichts Geistiges trinken. Er wird also entweder der Versuchung widerstehen, und das nützt euch nichts. Und wenn nicht, dann hättet ihr im Haus eurer teiranday einen ihrer eigenen Knechte überlistet. Das macht euch auf alle Zeiten nicht mehr vertrauenswürdig. Reicht es euch nicht, wenn er für einen Moment seinen Posten verlässt?”
„Natürlich”, sagte Jándris. „Lass hören.”
„Bringt ihm einen großen Krug Essig- oder Obstwasser. Und vielleicht ein Schälchen mit der salzigsten Knabberei, die ihr auftreiben könnt. Und dann wartet einfach. Früher oder später muss er es wagen, seinen Posten zu verlassen, um …” Er warf einen Blick auf den kleine Mädchen, das aufmerksam zuhörte. „Nun, er wird das Bedürfnis haben, kurzzeitig einen anderen Ort aufzusuchen.”
„Klar”, kicherte Tíjnje. „Sonst müsste er vor Manjévs Tür auf den Teppich strullern. Weißt du, Osse, es gab hier mal ein Schoßhündchen, das hat …”
„Tíjnje! Das interessiert den yarlandor doch wirklich nicht!”, unterbrach Láas peinlich berührt. Und zu Osse sagte er: „Du hast gute Ideen.”
„Ich bin noch nicht am Ende. Die Tür wird nur ganz kurz unbewacht sein. So schnell könnt ihr gar nicht erklären, was ihr vorhabt. Ihr müsst die yarlaranda mit einer Botschaft voranschicken, damit die teirandanja vorbereitet ist. Darf ich sehen, was du geschrieben hast?”
Jándris reichte ihm das Wachstäfelchen. Osse schaute darüber. Dann strich er kopfschüttelnd die wenigen Zeilen aus und streckte fordernd die Hand aus. Es dauerte einen Moment, bis der ältere Junge begriff, dass er den Griffel haben wollte.
„Während der Wachmann seinen Posten verlässt”, erklärte Osse ruhig, während er mit beeindruckendem Geschick und Schnelligkeit schrieb, „muss die teirandanja aus ihrer Kemenate hinaus. Geht ihr, besorgt das Zeug aus der Küche und geht weg von hier. Ihr teilt euch doch wahrscheinlich eine Kammer?”
„Ja, natürlich”, gab Láas zu. „Ein Knappenquartier, unten im Nebenhaus, damit wir auch nachts nahe am Stall sind.”
„Wartet dort eine Weile und geht dann in den Garten, in die Laube. Ich bringe euch die teirandanja.”
„Warum du?”, fragte Láas argwöhnisch.
„Weil mein Vater und ich zurzeit in der Stube nebenan wohnen. Wenn ich bei der Tür wache, bemerke ich, wenn der Wachmann fortgeht. Das ist weniger verdächtig, als wenn ihr hier die halbe Nacht auf der Treppe den Leuten im Weg sitzt.”
„Stimmt”, murmelte Láas.
„Und damit die teirandanja weiß, was sie zu tun hat, übernimmt die junge yarlaranda jetzt den allerwichtigsten Teil der Abendtüre”, sagte Osse und gab dem kleinen Mädchen die Wachstafel. „Hier. Es ist ganz wichtig, dass die teirandanja das hier bekommt. Du gibst es ihr und gehst dann wieder schlafen. Kannst du das tun?”
„Natürlich”, sagte Tíjnje empört. „Ich bin doch kein Wiegenkind! Was steht da?”
„Das ist geheim.”
Tíjnje zog eine Schnute. „Nein, das ist gemein. Nie sagt mir jemand etwas!”
„Die großen Jungs wissen es auch nicht”, sagte Osse gelassen. „Ich habe sie es nicht lesen lassen. So geheim ist es. Nur für die teirandanja.”
Tíjnje stutzte. Dann grinste sie voller Genugtuung.
„Ich geh in die Küche!” Jándris sprang auf. „Bis gleich!”
Tíjnje tapste auf ihren bloßen Füßchen ebenfalls los. Osse und Láas eilten ihr nach.
„Ich muss jetzt doch noch einmal mit der teirandanja reden”, sagte die Kleine wichtig zu dem Wachmann. „Aber es ist ein Geheimnis. Ein ganz dringendes! Ganz kurz nur!”
Die Jungen beobachteten, wie der gutmütige junge Kerl an der Tür klopfte, wartete und dann tatsächlich durch den Spalt einige Worte mit der teirandanja wechselte. Dann schlüpfte Tíjnje hinein.
