
Der Prachtvogel flatterte mit großem Gekreisch hoch. Galéon war unbegreiflich, wieso er das Tier zuvor nicht bemerkt hatte. Er war zu beschäftigt damit, die kräftigen Flügel und den bezahnten Schnabel abzuwehren, lang wie ein Finger und scharf wie ein Dolch. Das Gefährlichste waren jedoch die Sporen an den Unterschenkeln des Vogels. Sie waren erheblich spitzer und härter als bei einem Huhn und angesichts der beeindruckenden Größe des Vogels durchaus geeignet, einem Menschen tiefe Fleischwunden beizubringen. Das wehrhafte Tier versuchte, Galéon ins Gesicht zu springen, aber der báchorkor riss instinktiv seinen Stab hoch, um sich zu schützen. Die kräftigen Krallen gruben sich in das Holz. Der Prachtvogel reckte seinen Hals, spreizte seinen dekorativen Schwanz und zischte wie eine wahnsinnige Gans.
Galéon stolperte zurück und versuchte hastig, den Vogel von seinem Stab abzuwehren. Aber das Tier, sicher einst aus einem der vornehmen Gärten entwichen, ließ sich nicht so einfach verscheuchen. Angesichts dessen, dass es vermutlich in der Dunkelheit nicht besonders gut sehen konnte, trat und pickte es wahllos um sich und veranstaltete dabei so ein Getöse, dass Galéons vorangegangene Vorsicht und Stille dadurch zunichte wurden.
„He!”, rief der eine Knecht, der vom Honig so nervös gewordene. „Was ist da?”
Galéon versetzte dem Vogel einen verzweifelte Schlag, erreichte damit aber nur, dass das Tier sich erst recht auf ihn stürzte. Mit den Fängen bekam der immer noch aufgebracht trompetende Vogel erneut den Stab zu fassen und warf den báchorkor zu Boden. Wie ein Greif hockte er ihm auf der Brust und spreizte die Flügel. Der Schnabel fuhr links und rechts neben Galéons Gesicht nieder, kaum dass der sich rechtzeitig abwenden konnte. Der junge Mann hatte stets gerätselt, was die Reichen dazu veranlasste, sich die majestätischen Monster in ihre Gärten zu holen.
Nun, sie waren vermutlich effektiver als scharfe Hunde, und preiswerter im Unterhalt.
Hastige Schritte kamen auf ihn zu. Der nervöse Knecht hatte eine Fackel am Feuer entzündet, brachte so ein wenig Licht mit und erkannte, die Sinne wahrscheinlich geschärft durch seine Unruhe, was geschehen war.
„Du!”, rief er verblüfft aus.
Galéon wusste sich anders nicht zu helfen. Geistesgegenwärtig warf er den Prachtvogel samt dem Stab dem herbeieilenden Mann entgegen.
Der Knecht wich erschrocken zurück und ließ seine Fackel fallen, um den Vogel abzuwehren. Dem schien es einerlei, wen er attackierte. Sein markerschütterndes Tröten vermengte sich mit den Hilfeschreien des Angegriffenen. Galéon rappelte sich hastig auf, um weiter zu fliehen.
Aus dem hohen Gras tauchte der von Koliken geplagte Knecht auf. Sein gepeinigter Gesichtsausdruck wich dümmlicher Verblüffung. Offenbar überlegte er kurz, ob er seinem bedrängten Kumpan beistehen sollte, aber er besann sich.
„Ich krieg dich!”, brüllte er stattdessen über den Kampfschrei des Vogels und das irritierend schrille Männerkreischen hinweg und schnellte aus seinem Versteck hervor.
Dass er aus naheliegenden Gründen seine Hosen heruntergelassen hatte, bremste ihn aus. Kaum zwei Schritte voran, verlor er den Halt und schlug der Länge nach hin.
Galéon rannte. Nun war wirklich alles egal. Bei diesem Spektakel machte es keinen Unterschied, ob man seine Schritte hörte. Schnell wie ein Windninchen stolperte der junge Mann den Hügel hinab, ließ den Tumult aus Männer- und Vogelstimmen hinter sich und flehte zu den Mächten um irgendeine Form der Rettung.
