
Durch die Dunkelheit zu gehen war etwas, das Yalomiro für gewöhnlich als sehr angenehm empfand. Es gab dem, der es tat, Zeit zum Nachdenken, zur Besinnung. Es erlaubte die Überwindung räumlicher Distanzen, konnte Reisen von mehreren Monden erheblich abkürzen.
Es hatte auch seine Nachteile. Solange ein Schattensänger sich in Noktámas Domäne bewegte, konnte er nicht zaubern. Wie dienlich wäre es wohl gewesen, wenn er diesen Weg zusätzlich als Pferd oder Rabe hätte zurücklegen können.
Es konnte ihm nun nicht schnell genug gehen, auch wenn er so eilig ausschritt wie nur möglich. Anfangs war er gerannt, hatte aber bald erkannt, dass ihn das vor der Zeit erschöpft hätte. Er schalt sich für seine Unbedachtheit, die Verschwendung von Kraft und versuchte, sich zur Besonnenheit zu zwingen. Niemandem würde es etwas nützen, wenn er nun einen Fehler beging.
Dýamirée! Etwas war geschehen mit Dýamirée, mit dem Kind, das Noktáma ihm und Salghiára erlaubt hatte. Mit dem größten Wunder, das sich jemals im Schutz des Boscargén ereignet hatte. Dem geliebten Kind war etwas zugestoßen, das so dringlich, so verstörend war, dass es in Salghiára, der verzagten, der schüchternen, der sich niemals selbst vertrauenden Salghiára die Kraft für einen eigenen großen Zauber erweckt hatte.
Er verfluchte sich für das, was er getan hatte. Was hatte er sich nur dabei gedacht, die hýardora, das Kind, Dýamirée, das erste Wunder unter dem Mond, allein zurückzulassen? Wie hatte er sie verlassen können, nur um ein paar Unkundigen zu Diensten zu sein?
Er erschrak vor dem Unwillen, der in ihm erwachte und zwang sich zur Ruhe. Jedes der unkundigen Kinder, die er in Wijdlant angetroffen hatte, jeder liebende Vater und Mutter galt dasselbe wie seine eigene Familie. Sie alle waren Teil des Weltenspieles, wenn auch mit anderen Bestimmungen. Das Widerwesen hatte etwas mit diesen Unkundigen vor. Dass er zu den Unkundigen gegangen und einen Blick darauf hatte erhaschen können, war richtig gewesen und würde sich sicher zu einem späteren Zeitpunkt in seiner Wichtigkeit offenbaren.
Eine Weile versuchte er, seine Herzschläge zu zählen, deutlich konnte er es pochen hören in der Stille der Schatten. Er versuchte, dem Rhythmus einen Hinweis auf die Zeit abzugewinnen und sie in Bezug zu der Strecke zu setzen, die es zurückzulegen galt. Aber immer wieder kam er aus dem Takt dabei. Seine Gedanken wollten einfach nicht stillhalten.
Dýamirée! Das Kind, dass Salghiára und ihn selbst verband, das ihrer beider Spuren in sich weitertragen würde. Das kleine Wesen, das aus ihr und ihm entstanden war, Noktáma allein mochte wissen, warum und für welches Schicksal!
Sie war nicht tot, die Mächte sollten gepriesen sein dafür. Aber zu einer deutlicheren Botschaft war Salghiáras Zauber nicht fähig gewesen. Etwas war mit Dýamirée geschehen, dass Salghiára hilflos und übermächtig zugleich gemacht hatte.
Ungeduldig war er auf seinem Weg immer wieder aus den Schatten hinausgesprungen, hatte nach ihren Träumen gesucht, aber sie schlief nicht. Noch nicht. Wenn er doch nur einen kurzen Blick in ihre Gedanken werfen, einen Anhaltspunkt dafür finden könnte, was vorgefallen war. Nur eine winzige Andeutung dessen, was ihn erwarten würde, wenn er spätestens am Mittag des folgenden Tages den Etaímalon erreichte, sofern er ohne Unterlass lief. Bei seinem dritten Sprung in die nichtmagische Sphäre befand er sich irgendwo in einer Schlucht des Montazíel, auf einem der schmalen Steige. Unterhalb, in der Entfernung, sah er Licht, eine der kleinen Herbergen am Rande einer der Reiserouten, die die Unkundigen benutzten. Warm leuchtete der Schein durch die Fenster des Hauses am Grund des hier sehr breiten, mit Gras und niedrigen Bäumen begrünten Tals.
