
„Ausgerechnet jetzt!”
Jándris versetzte dem Treppengeländer einen ärgerlichen Fausthieb.
„Das ist doch nur, weil dieser Wicht mit seiner Kletterei alle in Aufruhr versetzt hat”, zürnte Láas. „Selbst schuld!”
„Selbst schuld? Weißt du, was wir für einen Ärger bekommen, wenn das Wiegenkind spätestens morgen um Hilfe schreit? Oder irgendwas aus dem Fenster wirft?”
„Dann wird Manjév uns ja wohl hoffentlich verteidigen. Schließlich war das allein ihre Idee!”
„Und wenn nicht?”
Láas wandte sich seinem Freund betroffen zu. „Was soll das heißen – wenn nicht?”
„Was, wenn sie abstreitet, uns losgeschickt zu haben, den Kerl Manieren zu lehren?”
„Sie ist unsere teirandanja!”, protestierte der ältere Junge.
„Ja, und weißt du, wie viel Ärger sie von ihren Eltern bekommt, wenn herauskommt das …”
Zwei gedämpft miteinander plaudernde Mägde auf dem Weg in ihr Gesindequartier kamen heran. Die Jungen machten ihnen höflich Platz. Als die älteren Mädchen außer Hörweite waren, sagte Jándris: „Denk doch mal nach. Sie hat die ganze Sache bestimmt nicht zu Ende gedacht, aber genau betrachtet hat sie Getreue ihrer Mutter dazu gebracht, einem Getreuen ihres Vaters eins auszuwischen. Wer weiß, wo das enden kann!”
„Na ja. Wenn Herr Waýreth rausfindet, dass wir dahinter stecken, dann macht er unseren Vätern sicher Vorhaltungen, es nicht verhindert zu haben.”
„Möchtest du erleben, wie Waýreth Althopian, der Waýreth Althopian, deinem Vater Vorhaltungen macht? Darüber kann eine Fehde ausbrechen, weil einer sich vom anderen erniedrigt fühlt.”
„Nun übertreibst du aber. Unsere Väter und Althopian sind eine Kumpanei!”
„Umso schlimmer! Wenn unsere Väter und er Freunde sind, dann können wir doch nicht seinen Sohn niedermachen! Du hast Althopian doch gesehen! Der ist am Ende vor Sorge um diese kleine Kampfratte! Wir können das nicht länger geheim halten!”
„Wenn er herausfindet, dass wir genau wissen, wo … dann sollten wir uns besser in einem anderen teirandon verstecken!”
„Eben deswegen brauchen wir Manjév. Schleunigst!”
„Aber wir kommen an sie nicht heran! Die ist besser bewacht als der Kronschatz von Forétern!”
Als die beiden bemerkt hatten, dass die Tür der teirandanja bewacht wurde, waren sie natürlich auf den Hof gelaufen, in der Hoffnung, ihre junge Gebieterin irgendwie dazu bewegen zu können, ans Fenster zu treten. Dort waren sie jedoch auf den zweiten Wachmann gestoßen und daraufhin eilig, als sei nichts geschehen, zurück ins Stiegenhaus im Wohntrakt der Burg gelaufen.
Die beiden ließen sich auf der Treppe nieder. Vor hier aus würde ihnen nicht entgehen, wenn der Wachmann seinen Posten verließ. Allerdings konnten sie sich hier nicht die Nacht um die Ohren schlagen. Früher oder später würden sich die Väter wundern, warum sie noch nicht zu Bett waren. Eine weitere schlaflose Nacht würden sie nicht dulden.
„Tíjnje”, sagte Jándris plötzlich.
„Was ist mit Tíjnje?”
„Ich wette, der Wachposten würde sie zu Manjév vorlassen. Wir geben Tíjnje eine Botschaft und schicken sie hin.”
„Und wie kommen wir an Tíjnje heran? Die schläft längst. Ich hab sie selbst ins Bett gebracht.”
„Dann hol sie wieder raus. Sie steckt genauso in der Sache drin wie wir.”
„Aber … „
„Wenn sie kein Mädchen wäre, würde sie jetzt mit uns zusammen lernen, ein guter Ritter zu werden und es mit uns ausbaden. Sie will doch schließlich immer bei allem dabei sein.”