Aber die Dunkelheit, das Gefälle, Steine und Wurzeln, die er nun nicht mehr im Voraus ertasten konnte – all das schien sich gegen ihn verschworen zu haben. Er taumelte, verlor mehrfach den Halt und konnte sich gerade noch an halbtoten Onstbäumen abfangen, bevor er stürzte. Längst hatte er die Richtung verloren, an der am Fuß des Hügels die Straße verlief. Der báchorkor keuchte vor Anstrengung und staunte zugleich in einem seltsamen Zustand, in dem er sich von außen zu beobachten schien, welche Kraftreserven die Angst und Beharrlichkeit in ihm aktivierten. Er sah sich selbst durch die finsteren Reste des einstmals üppigen Obsthaines hetzen und hörte mit verstörender Klarheit die Stimmen seiner Verfolger, einschließlich des tobenden Vogels, der nun wohl dazu angespornt war, die menschlichen Störenfriede aus seinem Reich zu vertreiben.
Auch Licht verfolgte ihn nun zwischen den dürren Bäumen hindurch. Sie hatten ihre Fackel bei sich. Und er war nicht so schnell, wie er es sich gewünscht hätte.
Was sollte geschehen, wenn es ihm gelang, die Straße zu erreichen? Was hatte er davon? Mehr als weglaufen konnte er nicht, und sofern er nicht sofort auf ein ganz außergewöhnlich gutes Versteck stieß, würden sie ihn hetzen, bis ihm auch die letzte Kraft ausging. Selbst sein ursprünglicher Plan, sich am Fuß des Hügels am Straßenrand weiter in die Büsche zu schlagen, war nun obsolet, denn sein Vorsprung war dahin geschmolzen. Sie konnten sehen, wohin er abbog.
„He! Bleib stehen!”, rief einer der beiden.
„Du entkommst uns nicht!”, versicherte der andere jammernd.
Ein größeres Gebüsch, oder vielmehr eine über viele Sommer verwahrloste und halbwelke Hecke tauchte im Dunklen vor Galéons Lauf auf. Er schlüpfte hinein und bereute es im selben Augenblick, denn es war ein Dornbeerstrauch, dessen drahtige Ästchen ihm ins Gesicht peitschten und heiß blutende Spuren hinein rissen. Er verbiss sich einen Schmerzenslaut und duckte sich unter die Blätter. Die verholzten Zweige verfingen sich in seinen Locken und zerrten daran.
Die beiden rannten am Gebüsch vorbei, aber sie waren doch nicht so tumb, wie Galéon schwach gehofft hatte. Natürlich bemerkten sie, dass das Ziel ihrer Jagd nicht mehr unüberhörbar vor ihnen dahin stolperte.
„He! Wo biste hin?” Der eine, dessen Darmbeschwerden offenbar im Augenblick kuriert waren, stapfte heran, war aber weit neben dem Busch.
„Komm raus!” Der Nervöse und seine Fackel mussten auf der anderen Seite sein. „Wir wollen doch ganz in Ruhe miteinander reden!”
Das stand zu bezweifeln. Galéons Herz klopfte ihm bis zum Hals. Vielleicht konnten sie es hören.
„Bestimmt ist er da drin!” Schritte, viel zu nahe.
„Das is’n Stachelbusch. Da geht nur’n Verrückter rein.”
„Passt doch!”
Galéon hielt den Atem an und versuchte lautlos, sein Haar zu befreien. Die beiden trennten sich, um den Busch zu umrunden. So flach wie möglich presste der junge Mann seinen Bauch auf die Erde und horchte. Jeder falsche Atemzug würde das trockene Laub verdächtig rascheln lassen.
Konnte es gelingen? Würden sie weitergehen, um anderswo nach ihm zu suchen? Wenn sie es sich nur anders überlegten … die Straße musste so nahe sein, wenn dieses Gebüsch Teil der Einfriedung war. Und was sollte es sonst darstellen? Dornbeeren enthielten bitteres Öl und waren ungenießbar, niemand käme auf den Gedanken, sie mitten in einem Garten anzupflanzen. Ihre Stacheln jedoch waren wirksamer als jeder Zaun, weshalb diese Hecken fast immer auf eine Grundstücksgrenze hinwiesen.
„Wenn der Alte rausbekommt, dass der Kerl abgehauen ist …”
„Muss er das erfahren?”