Er wandte dem Gebäude den Rücken zu und entschloss sich, eine Weile unter dem offenen Himmel zu bleiben. Wer zu lange am Stück in Noktámas Domäne lief, begab sich in Gefahr wie ein Taucher, der vergaß, Luft zu holen.
Salghiára! Salghiára, kannst du mich hören! Lass mich hinein in deinen Traum, ich bitte dich! Ich bin besorgt!
Zwecklos. Zweifellos war sie wach und viel zu weit weg. Das aufmerksame Träumen war etwas, das er sie dringend lehren musste. Mit Arámaú hatte er sich damals über die halbe Welt hinweg verständigen können. Von Salghiára war er nie so weit entfernt gewesen, um es zu üben. Sie hatten es nie gebraucht. Sie waren beieinander. Und es hatte wichtigeres gegeben, als Salghiára mühevoll in all die Fertigkeiten einzuweihen, die Schattensänger schon als Kinder erlernen mussten. Das Kind, das unkundige Kind, es war so wichtig! Es war einzigartig. Es hätte nicht geboren werden können! Und doch war es da und sie hatten es lieb, so lieb …
Dýamirée!
Noktámas Regeln waren strikt und unauflöslich gewesen, seit sie den ersten Schattensänger mit Magie beschenkt hatte, vor so langer Zeit, noch bevor das erste yarlmálon begründet wurde. Niemals hatte einer ihrer Diener leibliche Nachkommen haben dürfen. Schon die Begierde brachte Verderben. Die Lust brachte den Tod. Es durfte nicht sein.
Dýamirée! Warum hatte Noktáma zugelassen, dass das Kind existierte? Wieso hatte sie es gebilligt, dass er sich mit Salghiára vereinte? Was war mit ihnen geschehen, damals, in jener Nacht am Ufer des Sees? Er erinnerte sich daran nur wie an Traumfetzen, wie Nebel, den ein sanfter Luftzug auseinander trieb. Salghiára, das hatte er im Nachhinein begriffen, schien es viel bewusster erlebt als er und großen Gefallen daran gefunden zu haben. Er erinnerte sich nicht, wie eines zum anderen gekommen und was dabei mit ihm passiert war. Indes, es war … angenehm gewesen.
Aber was hatte Noktáma mit Dýamirée vor? War das, was auch immer mit dem unkundigen Kind geschehen sein mochte, ein Teil ihres Planes?
Der Schattensänger versuchte, sich selbst zu beruhigen und zu betrügen. Vielleicht war etwas geschehen, das aus Salghiáras Sicht hochdramatisch, in Wirklichkeit aber eine Nichtigkeit war. Vielleicht war Dýamirée beim Spielen von einem Baum gefallen und hatte sich Arm oder Bein gebrochen. Vielleicht wagte Salghiára es nicht, einen Heilzauber an ihrer eigenen Tochter zu wirken. Nichts, was er nicht mit einem kleinen Lied wieder heilmachen konnte. Aber es gelang ihm nicht, sich selbst zu belügen. Schattensänger konnten nicht lügen, nicht einmal sich selbst gegenüber.
Der Magier tauchte zurück in die Finsternis. Die Unsicherheit, das fruchtlose Grübeln wurde unerträglich. Es ähnelte den Seelenqualen, die er einst ausgestanden hatte, als er selbst hilfloser Gefangener des Rotgewandeten gewesen war und nicht wusste, was dieser derweil Salghiára antun mochte. Damals hatte ihn diese Ohnmacht an den Rand des Wahnsinns getrieben. Dies hier, das war noch schwerer zu ertragen. Damals hatte er gewusst, mit wem er es zu tun hatte, wozu der Rotgewandete fähig und willens war. Nun stand er entsetzt, ohnmächtig und besorgt wie hinter einer Mauer, und seine eigene Phantasie trieb bizarre Blüten.
Salghiára war auf der anderen Seite dieser Mauer. Sie wusste was geschehen war. Und sie fragte sich zweifellos, wie er es hatte wagen können, sie allein zu lassen. Hatte er im Weltenspiel denn andere Pflichten, als das zu beschützen, was ihm anvertraut war? Salghiára, die seine Seele ergänzt hatte? Seine hýardora, die ihn von ganzem Herzen glücklich machte? Die ihn ihm Gefühle erweckte, für die er nicht ansatzweise Worte hatte?