Láas dachte einen Augenblick darüber nach. Dann erhob er sich. „Und wenn meine Schwester da ist? Ich kann doch nicht einfach nachts zu den Damen in die Kemenate, und …”
„Bei den Mächten! Das ist doch nun wirklich das kleinste Problem. Außerdem sitzt deine Schwester sicher noch mit Herrn Alsgör zusammen. Sie fragt ihn bestimmt bis zum letzten über das neue kleine Mädchen aus, um das sie sich kümmern soll.”
„Und die Nachricht?”
Jándris zückte ein kleines Wachstäfelchen. „Ich hätte nicht gedacht, dass ich das mal brauchen würde.”
Láas nickte beifällig und stieg die Treppe zu den Unterkünften der yarlay im benachbarten Gebäudeflügel hinauf. Hier war kein Gesinde mehr unterwegs. Die Erwachsenen verbrachten den langen Abend unten in der Halle. Trotzdem klopfte er leise an die Tür, hinter der seine Schwester mit ihrem hýardor und dem Kind wohnte, wenn sie in Wijdlant weilten.
Im Zimmer blieb es still. Die große Schwester schwatzte also wahrscheinlich tatsächlich den greisen yarl Emberbey zu. Láas schaute sich um, versicherte sich, dass niemand ihn sah und zog die Tür auf. Die Fensterläden waren geöffnet, sodass er im Halbdunkel sehen konnte, dass das Lager, das Jóndere Moréaval mit seiner hýardora teilte, leer und die Laken ordentlich waren. Gut. Die Schwester war also wirklich nicht hier.
Tíjnje allerdings auch nicht. Ihr Bettchen in einem geschützten Winkel der großen Stube war leer, die Decken noch warm. Ihr Kuscheltier war mit ihr verschwunden.
***
„Oh weh”, sagte Elosál, als die arcaval’ay auf dem nächtlichen Burghof gelandet waren und von ihren Reittieren abstiegen. „Advon, musstest du mitten durch Ruß und Qualm laufen?”
Er sah verlegen an sich herab. „Tut mir leid, Mama.”
Sie schüttelte milde das Haupt und zauberte beiläufig seine Kleidung wieder sauber. Der Schmutz auf seinem Gesicht und seinen Händen blieb. „Du wäscht dich einfach noch einmal, Advon. Mit ganz viel Seife. Ich komme später, um nach dir zu sehen. Hat dir das Abenteuer gefallen?”
„Oh ja, Mama, es war furchtbar spannend. Ein so großes Feuer habe ich noch nie gesehen. Aber mir tun all die armen Pflanzen so leid.”
Die fajía schaute fragend zu dem Violetten hinüber, der sein Einhorn noch am Zügel hielt. „Ein Garten?”
„Es mag einmal ein Garten gewesen sein, Meisterin. Und Ihr werdet nicht glauben, wer der Grundherr ist.”
„Der sinor Úldaise!”, platzte Advon heraus, bevor Elosál raten konnte. „Stell dir nur vor, Mama! Was für ein Zufall! Ich hab ihn gesehen.”
„Das ist wahrlich ein sonderbarer Zufall, dass dieser Name innerhalb so kurzer Zeit mehrfach den Weg hierher findet.” Elosál warf ihrem Sohn einen mahnenden Blick zu.
„Es gibt noch mehr dazu zu sagen, Meisterin”, sagte der Grüne und kam näher.
„Und?”
„Nicht hier und jetzt”
Advon fühlte sich von vier goldglänzenden Augenpaaren beiläufig angesehen. Die fajía verstand.
„Ist es für alle anderen?”
„Ja.”
„Dann lasst uns hinaufgehen in Pataghíus Halle. Und du, Advon, du gehst zu Bett.”
„Natürlich, Mama”, sagte Advon gehorsam. „Darf ich wenigstens noch einmal zu Farbenspiel? Wo doch ohnehin noch Bewegung im Stall ist und Siledaú mich gerade nicht dafür ausschimpfen kann?”