„Denkste, das merkt er nicht?”
„Wenn wir einfach sagen, hier war nichts?”
Der andere schien einen Moment darüber nachzudenken. Galéon schöpfte Hoffnung. Ob ihre Feigheit ihn retten würde?
„Ne”, sagte der Erste. „Das bekommt er spitz. Und dann geht’s uns schlecht.” Er ächzte. „Oh, mein Bauch …”
„Was der Alte nur an dem Kerl findet! Ist doch nur ein dummer báchorkor!”
„Vielleicht ‘n Stück für seine Sammlung”, versuchte der andere offenbar einen Scherz.
„Das waren nur Bücher und Kram. Hab in die Kisten geschaut.”
„Lohnt sich?”
„Keine Ahnung. Von Büchern versteh ich nichts. Waren aber ‘n paar Silbersachen dabei.”
Galéon runzelte die Stirn und entzog die letzte festsitzende Haarsträhne dem Griff des Busches. Wovon redeten die zwei denn nun wieder?
„Silbersachen! In Aurópéa! Will doch keiner haben! Wertloses Zeug.”
„Vielleicht, in Aurópéa. Aber in Ivaál oder Forétern. Oder in Ferocrivé.”
„Erstmal hinkommen. Los, wir suchen weiter!”
Planten die beiden etwa, sich von Úldaise abzusetzen und den Alten vorher um einige Schätze zu erleichtern? Und warum gingen sie nicht endlich nachschauen, ob er nicht womöglich in einem anderen Busch hockte?
Da fuhr Feuer direkt neben Galéon Schulter in den Busch. Flammen flossen von der Fackel auf die drögen, aber leicht brennbaren Zweige über, als habe man Wasser darüber gegossen. Einen Lidschlag später loderte es prasselnd und heiß auf. Das Feuer berührte ihn nur kurz, aber es reichte aus, um seinen Oberarm unter dem verschlissenen Ärmel zu versengen.
Schmerz! Galéon keuchte, ignorierte die Stacheln und kämpfte sich quer durch den Busch ins Freie. In Feuer konnte er sich nicht verborgen halten.
„Also doch!”, rief der Nervöse.
„Packen wir ihn!”
Und die Jagd ging weiter. Der báchorkor, von Dornen und Vogelkrallen zerschunden und nun auch noch von Flammen versehrt, taumelte vom Feuer weg, während sich der Prachtvogel, der immer noch in der Nähe gewesen war, schreiend in den Nachthimmel erhob. Haken schlagend versuchte der báchorkor, zwischen den trockenen Bäumen zu entwischen, schaffte es tatsächlich mehr als einmal, den fast schon zupackenden Händen zu entschlüpfen und die beiden dazu zu bringen, sich gegenseitig zu behindern. Aber der Vorsprung war nun auf wenige Armlängen geschmolzen. Auch die gepflasterte Straße im Mondlicht, die Galéon vorhin noch als Rettung erachtet hatte, brachte nun kaum noch einen Vorteil. Er wagte es dennoch, was hätte er anderes tun sollen? Er wandte sich nach Westen und rannte, was seine Beine noch hergaben, entledigte sich aller störender Gedanken und begann, zu rennen … rennen … und die beiden Verfolger hinter sich zurückfallen zu lassen.
Das gelang, bis er Hufschlag im Galopp hinter sich hörte. Er widerstand dem Reflex, sich umzuschauen und damit wertvolle Momente zu verlieren. Aber im selben Augenblick, in dem er den Reiter bemerkte, war es ihm klar, dass seine Flucht zu Ende war.
Der Reiter überholte ihn und riss dann sein Pferd abrupt zur Seite und in den Weg des Flüchtenden. Galéon konnte nicht mehr ausweichen, spürte einen harten Tritt gegen seinen Kopf, Haut platzte auf und sein Blick verschwamm. Einen Lidschlag später fand der báchorkor sich rücksichtslos niedergeritten am Boden. Zwei Atemzüge später war er unter den massigen Leibern der beiden Knechte begraben. Sie warfen sich auf ihn wie Säcke voller nassem Sand.
„Wir haben ihn, Herr!”, rief der Nervöse triumphierend aus.
Der andere drückte den schwach zappelnden báchorkor nieder. „Genau, wie Ihr es befohlen habt!”