Yalomiro seufzte wütend auf. Den Gedanken, dass Salghiára ihm Vorwürfe machen würde, den ertrug er nicht.
Ich bin der Großmeister der camata’ay, redete er sich ein. Welcher Widersacher wäre im Weltenspiel, den ich nicht bezwingen könnte?
Ihm wurde bewusst, dass er schon wieder rannte. Er rief sich zur Ordnung und zwang sich zum Gehen. Nur so käme er schneller voran.
Bitte, Noktáma, flehte er. Lass es etwas sein, von dem Salghiára nicht ahnt, wie gering es ist. Lass es etwas sein, was ich mit einem Lied beheben kann, sodass wir alle anschließend über die Aufregung in Verlegenheit kommen.
Aber wenn es doch etwas Ernstes war? Wenn ein … Widersacher den Moment ausgenutzt hatte, in dem er für eine kurze Weile hýardora und Tochter aus den Augen gelassen hatte?
Und wenn es eine Falle war? Wenn … etwas ihn aus dem Etaímalon fortgelockt hatte? Wenn das Widerwesen vielleicht doch besser winzige, flüchtige Ziele anvisieren konnte, als er sich vorgestellt hatte? Wenn der Tod der beiden yarlaraé und all das Leid, das damit über die Unkundigen, über die Väter und Kinder gekommen war, nichts weiter gewesen war als eine List, etwas, das das Widerwesen ihm vorgehalten hatte wie ein Falkner ein Luder für seinen Vogel?
Was, wenn er darauf hineingefallen war?
Darüber wagte er nicht, näher nachzudenken. Er schalt sich für diese törichte Sorge und begann, ohne es recht zu bemerken, erneut zu rennen.
***
„Wie gefällt dir der junge Emberbey”, fragte Asgaý von Spagor seine Tochter. Der teirand hatte es sich nicht nehmen lassen, die teirandanja zu Bett zu bringen. Manjév entging nicht, wie sonderbar zerstreut und fahrig ihr Vater sich verhielt. Er wirkte viel nervöser, als sie es gewohnt war. Seine Familie, Dienstleute und Schutzbefohlenen kannten Asgaý von Spagor so unbesorgt und lässig, dass jegliche Ernsthaftigkeit an ihm einem Alarmzeichen gleichkam.
„Ich weiß nicht recht”, antwortete Manjév. Sie ärgerte sich darüber, dass es ihr nicht gelungen war, mit Láas oder Jándris zu reden, nachdem die beiden endlich, nachdem die Tafel schon abgeräumt wurde, den Weg in die Halle gefunden hatten. Ärgerlicherweise waren die beiden gleich wieder von Pagendiensten und Familienpflichten eingenommen gewesen.
Sie schämte sich ein wenig für diesen Gedanken, aber am liebsten wäre es ihr gewesen, wenn der Vater einfach eine gute Nacht gewünscht und zurück in die Halle gegangen wäre. Sicherlich hatte er mit seinen Rittern doch noch wichtige Dinge zu bereden! Sie aber musste sich so schnell wie möglich wieder unbemerkt ins Freie schleichen, bevor die Jungen zu Bett gingen. In das Knappenquartier konnte sie sich schließlich nachts nicht hineinmogeln, ohne dass jemand Fragen stellte. Nicht auszudenken, wenn sie dem gestrengen Schwertmeister der Jungen begegnet wäre!
„Dafür hast du dich ziemlich lange und ernsthaft mit ihm unterhalten”, sagte Asgaý von Spagor und strich ihr lächelnd über das Haar.
„Er redet wunderlich. Als wäre er schon viel älter als ich.. Aber ich glaube Tíjnje findet ihn ganz großartig. Und er ist nicht unerträglich wie … Kann ich jetzt bitte schlafen, Papa?”
„Wie bitte?”
„Ich meine, es ist spät, und es war ein anstrengender Tag, und …”
„Was hast du auf dem Herzen, Manjév?”
Das Mädchen setzte sich in ihren Kissen auf und schaute ihn mit harmloser Miene an. „Der Sohn von Herrn Waýreth ist immer noch nicht wieder aufgetaucht, nicht wahr?”
„Nein. Aber es ist ebenso sicher, dass er irgendwo im Gebäude sein muss. Die Burg ist an allen Toren bewacht. Niemand kommt unbemerkt hinaus.”
„Glaubst du, er läuft hier nachts ganz alleine herum?”