„Siledaú. In der Tat. Ich frage mich, wo die alte Dame seit dem Nachmittag eigentlich geblieben ist. Ich sah sie nicht aus Aurópéa zurückkehren nach ihrem Botengang.”
„Darf ich, Mama?”
Elosál seufzte. Dann nickte sie. „Nur zu, Advon. Aber nur, bis die Herren abgesattelt haben. Die Tiere brauchen ihre Ruhe.”
Er nickte freudestrahlend und rannte zum Stall hinüber. Nun durfte er keine Zeit verlieren.
Die Einhörner, die nicht mit auf dem Flug gewesen waren, das Rote, das Gelbe und das Himmelfarbene, hatten in ihren Verschlägen gedöst und hoben ihre Köpfe, als der Junge auf den Mittelgang stürmte. Farbenspiel ganz hinten im Stall gab ein freundliches Grollen von sich.
Advon schlüpfte zwischen den Gitterstäben hindurch und umarmte den mächtigen Kopf, der sich zu ihm herabsenkte. Ein paar Rußflecken blieben auf dem im Halbdunkel schillernden Fell zurück.
„Ich hab ein Geheimnis gefunden!”, flüsterte er Farbenspiel ins Ohr. „Was ganz Wichtiges.”
Farbenspiel schnaubte und schnupperte prüfend an Advons Kleidung. Große Geheimnisse interessierten das Tier weniger als ein möglicherweise verborgener Honigkeks.
„Farbenspiel”, wisperte der Junge, „ich weiß, wer das Feuer verursacht hat. Ein unschuldiger Unkundiger ist dafür in Schwierigkeiten geraten. Hilfst du mir, wenn es sich nicht anders lösen lässt?”
Farbenspiel blinzelte. Seine gelben Augen schauten fragend. Dann grummelte er leise. Advon nahm das für ein Ja und zauste ihm die Mähne. „Wenn dieser sinor Úldaise morgen hier ist und alle abgelenkt und Siledaú noch ein ganz klein wenig länger verschwunden bleibt … dann müssen wir noch einmal ungehorsam sein. Aber diesmal sorge ich dafür, dass du dafür nicht eingesperrt wirst. Das verspreche ich dir.”
„Advon!”, rief der Orangene mahnend von der Tür.
„Halt dich bereit!” Der Junge tätschelte dem Einhorn zum Abschied den Hals. Dann beeilte er sich, den arcaval’ay in den Cielástel zu folgen.
Er wünschte den Rittern eine gute restliche Nacht und verschwand dann gehorsam auf dem Korridor, der zu seinem Gemach führte. Daran ging Advon schnurstraks vorbei, bis zur nächsten Außentür und dort auf einer der Freitreppen so weit nach oben, wie es möglich war. Das im Dunklen geheimnisvoll glimmende Gebäude beleuchtete seine Schritte aus den schwindelerregenden Stufen. Noch bevor die ersten arcaval’ay im Inneren des Hauptturmes Pataghíus Halle betraten, hockte Advon still und starr wie ein Felsenkäfer in Teneástres Gemach und lauschte auf das, was durch den Korridor zu ihm schallte.
***
Tíjnje war nicht so weit fort, wie ihr jugendlicher Oheim befürchtete. Láas hatte sie ins Bett gebracht, ihr eine schauerliche Gruselgeschichte von einem fahlen Fuchs erzählt, der nachts durch die Wälder schlich und Wanderern an den Hals sprang, um ihr Blut zu trinken. Das hatte ihre Bereitschaft zum Schlafen nicht gerade gefördert, und so hatte das Mädchen eine Weile wachgelegen und ihrem Kuscheltier eindringlich versichert, dass ihr Großvater sie ganz bestimmt beschützen würde, wenn der fahle Fuchs auftauchen sollte, solange der Vater noch auf Reisen war.
Tíjnje fragte sich seufzend, wann er wohl zurückkehren würde. Vielleicht morgen oder spätestens übermorgen? Er bräuchte ihr auch gar kein Geschenk mitzubringen, erklärte sie dem Kuscheltier. Hauptsache, er wäre bald wieder da und hielte sie im Arm. Die Mutter, das wusste die Kleine, sehnte ebenso die Rückkehr ihres hýardor herbei. Es war immer eine seltsame Zeit, wenn der Ritter im Auftrag seiner teiranda unterwegs war.