Úldaise schaute mit unbewegter Miene auf die drei Männer nieder. Er hatte eine kleine Laterne mit einem schwimmenden Öllicht am Sattel, wie sie nächtliche Reiter oft trugen. Der Anblick seiner Knechte schien ihm Fassung abzuverlangen.
„Das sehe ich”, sagte der sinor dann kühl. „Was, beim Chaos, ist hier los?”
„Wir haben den hier gejagt und zur Strecke gebracht!”, berichtete der Nervöse aufgekratzt. Offenbar überkam ihn gerade ein völlig unpassender Taumel des Triumphs.
„Und du? Warum trägst du keine Hosen?”
Der Darmkranke schaute an sich herunter und wurde rot wie eine Zerisie. „Muss ich verloren haben”, nuschelte er beschämt.
Úldaise saß behände von seinem Pferd ab. „Und worauf wartet ihr? Soll er gleich wieder entwischen? Ich hoffe, ihr habt das Zeug zur Hand?”
„Natürlich, Herr. Schaut, ich hab es bei mir. Wie Ihr gesagt habt.” Der Nervöse lüftete sein Hemd. Er hatte sich mehrere goldverzierte Lederzügel wie Gürtel um die Taille geschlungen.
Der andere zog Galéon auf die Füße. Úldaise kam näher. Seine bleiglänzenden Augen waren trotz der Dunkelheit überraschend gut zu erkennen. Das Laternenflämmchen spiegelte sich darin.
„Wer hat dich befreit?”, fragte der sinor. „Du hättest tot sein sollen. Und nun stehst du lebendig und unverschämt hier, an einem Ort, den du nie hättest erreichen sollen. Ich hätte gern eine Erklärung dafür.”
Galéon setzte dazu an, sich zu verteidigen. Es war das erste Mal seit seinem Sturz in den Brunnen, dass er versuchte, laut zu sprechen. Doch über seine Lippen kam nur ein unverständliches Lallen.
„Isser besoffen?”, fragte der Knecht verdutzt, in dessen Griff er hing.
Úldaise nahm er seine Laterne vom Sattel, tat einen Schritt auf Galéon zu und zwang mit seinen knochigen Fingern dessen Kiefer auseinander.
„Ausgezeichnet”, sagte er und leuchtete prüfend in Galéons Mund. „Wusstest du, dass deine Zunge hinüber ist, báchorkor?”
Galéon nickte. Der verfluchte, stachelbewehrte Knebel, der nun am Grund des Brunnens lag. Das Blut, die Taubheit und die unangenehme Schwellung hatte er die ganze Zeit bemerkt, sich aber keine Gedanken darüber gemacht, solange er nicht hatte reden müssen. Warum auch? Er war es gewohnt, dass auch tiefe Wunden früher oder später verheilten. Die arcava’ay hätten es mit einem Wink heilen können.
„Eine unangenehme Sache, gerade für einen báchorkor, der mit seinem Geplapper seinen Lebensunterhalt verdient. Andererseits … es ist ohnehin besser, wenn du nicht zu viel erzählst. Vor allem nicht den falschen Leuten.”
„Was mach ich damit?”, fragte der Knecht, der sich zwischenzeitlich der Riemen entledigt hatte. Der sinor nahm sie ihm aus der Hand.
„Schau her, báchorkor. Ich habe mir Gedanken gemacht. Hieraus kannst du nicht entschlüpfen. Die hier sind so gewirkt, dass Magie an ihnen abprallt. Du solltest zu schätzen wissen, wie viel Mühe ich mir mit dir gebe.” Er warf die kostbaren Zügel seinem Handlanger wieder zu. „Mach ein paar feste Knoten.”
„Klar, Herr. Und dann?”
„Ja, was dann.” Úldaise rieb sich nachdenklich den Bart. „Ich denke, es ist am besten, wenn wir diesen Spitzbuben mit seinem harmlosen Aussehen und seinem unschuldigen Blick dem Gesetz überantworten. Diesmal ganz offiziell und förmlich. Es ist ja nicht nur so, dass er dem edlen sinor Saháalír seine wertvollen Spielfiguren gestohlen hat.” Úldaise deutete auf den Feuerschein auf dem Hügel, der zwischenzeitlich weithin sichtbar flackerte, denn das Feuer vom Dornbeerenbusch erfasste mehr und mehr von der trockenen Vegetation. „Nun brennt der Strolch auch noch aus purer Zerstörungswut meinen geliebten Obstgarten ab!”