Der teirand versuchte ein aufmunterndes Schmunzeln. „Weißt du was? Ich gebe Anweisung, dass zwei Wachleute heute Nacht Dienst tun. Einer hier vor deiner Tür und der andere auf dem Hof, von wo er die Fenster sieht.”
„Aber …”
„Nicht einmal ein Mäuslein wird dich heute Nacht behelligen. Du kannst ganz in Ruhe schlafen.”
„Wie du meinst, Papa.”
„Dann schlaf nun. Deine Mutter wird später noch einmal nach dir schauen, sobald die Damen müde werden. Deine opayra hat offenbar eine ganze Menge zu berichten.”
„Die opayra ist eine Klatschbase”, murrte Manjév. Ihr Vater lächelte und erhob sich von der Bettkante. Sein Lichtglas nahm er mit sich.
„Schlaf gut, Manjév. Mögen die Mächte dich sicher in den Träumen halten.”
„Papa?”
„Ja?”
„Ist Meister Yalomiro noch in der Nähe?”
Der teirand zögerte. Um das zu beantworten, musste er offenbar tatsächlich nachdenken. „Nein”, sagte er dann. „Mir ist, als habe er die Burg verlassen. Ganz plötzlich.”
„Plötzlich?”
„Ja. Ah, ich entsinne mich wieder. Er sagte, er müsse dringend nach Hause.”
„Zu seiner hýardora und seinem kleinen Mädchen?”
„Genau. Er hatte es sehr eilig damit. Wieso fragst du?”, wollte er wissen und klang dabei ein klein wenig beunruhigter als nötig.
„Ach nichts. Ich meine … Papa, wenn mal etwas richtig, richtig Schlimmes passiert, dann würde er uns doch helfen, oder?”
„Traust du mir nicht zu, dass ich dich und deine Mutter ebenso gut verteidigen könnte?”, warf er sich, halb im Spaß, in die Brust. Manjév versuchte ein Lächeln. Erst kürzlich hatte sie den Vater im Übermut gegen yarl Altabete fechten sehen. Der Ritter hatte sich anstrengen müssen, seinen teirand nicht zu entwaffnen.
„Du musst dich nicht fürchten, solange wir bei dir sind.”
„Ja, Papa. Gute Nacht.”
Er neigte sich über sie und berührte zärtlich ihre Stirn mit der seinen. Dann verließ er leise das Schlafgemach.
Die teirandanja beobachte eine Weile das zuckende Flämmchen in dem Glas neben sich in der Wandhalterung. Die Stube lag nun im Dunkeln. Weiter als bis zu ihren Bettvorhängen schauen konnte sie nicht. Dann kletterte sie hinaus, warf sich ein Schultertuch über und tappte barfuß hinüber zur Tür. Ganz leise öffnete das Mädchen diese und fand sich einem jungen Wachmann gegenüber, der verlegen errötete und sich schnell abwandte.
„Habt Ihr einen Wunsch, Herrin?”
„Nein”, sagte Manjév würdevoll. „Ich wollte mich nur überzeugen, dass du fein aufpasst. Brav machst du das. Gute Nacht.”
Bevor der Bursche etwas entgegnen kommt, hatte Manjév die Tür auch schon wieder zugezogen.
Wie ärgerlich!
Sie eilte zum Fenster, schob den einen Laden auf und schaute in den Hof. Dort bezog gerade ein zweiter Wächter seinen Posten vor der Tür der Schankstube und schaute pflichtbewusst zum Wohnhaus hinüber. Manjév winkte ihm verlegen zu und zog sich ratlos wieder zurück.
***
Merrit Althopian saß auf dem Boden vor der Tür und war nahe daran, zu weinen wie ein kleines Wiegenkind.
Es lag nicht an dem rostigen Streitflegel, ganz bestimmt nicht. Die Waffe war tauglich und hatte einst bestimmt einem mächtigen yarl im Kampf oder zumindest in einem Turnier gute Dienste geleistet. Aber die hölzerne Tür war stärker als Dornen aus Eisen. Der Junge hatte bis zur Erschöpfung die gespickten Metallkugeln darauf niedergeschmettert, ohne auch nur einen Holzspan daraus lösen zu können. Das ging nicht mit rechten Dingen zu und war dem Knaben unheimlich.
Wahrscheinlich hatte der Magier ihn genau aus diesem Grund gewarnt, Láas und Jándris zu trauen. Aber wie war es denn möglich, dass die beiden eine dumme alte Holztür dermaßen fest verschließen konnten?