„Ich bringe sie gleich wieder zu Bett”, sagte Láas beschwichtigend. „Es ist unglaublich, was kleine Mädchen zu den sonderbarsten Zeiten zu schwatzen haben, nicht wahr?”
Der Wächter grinste zustimmend. Vielleicht hatte er selbst jüngere Geschwister. Osse verneigte sich und schickte sich an, zurück in das Gastquartier zu gehen. Aber Láas hielt ihn zurück.
„Du steckst jetzt bis zum Hals mit in dieser Sache, Eulengesicht! Weißt du das?”
„Ich helfe euch, um meinem Freund zu helfen. Und um meine teirandanja vor Dummheiten zu bewahren.”
„Wenn das alles gelingt, ohne dass einer von uns bestraft wird …”, sagte Láas.
„Ich versuche mein Bestes”, entgegnete Osse. Dann löste er sich aus dem rauen Griff des älteren Jungen und ging würdevoll davon.
***
Manjév war zu gleichen Teilen erstaunt und erfreut über die unerwartete Ankunft des kleinen Mädchens. „Was machst du hier?”
„Ich muss dir was ganz wichtiges geben. Wegen der Abendtüre.” Sie hielt dem älteren Mädchen stolz die Wachstafel hin. Manjév nahm sie mit zu dem Tischchen, wo die Nachtlaterne stand.
„Das ist Jándris’ Tafel”, sagte sie mit Blick auf das ins Holz eingebrannte Wappen. „Ist er hier?”
„Er hat mit Láas auf der Treppe gesessen. Ich glaube, sie haben gezankt. Aber Osse hat sie wieder beruhigt.”
„Osse? Was hat der junge Emberbey mit den beiden zu schaffen?”
„Er hat das da geschrieben.”
Manjév schaute auf die Kratzer im Wachs. Die Handschrift des Jungen war, selbst ausgeführt mit einem so primitiven Schreibzeug, akkurat und sauber. Aber die Worte waren rätselhaft.
Begleitet uns ins Freie, stand da. Ihr müsst bösen Gehorsam vereiteln.
„Bei den Mächten”, sagte sie bestürzt und beschämt. Nun wusste also auch der wunderliche Junge aus dem fernen yarlmálon am Meer von dem Unrecht, das sie kraft ihrer Befehlsgewalt verübt hatte. Was bei den Mächten hatten Láas und Jándris für sie getan? Lebte Merrit Althopian überhaupt noch?
„Was steht denn da?”, fragte Tíjnje neugierig.
Manjév zögerte. Die Kleine war mit Sicherheit nicht fähig, zu begreifen was geschehen war. Aber sie war die engste Vertraute, abgesehen von den Eltern, die sie hatte. Und die Eltern … die durften niemals davon erfahren, wie sie ihre Macht missbraucht hatte.
„Tíjnje”, sagte Manjév von Wijdlant und Spagor, „Ich habe etwas sehr ungezogenes gemacht. Wenn meine Eltern davon erfahren, werden sie sehr enttäuscht von mir sein.”
„Aber doch bestimmt nicht absichtlich”, sagte das kleine Mädchen. „Du machst nichts Böses.”
„Doch, Tíjnje, das hab ich gemacht.”
„Wenn man etwas aus Versehen macht, ist es nicht böse”, behauptete Tíjnje.
„Aber das ändert doch nichts am Ergebnis.”
„Nein, aber es ist was anderes. Weil …” Die Kleine suchte nach Worten. „Wenn man aus Versehen was kaputtmacht, dann ist das schlimm. Aber das macht keine Flecken auf dem Herzen, sagt meine Mama. Wenn man aber absichtlich was Schlimmes macht, dann kommen jedesmal neue Flecken dazu. Und bei bösen Leuten ist am Ende das Herz gar nicht mehr zu sehen vor lauter Schmutz.”
„Ja”, sagte Manjév kleinlaut. Das Märchen vom schmutzigen Herzen hatte der Vater früher oft erzählt.
„Wenn man aus Versehen was macht”, fuhr Tíjnje fort, „oder weil man es nicht besser weiß, dann muss man den Schaden gutmachen und um Verzeihung bitten. Das muss man aber ganz, ganz ehrlich meinen. Dann können die Flecken nämlich auch weggewaschen werden.”
„Ich hab es mit Absicht gemacht. Und dann war es zu spät, um es aufzuhalten.”