„Aber …”, hob der wortkargere Knecht an, aber der andere, der mit den Zügeln in der Hand, brachte ihn mit einem Zischen zum Schweigen. Galéon hob überrascht die Brauen.
„Ja, du hast richtig gehört, báchorkor. Dieses Stückchen Garten gehört rein zufällig tatsächlich mir. Ich habe es vor langer, langer Zeit gekauft, damit sich nicht allzu viel unbefugtes Volk auf dem Hügel herumtreibt. Du hast sicher bemerkt, warum, nicht wahr?”
Galéon lächelte bitter und nickte. So war das also.
Úldaise lächelte zurück. In seinem Grinsen lag der größere Triumph.
„Ich denke, das Ganze bedarf nicht einmal des Aufwands eines förmlichen Urteils. Dieser báchorkor ist nach Aurópéa gekommen, um den sinoray zu schaden. Vielleicht steckt mehr dahinter. Vielleicht war all das der Auftakt zu einem geplanten Umsturz. Nun, Aurópéa wird mir danken, dass ich in meiner Wachsamkeit mich nicht von diesem artigen Auftreten und der Beredsamkeit habe täuschen lassen.” Er wandte sich seinen Knechten zu.
„Bindet ihn auf mein Pferd und bringt ihn in die Weststadt. Wie ich vorhin sah, ist dort derzeit noch die Zelle frei. Sagt der Stadtwache, ihr kommt auf mein Geheiß. Sie sollen ihn gut unter aller Augen bewachen und haften mir persönlich dafür, dass er nicht entkommt. Unglücklicherweise fiel es den Mächten ein, dem ehrenwerten sinor Saháalír einzugeben, unbedingt noch einmal den Verbrecher ansehen zu wollen, bevor wir ihn der Wüste übergeben. Du wolltest doch wissen, was es mit der Wüste auf sich hat, nicht wahr?” Úldaise faltete selbstzufrieden die Hände. „Nun, ich weiß es. Und ich bin gespannt, wie es dir gefällt. Was mit dir geschehen wird. Das weiß ich nicht zu sagen. Aber ich habe das Gefühl, dass es interessant werden wird.”
Galéon schauderte. In Úldaises Augen stand nun etwas Bedrohliches, umso beängstigender, weil der báchorkor nicht erkennen konnte, was es war, das ihm da aus den glasiggrauen Augen entgegenblickte.
„Und was tut Ihr?”, lenkte der Nervöse den sinor ab, während der mit den Darmkrämpfen Galéon mit den Lederzügeln die Arme hinter den Rücken band, mit einer Rohheit, die auf seinen Gemütszustand schließen ließ.
„Ich werde hier warten”, sagte Úldaise. „Es kann nicht lange dauern, bis Regenbogenritter hier auftauchen. Ihr habt sie mit dem Fanal hier angelockt. Sie werden das Feuer löschen, bevor es auf einen anderen Garten übergreift. Also sputet euch, dass ihr bis dahin weg seid! Sobald der da hinter Gittern sitzt, behält einer von euch ein Auge drauf und der andere bringt mir unverzüglich das Pferd zurück. Ist das klar? Und wenn ihr Euch damit zu viel Zeit lasst, dann …”
Er musste seine Drohung nicht aussprechen. Die beiden wuchteten Galéon in den Sattel. Der báchorkor ließ es ergeben und ohne Widerstand mit sich geschehen. Es war vorbei. Die Mächte hatten ihn entkommen lassen, nur um ihn auf diese Weise wieder niederzuwerfen. Während ihm Blut von der Stirnwunde über Brauen und Nase tropfte und der Nervöse ihm die Hände an der Rückenlehne festzurrte, räusperte sich der andere verlegen. „Herr …”
Úldaise schaute ihn von oben bis unten an und schüttelte ungnädig den Kopf. „Das, Schwachkopf, ist ganz allein dein Problem.”