Tíjnje, wachgehalten von der unterschwelligen Besorgnis über die Existenz gemeiner fahler Geisterfüchse, aber nicht so verängstigt, dass sie sich unter den Decken verkrochen hätte, begann, sich zu langweilen. Während sie über die Ereignisse des vergangenen Tages nachdachte, insbesondere über die Begegnung mit dem schwarzen Kater und das Blumenwunder, zürnte sie im Stillen wieder darüber, dass die Jungen ihr nicht verraten hatten, was sie denn den ganzen Tag so Geheimnisvolles ausgeheckt hatten. Und dabei fiel ihr das Briefchen wieder ein, das sie am Mittag aufgesammelt hatte.
Tíjnje hatte das Papier sorgfältig in ihrem samtenen Gürteltäschchen aufbewahrt, neben einer hübschen, allerdings nunmehr zerknickten und zerzausten glänzenden Hühnerfeder und einem Schneckenhäuschen, das sie im Garten gefunden hatte. Sie nahm das Schreiben heraus, setzte sich auf die Bettkante und tat so, als würde sie vorlesen. Das Kuscheltier hörte geduldig zu.
„Da steht”, behauptete Tíjnje, „sie, die teirandanja, befielt Láas Grootplen, immer nett zur hochedlen yarlaranda von Moréaval zu sein und ihr süße Honigmilch und kleine Küchlein zu bringen, wenn sie danach verlangt. Und wenn sie zusammen spielen, dann sollen sie die yarlaranda immer gewinnen lassen!”
Das Kuscheltier starrte ausdruckslos aus seinen aufgestickten Augen. Tíjnje ließ das Blatt sinken. „Nein”, seufzte sie. „Da muss ich mich verlesen haben. Aber was steht da wirklich?”
Sie ärgerte sich, dass der mestar sie mit den Holzklötzchen beschäftigte und ihr noch nicht erklärt hatte, wie man Briefe las. Es würde ihr ja genügen, lesen zu können. Das Schreiben konnte später jemand anderes für sie erledigen. Dann musste sie sich auch nicht mit Tinte und Feder plagen, wie Manjév, die ganz schön gekleckst hatte auf dem Papier.
Aber der Brief, den sie den Tag über fast vergessen hatte und das, was sie am Rande an Gesprächsfetzen zwischen Láas und Jándris aufgeschnappt hatten, verdrängten zunehmend den fahlen Fuchs aus ihren Gedanken. Eine neue Idee nahm Form an.
Es traf sich, dass sie den Korridor gerade in dem Moment passierte, als die Jungen die Lage auf dem Hof ausloteten. Der Wächter vor der Tür der teirandanja blickte dem Mädchen entgegen, das da barfuß, im Hemdchen und mit dem Stofftier im Arm heran tappte.
„Willst du etwa zur teirandanja?”, fragte er verunsichert. „Solltest du nicht im Bett sein?”
„Da geh ich gleich auch ganz bestimmt wieder hin”, erklärte Tíjnje ernsthaft. „Ich will aber gar nicht zu Manjév. Weißt du, wo Osse wohnt?”
„Wer?”
„Der Sohn von Herrn Alsgör. Der mit dem Glas vor den Augen.”
Der Wächter deutete auf die besagte Tür. „Aber Kind, du kannst doch nicht …”
„Ich will ihn nur rasch was ganz wichtiges fragen.” Tíjnje lief hinüber zum Gastgemach und klopfte nachdrücklich mit der kleinen Faust dagegen, bevor der Wächter sie daran hindern konnte.
Er dauerte einen Moment, bis ihr geöffnet wurde. Der Junge, selbst bereits im Nachthemd, seine Augengläser in der Hand, blinzelte verdutzt zu dem Mädchen hinab.
„Kannst du mir was vorlesen?”, fragte Tíjnje zutraulich.
„Aber …”
„Du kannst doch schon lesen, oder?”