Ob vielleicht der Magier noch in der Nähe war, um ihn zu befreien?
Wahrscheinlich hatte sein Gepolter hier oben im Turm niemand gehört. Merrit schniefte und war sich sicher, dass die Tür wahrscheinlich auch das Getöse, das er beim Versuch verursachte, sich durch die Tür zu prügeln wie ein wildgewordener Stier, nicht aus dem Raum gelassen hatte.
Er saß einen Moment still da. Die Laterne, die immer noch auf dem Tisch stand, gab ihm leidlich Licht. Einen Moment dachte er nach und erhob sich dann, um die Flamme etwas zu dimmen. Es war sicher vernünftig, Öl zu sparen. Besser wenig Licht als lange Finsternis. Im Dunkeln, das stand für ihn fest, würde es in diesem verlassenen Wohngemach mit dem großen Tisch noch viel unheimlicher sein.
Er trat an die Laterne heran und warf einen Blick auf die merkwürdigen silbernen Maserungen in der offenbar wurmstichigen Tischplatte, die im Schein des Flämmchens schwach funkelten. Dann zog er den Sessel heran, der etwas bequemer aussah als der Stuhl, legte seinen Flegel neben die Lampe, setzte sich und bettete den Kopf auf seine verschränkten Unterarme. Die Flamme tanzte ruhig vor sich hin.
„Papa”, wisperte er leise und rieb sich die Augen am Ärmel. Einen Augenblick lang verharrte er so still und machte sich Gedanken. Würden die beiden andern yarlandoray tatsächlich so gemein sein, Osse Emberbey zu schaden, wenn er versuchte, auf sich aufmerksam zu machen? Das war ihnen sicherlich möglich, ohne dass es gleich nach einer Schurkerei aussah. Vielleicht würden sie ihm seine Brille stehlen oder sein Pferd scheu machen, wenn er ausritt. Der unbeholfene Junge hatte ihm anvertraut, dass er ein ungeschickter Reiter war und sein Pferdchen den größten Teil des Weges am Zügel geführt werden musste. Merrit hatte das witzig gefunden, nun aber bereitete es ihm Sorgen.
Das Naheliegende zu tun und um Hilfe zu rufen, das schied also aus. Was immer es zu klären gab, es musste mit der teirandanja selbst besprochen werden.
Er hob den Kopf. Um Hilfe rufen? Und wenn es ihm vielleicht doch gelang, sich aus eigener Kraft zu befreien?
Merrit Althopian sprang auf, lief hinüber zum Fenster und neigte sich hinaus. Weit unten sah er den Schein von Feuerschalen im Hof. Ganz gedämpft hörte er Geräusche, Burgvolk, das sich vor der Nachtruhe noch in der Schankstube versammelt hatte. Ob der Vater dort unten bei ihnen war?
Merrit Althopian beugte sich weit hinaus und tastete, so lang sein Arm war, die Außenmauer ab. Seine tollkühne Idee verwarf er. Die Wand war von Wind und Wetter vieler Generationen so glatt geschliffen, dass er nicht daran klettern konnte.
Klettern? Der Junge erschrak und ließ sich wieder ins Zimmer zurückfallen. Hatte er gerade ernsthaft darüber nachgedacht, an der Außenmauer eines Turms hinunterzuklettern, der die äußeren Burgmauern weit überragte? War das sein eigener Gedanke gewesen?
Misstrauisch schaute er zum Fenster auf. Ja, genau das war es. Er hatte diese Eingebung oft gehabt seit dem Moment, als ein Dachziegel abgerutscht war, viele Tagesritte weiter im Norden. Wenn er selbst einmal abrutschte, so bildete er sich seither immer ein, wenn er eine Tiefe sah, würde die Mutter ihn auffangen.
Und der Vater? Wer würde den Vater festhalten?
„Nein!” Merrit Althopian sprang auf und zog in schierer Panik die Fensterläden zu. Krachend schloss sich das schwere Holz vor den verlockenden Öffnungen im Mauerwerk und sperrte auch das letzte bisschen Licht aus, das Noktámas Juwel in dieses sonderbare Zimmer ließ.
Der Vater brauchte ihn. Hatte er es nicht mit eigenen Ohren gehört, am Morgen, unter dem Tisch? Hatte er nicht seinen Vater unter Tränen flehen gehört, zu ihm zurückzukehren?