***
Dýamirée klammerte sich an Perlenglanz’ Sattel fest. Das Einhorn jagte in gestrecktem Galopp über die Wiese und hielt die Schwingen angewinkelt am Körper. Seine Klauen gruben sich bei jedem Sprung tief in die Erde wie ein Pflug. Das Tier ließ sich nicht lenken. Es war verwirrt.
Cýelú war aus dem Wasser heraus gewatet und rannte nun tatsächlich hinter seinem Reittier her, ein lächerliches Unterfangen, obwohl er trotz seines Metallzeugs ganz erstaunlich schnell und beweglich war.
„Perlenglanz!”, schrie er. „Perlenglanz! Komm sofort zurück!”
Dýamirées Herz raste. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass das Tier derart stark und schnell war, und offensichtlich überfordert damit, jemand anderen zu tragen als seinen Herrn, der da schimpfend und flehend über das Gras klapperte.
Das Sattelzeug war glatt und viel zu groß für das Kind. Dýamirée klammerte sich an den Zügeln fest, einerseits, um selbst etwas zu haben, das wie ein sicherer Griff aussah, andererseits um zu verhindern, dass das buckelnde Tier sie über seinen Kopf warf und sich dann mit den Beinen darin verfing. Wenn sie stürzte und herunterfiel und der riesige Körper sie unter sich begrub, dann würde sie zerquetscht.
Cýelú schien außerstande zu sein, das Einhorn oder sie selber mit Magie wieder unter Kontrolle zu bringen. Während sie um ihr Leben fürchtete, erfasste Dýamirée vorüberfliegender Stolz darauf, instinktiv richtig gelegen zu haben. Wasser war also für arcaval’ay etwas Ähnliches wie Gold für Schattensänger. Wasser war ein Bannkreis, der Regenbogenrittermagie zumindest kurzzeitig unterbrach. Warum sonst sollte sich der mächtigste, der oberste arcaval’ay erniedrigen, indem er zu Fuß ein entlaufenes Ross jagte? Er erreichte das Tier nicht mit seinem Willen, seiner Stimme oder womit auch immer er es üblicherweise beherrschte.
„Perlenglanz! Verdammt noch mal! Komm sofort zurück!”
Aber das Einhorn gehorchte nicht. Die Stimme seines Reiters war da, wo sie nicht hingehörte. Jemand hatte die Zügel in der Hand und zog sinnlos daran. Das Gewicht auf seinem Rücken war viel, viel zu gering. Und doch war da etwas Lebendiges. Es war dunkel. Einhörner mochten die Dunkelheit nicht besonders.
Was sollte das Tier tun? Rennen? Auffliegen? Stehenbleiben? Das zerrende kleine Gewicht auf seinem Rücken abschütteln? Perlenglanz schnaubte und fauchte. Er sprang seitwärts voran wie ein monströses Ziegenkitz und wechselte die Richtung, indem er ein paar Schritte rückwärts tat. Wo war die Sonne? Wo war er? Was war das für ein Ort mit dem spiegelnden Wasser? Wo war sein Herr, der ihn lenkte?
Dýamirée wimmerte. So hatte sie sich ihre Flucht nicht vorgestellt. Zuerst hatte sie irgendetwas versucht, im Wasser zu packen, vielleicht so ein Mensch mit grüner Haut und Schwimmhäuten, der unter Wasser lebte, so wie in manchen der sonderbaren Märchen der Mutter. Aber was immer es gewesen war, sie war entschlüpft. Sie hatte keine Zeit für so etwas. Sie brauchte das Einhorn! Sie musste zurück nach Hause!
Aber Perlenglanz reagierte anders, als sie es sich gedacht hatte, und hier auf seinem Rücken, ganz allein und ohne den Erwachsenen, wurde ihr plötzlich bewusst, wie riesig und wild das Tier war. Die ungeheuren Flügel schlugen unschlüssig, irgendwo zwischen Aufflattern und Drohgebärde, und dabei erzeugten sie einen Wind , der ihr die Haare ins Gesicht drückte.