„Natürlich. Aber …”
„Ich muss ganz dringend wissen, was da steht. Sonst kann ich nämlich die ganze Nacht nicht schlafen.”
„Und damit kommst du zu mir?”, fragte er konsterniert. „Warum fragst du nicht einen der yarlandoray?”
„Weil die blöd sind. Du bist viel netter”, erklärte Tíjnje zutraulich.
Osse Emberbey griff verwirrt nach dem zerknitterten Zettel in der Hand des kleinen Mädchens. Das innige Kompliment machte ihn verlegen. Er setzte seine Brille auf die Nase und begann, das Dokument zu studieren.
„Woher hast du das?”, fragte er dann.
„Gefunden.”
„Aber du weißt, wer es verloren hat?”
„Klar.”
„Es ist vertraulich. Ich darf dir das nicht vorlesen. Ich darf das nicht einmal selbst anschauen. Das steht gleich in der ersten Zeile.”
Tíjnje schaute schmeichelnd zu ihm auf. „Du musst das ja nicht Wort für Wort lesen. Sag mir nur, wovon das handelt.”
„Neugier …”
„Ja, ja. Das sagt die alte opayra auch immer. Lies schon!”
Osse seufzte. Dann entzifferte er den verbotenen Brief.
„Hat das mit der den geheimen Dingen zu tun, die die yarlandoray von Altabete und Grootplen vorhin vom Abendessen abgehalten haben?”, fragte er dabei
„Ich weiß nicht. Ich glaube schon.”
Der Junge wandte sich zu der bewachten Tür hin, hinter der die teirandanja, von der diese ungeheuerlichen Zeilen stammten, residierte.
„Warte einen Moment. Ich ziehe mir schnell etwas an, womit ich nicht Ärgernis errege. Und dann zeigst du mir, wo ich die beiden jungen Herren finden kann.”
***
„In dem Garten”, berichtete der Grüne, „ist der Zugang zu einer Höhle. Meisterin, in dieser Kaverne sind unverkennbare Überreste von Magie, die nicht zu uns gehört.
„Was sollte das sein?”, fragte Elosál beunruhigt.
„Dunkle Magie. Aber sehr, sehr alt. Und nur noch kleine Reste.”
„So.” Die fajía lehnte sich auf ihrem Thron zurück und schloss die Augen.
„Es wäre kaum zu bemerken gewesen, hätte nicht ein frischerer Zauber dort gelegen.”
„Ein doppelter Zauber also?”
„Nein, kein doppelter. Beides hatte miteinander nichts zu tun. Der frische Zauber ist … harmlos. Eine Spielerei. Jemand hat Gold aus den Felsen beschworen.”
Die fajía schwieg auffordernd.
„Der alte Zauber jedoch ist …” Der Regenbogenritter suchte nach Worten. „Meisterin, stellt Euch vor, vergossenes Blut sickert in den Boden und die Zeit bedeckt es mit Sand. Dann durchquert einer die Stätte und legt mit seinen Fußspuren das Verblichene und begrabene achtlos frei und entdeckt die Mordtat. Sehen kann es, wer die Spuren liest.
„Wie alt ist das Verblichene? Kann es sein …”
„Möglich. Wahrscheinlich. Ihr solltet es Euch selbst anschauen.”
„Das werde ich tun. Ihr sagt, der Garten gehört diesem wunderlichen sinor?”
„So hat er es gesagt.”
„Ob er von diesem Zugang weiß?”
„Es würde mich wundern”, sagte der Violette. „Der Garten war verwahrlost, seit vielen Sommern sich selbst überlassen. Man kann daran vorbeigehen – wenn er die Stätte je selbst betreten hat.”
„Und ausgerechnet heute war er zugegen.” Sie verschränkte die Fingerspitzen. „Was für eine geradezu irrsinnige Häufung von Zufällen.” Sie schaute auf. „Habt ihr diese Höhle untersucht?”
„Nein. Wir hatten das Kind dabei, Meisterin.”
„Natürlich. Nun, unglücklicherweise schickt es sich nicht, dass wir die Sache ohne Einwilligung des alten Unkundigen untersuchen.”