„Schreibt ihr euch deswegen plötzlich alle Briefchen? Redet doch einfach miteinander!”
Das brachte Manjév auf einen Gedanken. „Warte mal.”
Sie lief hinüber zu einer ihrer Truhen und kramte darin. Unter einer Menge anderem Zeug fand sie schließlich ein paar Kärtchen aus kostbarem Pergament und ein Schreibzeug; eine Prachtvogelschwanzfeder mit einer goldenen Metallspitze und ein Tintenfäßchen aus Bergkristall nebst Sandstreuer. Als sie den Korken löste, gab es gleich ein paar Spritzer auf ihr Nachthemd und die Tischplatte.
Tíjnje bestaunte die schillernde Schreibfeder und setzte sich dann auf Manjévs Bettkante. Ein so großes und weiches Nachtlager hatte sie nicht.
„Tíjnje”, sagte Manjév, während sie hastig kritzelte, „ich gebe dir einen Brief. Du musst mir versprechen, dass du ihn so schnell wie möglich Láas oder Jándris gibst, ohne dass ein Erwachsener es mitbekommt. Láas oder Jándris, nicht Osse! Kannst dir das merken?”
Tíjnje nickte und legte sich auf den Rücken, um den goldbestickten Betthimmel betrachten zu können. „Wenn ich groß bin”, plauderte sie, „weißt du was? Dann kann ich ja keine Ritterin werden. Aber meinst du, ich kann dann ein schnelles Pferd bekommen und wichtige Botschaften von Burg zu Burg bringen?”
„Was?”
„Das ist dann fast wie mein Papa, nur ohne Schwert und Lanze und so. Ich reise durch das ganze Land und schau mir unterwegs die schönen Städte und Burgen an. Und alle, die wichtige geheime Geheimbotschaften überbracht haben wollen, geben mir Geld dafür, und dann werde ich reich und kann mir noch mehr feine Kleider und Pferde und süßes Konfekt kaufen, und …”
„Reicht es dir denn nicht mehr, meine Hofdame zu werden?”, fragte Manjév und blickte von ihrem Schreiben auf.
„Ich will jetzt doch lieber Geheimbotin werden”, entschied Tíjnje.
Manjév schüttelte den Kopf über diesen naiven Wunsch. Tief in ihrem Herzen versetzte ihr Tíjnjes Anliegen einen kleinen Stich. Wenn sie doch nur eine Freundin hätte, die schon verständig genug wäre, um ihr das Herz auszuschütten! Gegen ihren Willen kam Manjév die geheimnisvolle Tochter des Schattensängers wieder in den Sinn. Ob das gleichaltrige Mädchen sie wohl verstanden hätte?
Manjév schaute auf ihre schnell dahin gekritzelten Zeilen hinab und ärgerte sich über die Tintenflecke.
Ich habe nichts gesagt, hatte sie geschrieben. Tut, was die Eule ruft.
Das sollte rätselhaft genug sein, dass ein Erwachsener, dem das Briefchen in die Hände fiel, nichts damit anfangen konnte. Sie streute Schreibsand darüber und wartete, dass die Tinte trocken genug war, um das Pergamentkärtchen zu falten.
„Tíjnje”, sagte sie, „wenn wir morgen früh vor der Lehrzeit miteinander spielen, werde ich dir die Puppenburg schenken.”
Das kleine Mädchen schnellte kerzengerade hoch. „Wirklich?”
„Die Jungs können dir später helfen, sie in euer Gemach zu bringen. Ich glaube, ich bin nun zu alt für … Puppen. Ich will das nicht mehr.”
„Aber ich hab gern mit dir zusammen damit gespielt”, sagte Tíjnje leise, die sich beim Anblick von Manjévs ernstem Gesicht nicht mehr über das unverhoffte Geschenk freuen konnte.
„Ganz bald ist die kleine Schwester von Osse Emberbey hier. Ihr könnt viel besser zusammen damit spielen.”
„Ich will aber, dass die Burg stehen bleibt, wo sie ist. Vielleicht … vielleicht magst du ja doch wieder mitmachen. Dann sind wir zu dritt. Und vielleicht machen die Jungs auch mit.” Sie lachte. „Vielleicht sogar der Junge von yarl Althopian. Der ist bestimmt gar nicht so dumm, wie du denkst.” Sie zögerte und fügte flehend hinzu: „Bitte, Manjév. Du bist nicht zu alt zum spielen.”