Wie anders war es gewesen, wenn der Vater sich, nur zu ihrem Vergnügen, zuweilen in ein Pferd verwandelt und sie durch den Wald getragen hatte, ohne Sattel, ohne Zaum, seine wallende schwarze Mähne als einziger Halt für ihre Kinderfinger. Vor Spaß und Glück gejauchzt hatte sie, wenn er mit ihr um den See herum und durch das flache Wasser geprescht war, nicht selten zum Entsetzen der Mutter, der die Ausgelassenheit von Vater und Tochter nicht recht geheuer war. Offenbar erinnerte sie das an eigene Erlebnisse, die sie sehr verstört hatten. Sie beide hatten versprechen müssen, vorsichtiger zu sein. Das hatten sie beherzigt. Sie achteten beide nun noch mehr darauf, dass die Mutter ihre übermütigen Spiele nicht bemerkte und sich darüber beunruhigte.
In seiner Pferdegestalt war der Vater viel kleiner als Perlenglanz. Und er verhielt sich nicht wie ein Tier.
Cýelú, dessen Schimpfen und Schreien nicht wirkte, verlegte sich darauf, nun zu gestikulieren. Heftig winkend versuchte er, das Einhorn zu treiben, es in Richtung des Wassers zu scheuchen, vielleicht in der Hoffnung, Perlenglanz würde den Tümpel als eine Art Begrenzung, als Zaun verstehen.
Tatsächlich. Perlenglanz drehte ab, bevor er das Wasser erreichte. Dýamirée krallte sich in die federzarte Mähne, die Zügel und die vordere Kante des Sattels. Aber sie war zu stolz, um um Hilfe zu rufen. Immerhin hatte sie selbst sich in diese Lage gebracht.
Und wenn das Einhorn aufflog? Wenn es die Flügel aufmachte und abhob? Und sie dann in der Luft versuchte, abzuschütteln?
„Kind”, brüllte Cýelú. „Lass die Zügel los!”
Loslassen? Und den Halt verlieren? Sie griff nur noch fester zu. Er versuchte erneut, das kehrtmachende und heran preschende Tier zwischen sich und dem Wasser in die Enge zu treiben.
Sie versuchte, zu antworten, aber sie hatte nicht den Atem dazu.
„Perlenglanz!”
Es hatte keinen Sinn. Cýelú Irísolor ließ die Schultern sinken. „Halt dich fest!”, rief er. „Kleines, halt dich gut fest!”
Und dann hob er die Hand und warf einen Zauber. Golden gleißende Energie zuckte an Dýamirée vorbei, entfaltete sich und wurde am Boden zu sprühendem Feuer, zu Funken, die empor stoben wie himmelwärts aufsteigender Hagel. Perlenglanz scheute und warf sich herum. Da erschuf Cýelú hinter ihm einen gleichartigen Funkenregen. Beides war nicht von Dauer und sank binnen kürzester Zeit vom übermannshohen Feuervorhang nieder bis auf kniehohe Flammen. Aber es bremste das tänzelnde Einhorn lange genug, damit Cýelú heraneilen konnte.
Im nächsten Moment hing der Regenbogenritter mit seinem ganzen Gewicht an Perlenglanz’ Sattel und versuchte, die Zügel zu erhaschen. Dýamirée wich seinen Händen aus, und das Einhorn, dergestalt erschrocken, verstört und bedrängt, stieg mit einem dröhnenden Schrei auf die Hinterbeine.
Ein Schlag seines mächtigen Ellenknochens stieß Cýelú Irísolor zu Boden. Perlenglanz strampelte mit den Vorderbeinen in der Luft, und als er wieder aufkam, lag der Regenbogenritter zwischen seinen stampfenden Füßen. Dýamirée nahm all dies zugleich wahr, begriff, in welcher Gefahr sich der benommene arcaval’ay befand und überlegte keinen Augenblick.
Das kleine Mädchen ließ sich aus dem Sattel gleiten, fiel unsanft nieder, hechtete voran und warf sich instinktiv über den ungeschützten Kopf des Mannes.
Einen Moment lang waren die messerscharfen Einhornklauen überall, links, rechts und über ihr, gruben sich tief in den Erdboden.
Dann war es vorbei. Perlenglanz stand, schüttelte schnaubend seine Mähne und neigte den Kopf zu seinem Herrn hinab. Der Einhornhengst schnupperte prüfend und stieg dann ganz behutsam über der kleinen weinenden und zitternden sowie den großen reglosen Menschenkörper hinweg, um nach all der Aufregung ein bisschen weiter zu grasen.
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