„Meisterin – wenn es Magie ist, geht es uns an. Insbesondere, wenn …”
„Alte Magie, eingesickert und sandbedeckt, nicht wahr?”
Der Grüne nickte. „Ja. Abgesehen von dem beschworenen Gold.”
„Wenn es beschworenes Gold war”, sagte die fajía, „kann es unmöglich das Werk eines Schattensängers sein.”
Die Sieben murmelten Zustimmung.
„Wenn es einer von euch war, so wüsstet ihr es.”
„Was hätten wir mit einem solchen Streich bezwecken sollen, Meisterin?”
„Wer bleibt?”, fragte sie ruhig.
Stille senkte sich über Pataghíus Halle. Dann sagte einer, der Indigoblaue wohl: „Bei den Mächten.” Und dann redeten sie alle gleichzeitig, aufgeregt, verstört. So lange, bis Elosál sich erhob und in die Hände klatschte, um sie zum Schweigen zu bringen.
„Was die alte Magie betrifft”, sagte sie, „nun, wir haben seinerzeit nicht jeden einzelnen Schritt verfolgt. Es ist möglich, und auch wenn es möglich ist, ist es vergangen. Nichtsdestoweniger interessiert es mich. Ich werde den sinor Úldaise darum bitten, einem von uns Zugang zu gewähren, auf dass er sich davon überzeugen kann, dass die Magie in dieser Höhle so verflogen ist wie der, der sie einmal wirkte. Ich selbst werde es tun.”
„Meisterin, wir …”
„Was das andere betrifft”, unterbrach sie jede Widerrede, „es ist eine Spielerei, sagt ihr?”
„Ja, Meisterin. Eine kleine Übung vielleicht, oder ein Zeitvertreib, den wir nicht verstehen.”
„Der sinor sagte, seine Knechte hätten einen Verdächtigen aufgegriffen und nach Aurópéa gebracht.”
„Und wo ist derjenige?”
„Das”, mischte sich der Gelbe ein, „werden wir wissen, wenn wir herausfinden, wo die Höhle hinführt.”
„Warum sollte derjenige den Garten anzünden – wenn er es war?”
Elosál breitete müde die Arme aus. „Mögen die Mächte diesem Unglücklichen gnädig sein. Wir dürfen uns nicht einmischen.”
„Aber wenn es derjenige …”
„Woran denkst du?”, unterbrach der Indigofarbene. „Glaubst du im Ernst, ein … ein solcher, so es denn einer war, hätte sich von Unkundigen überwältigen lassen? Lebensmüde müssten sie sein, es auch nur zu versuchen.”
„Dann war es wohl doch ein weiterer. Wahrscheinlich der, der seine Beinkleider eingebüßt hat.”
„Was?”, fragte die fajía irritiert und erfuhr von dem verbrannten Korb und der verkohlten Hose. „Bei den Mächten”, rief sie aus. „Das wird ja immer toller und alberner!”
„Meisterin”, wandte der Rote ein, „wie ein Possenspiel erscheint uns all das womöglich nur, weil wir nur die Spuren sehen, nicht aber den Weg, auf dem sie entstanden sind.”
Sie erhob sich. „Ich wünschte nur, Cýelú wäre morgen wieder hier zugegen. Bei den Mächten, all die Menschenleben lang war Ruhe eingekehrt, und nun bricht in wenigen Tagen der Irrsinn aus, kaum dass er den Cielástel verlassen hat.” Sie seufzte. „Bei Pataghíu, nie zuvor war mir so bewusst, welches Geschenk der Helle Tag uns bereitet hat, als er uns meinen hýardor schickte.”
„Meisterin … wenn es so sein sollte dass …einer derjenigen ins Weltenspiel getreten ist, nach all der Zeit … mag das eine Gefahr bedeuten?”
Elosál zuckte die Achseln und schaute ihre sieben Ritter ernst an, wie sie da vor ihr im Halbkreis standen, in jener Reihenfolge, in der sich auch die Farben am Himmel zeigten, wenn Wasser und Licht aufeinandertrafen.
„Vielleicht eine Gefahr”, sagte sie. „In jedem Fall aber ein ernstes Omen.”
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