Merrit setzte sich an den Tisch zurück. Schmerzte das Herz des Vaters denn nicht ebenso wie das seine? Und versuchte der ruhmvolle und von allen geachtete Ritter etwa, feige vor seinem Schmerz davon zu laufen? Der Junge seufzte schwer und rollte die nutzlose Stachelkugel nachdenklich hin und her.
Was hätte der Smaragdritter wohl an seiner Stelle getan?
„Der hätte sich gar nicht erst überlisten lassen wie ein Wiegenkind”, murrte Merrit ärgerlich. Aber ganz von sich stoßen wollte er den Gedanken auch nicht. Nicht erst seit Jándris und Láas darüber gelästert hatten, war dem Jungen klar gewesen, dass die Abenteuer des grün gerüsteten yarl nichts weiter waren als ein Märchen, eines für Damen wohl, was jene Passagen des Textes erklärte, die Merrit stets überblättert hatte, weil er nicht verstand, was der Dichter tatsächlich hatte sagen wollen. Doch abgesehen davon: Der Smaragdritter war immer siegreich. Er machte keine Fehler. Er bezwang jeden Gegner. Und wenn kein Schurke da war, der sich mit Kampfkunst besiegen ließ, dann musste es eben mit List geschehen.
Die Metallkugel, an der nur ganz wenige Stacheln fehlten und die der Tür bemerkenswert gut standgehalten hatte, kullerte zwischen Merrits Händen hin und her. Für eine List fehlte ihm die Fantasie.
Nervös erhob er sich wieder, nahm die Lampe vom Tisch und begann erneut, die Dinge in den Regalen zu untersuchen. In den meisten der Döschen befanden sich krümelige, trockene Rückstände von Kräutern, die intensiv und Pulver, die überhaupt nicht dufteten, in einigen der Fläschchen schwappten bunte Flüssigkeiten. Wer mochte hier gelebt haben? Ein doay, ein Heiler vielleicht? Oben in einem Turm? Mehr zufällig richtete Merrit schließlich den Blick nach oben. Die Malerei an der Zimmerdecke hatte er bislang noch gar nicht bemerkt.
Offenbar waren die alten Burgherren von Wijdlant ganz versessen danach gewesen, jede freie Wandfläche mit bunten Bildern zu schmücken. Er hielt die Lampe so weit nach oben, wie er konnte und erkannte fasziniert eine kunstvolle Darstellung, ein Strudel von Figuren, von altmodisch Gerüsteten, die auf eine weibliche Figur in der Bildmitte hin zu schweben und sie zum umkreisen schienen. Keiner hatte seine Waffe erhoben, obwohl die schöne Frau in der Mitte ein Schwert hielt und ihre Arme ausbreitete, als schare sie die Krieger um sich.
Merrit kletterte auf den Tisch, um näher an das Bild heranzukommen und es besser betrachten zu können. Zaghaft streckte er seine Finger aus, scheute sich aber, es zu berühren. Vielleicht war es nur eine dünne Mörtelschicht, die ausbrechen würde, wenn er es anfasste.
Sie war so schön, die rote Dame. Ihr Gesicht war so milde, so weise. Sie lächelte. Ihr im Schein der schwachen Lampe kupfern glänzendes Haar umspielte ihr Haupt wie ein Flammenkranz. Merrit verstand nicht, wer sie war, was auf diesem uralten Bild dargestellt war. Vermutlich war es etwas Ähnliches wie die mysteriösen Passagen in dem Ritterroman, dachte er sich. Ein Geheimnis, für das er noch zu jung war. Aber in seinem unruhigen kleinen Knabenherzen erwachte plötzlich etwas, das er noch weniger verstand.
Eine Weile hockte er da wie gebannt und schaute, bis die Kerzenflamme bedenklich zu flackern begann. Gleich würde sie verlöschen und er würde nichts mehr sehen können in dem finsteren Zimmer. Merrit Althopian zögerte einen Moment. Dann kletterte er vom Tisch herunter, aber nur, um den roten Wintermantel des ehemaligen Bewohners aus der Truhe zu ziehen. Es gab ein Bett in seinem Turmgefängnis, aber das interessierte den Jungen nicht. Merrit Althopian kuschelte sich auf dem silbergefleckten Tisch unter dem Bild der roten Dame in das alte Kleidungsstück und befahl sich für den Schlaf den Mächten. Die Frau auf dem Bild, wer immer sie gewesen sein mochte, die würde ihn vor bitteren Ideen und der unerträglichen Trauer beschützen.
Dazu war sie da.
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