„Mir ist, als spielte ich längst etwas ganz anderes.” Die teirandanja reichte ihrer kleinen Gefährtin den Brief. „Gib das Láas oder Jándris und geh dann schlafen, Tíjnje. Du willst doch morgen ausgeschlafen sein, damit die opayra nicht schimpft? Und damit du nicht einschläfst, falls dein Papa im Laufe des Tages zurückkommt?”
Die Kleine packte die wichtige Geheimbotschaft stolz und verneigte sich spielerisch, wie eine erwachsene Dame. Dann wollte sie geschäftig loslaufen, aber die teirandanja erwischte sie, noch bevor sie an der Tür war.
Ohne nachzudenken schlang Manjév von Wijdlant und Spagor beide Arme um das kleinere Kind und umarmte es innig.
***
„Das war das letzte Mal, dass ich heute Nacht jemanden zur teirandanja hineingelassen habe”, mahnte der Wachmann. „Der teirand hat mich nicht als Dekoration hier aufmarschieren lassen.”
„Ich sorge dafür, dass die yarlaranja jetzt fein ins Bett geht. Du machst das hier ausgezeichnet”, versicherte Láas und fasste seine kleine Nichte fest bei der Hand, kaum dass sie aus dem hoheitlichen Gemach huschte.
„Das soll belohnt werden”, sagte Jándris, der im selben Moment um die Ecke kam, beladen mit einem Korb, in dem ein Krug und ein Körbchen gesalzenes Brot lagen. „Hier! Damit dir der Dienst nicht zu lang wird.”
„Was ist das?”, fragte der Wächter argwöhnisch.
„Traubenessigwasser. Sehr erfrischend”, sagte Jándris und stellte den Korb ab.
„Wie komme ich zu dieser Aufmerksamkeit?”
„Einfach … so.”
Der junge Mann nahm den Korb entgegen und runzelte die Stirn. Dann erhellte sich sein Blick.
„Das ist von Kwinrid, nicht wahr? Schickt sie mir das? Weil ich heute nacht doch … keine Zeit habe?”
„Wie hast du das nur erraten”, entgegnete Jándris, der keine Ahnung hatte, wer Kwinrid sein mochte. Vielleicht eines der Küchenmädchen.
„Bist du in Kwinrid verliebt?”, fragte Tíjnje vorlaut. Láas zog seine Nichte eilig weiter. „Du musst jetzt wirklich ins Bett!”
So schnell sie es ohne verdächtige Hast konnten, bugsierten die beiden Jungen das kleine Mädchen zurück zum Familiengemach der Moréavals. Keinen Augenblick zu spät, denn plötzlich tauchte hinter ihnen auf der Treppe Daap Grootplen in Begleitung seiner Tochter auf. Die junge yarlara berichtete von dem kleinen Mädchen das yarl Emberbey als wohlerzogen und klug geschildert hatte, unterbrach sich aber, als sie die Kinder sah.
„Was macht ihr hier?”, rief yarl Grootplen aus.
„Tíjnje war weggelaufen”, petzte Láas erschrocken. „Wir haben sie gefunden!”
„Tíjnje”, schalt die yarlara. „Was machst du für einen Unsinn?”
„Das ist ein Geheimnis“, erklärte das Kind wichtig. „Und eine Abendtüre. Aber jetzt bin ich müde. Gute Nacht, Jándris!” Sie umarmte den verblüfften Jungen und steckte ihm mit geschickten Kinderfingern das Pergamentkärtchen unter den Gürtel.
„Sofort kommst du mit mir, Kind! Was sollen denn die Leute denken, wenn du im Hemdchen herumläufst! Erkälten wirst du dich!”
„Ja, Mama. Gute Nacht, Láas!”
„Gute Nacht, Tíjnje. Gute Nacht, Schwesterherz. Gute Nacht, Vater. Komm, Jándris, wir …”
„Einen Moment!” Yarl Grootplen hob die Hand. „Du kommst mit mir, mein Sohn. Ich möchte ein paar Worte mit dir wechseln.”
Láas erbleichte schuldbewusst. „Hab ich was Unrechtes getan?”
„Ich hoffe nicht. Aber ich bekomme dich ja kaum noch zu Gesicht! Ich möchte dich einfach eine Weile bei mir haben. Jándris?”
„Ich gehe schon voran.” Der jüngere der beiden yarlandoray verneigte sich und steckte sich das Kärtchen so in die Gürteltasche, dass sein Kumpan es sehen konnte. Láas nickte und seufzte im Stillen.
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