
Ich war geschwommen, mehrere Stunden lang. So lange, bis der Himmel über mir jene glühende Farbe angenommen hatte, welche die sinkende Sonne begleitete, während Noktáma ihn von Süden her mit ihrer samtenen Dunkelheit auffüllte.
Was derweil tatsächlich am Himmel geschah, das wusste ich nicht. Ich begriff nicht, wie das, was ich aus meinem alten Leben über Mond und Sonne und Planeten kannte, hier in dieser Welt funktionierte. Ich hatte anfangs versucht, Yalomiro darüber auszufragen. Aber schon bald hatte ich begriffen, wie sinnlos es war, mit jemandem für den die Existenz alternativer Wirklichkeiten selbstverständlich war, über Astronomie mit Sonnensystemen, Raumschiffen und schwarzen Löchern zu reden. Yalomiro hatte meinen unbeholfenen, laienhaften Ausführungen eine Weile geduldig zugehört. Dann hatte er mich gefragt, ob es für mich persönlich einen großen Unterschied mache zu wissen, dass ich auf einer winzigen Steinkugel um einen riesigen Feuerball herum wirbele, oder ob zwei unbegreifliche Wesenheiten im Wechsel die Welt verdunkelten und erhellten.
Ich hatte mich erschreckt und befürchtet, überheblich mit meinem menschlichen, rationalen Wissen an tiefe spirituelle Gefühle gerührt zu haben, vielleicht dabei taktlos gewesen zu sein. Man konnte so leicht vergessen, dass Yalomiro der letzte und somit oberste Geweihte einer Macht war, die die Menschen dieses Weltenspiels als treibende Kraft hinter ihrem Schicksal verstanden. Es lag mir fern, anzudeuten, dass ich die Bewohner dieser Welt für rückständig oder dumm hielt, nur weil sie sich keine Gedanken über das materielle Universum machten. Ich hatte selbst erlebt, dass es Irrationales, Unbegreifliches gab, was das Weltenspiel antrieb und bedrohte, Das waren Erfahrungen gewesen, die sich nicht mehr mit volkstümlicher Mythologie abtun ließen, die sich einfache Menschen zurechtlegten, um sich ihre Welt zu erklären.
Je länger ich darüber nachdachte, umso verwirrender hatte ich es gefunden. Yalomiro aber hatte am Ende gemeint, dass es in der Sache relativ egal sei, ob Pataghíu sich als gewaltiges Feuer am Himmel manifestierte und Noktáma als eine unendliche dunkle Weite mit vielen kleinen Lichtern darin. Als ich gefragt hatte, ob er das ernst meine, hatte er nur rätselhaft gelächelt, und ich hatte beschlossen, das Thema vorerst ruhen zu lassen. Vielleicht wusste er mehr, als er zugab.
Nun aber, während ich im letzten Rest Tageslicht im See umher trieb und die Schwerelosigkeit genoss, dachte ich darüber nach. Welche Gestalt Noktáma auch immer annehmen mochte, ich wollte sie mir jetzt nicht als kalte Unendlichkeit vorstellen. Damit hätte ich das wunderbare, tröstende Gefühl zerstört, das das Wasser mir gab.
Seit ich mit Yalomiro in den Boscargén zurückgekehrt war, hatte ich eine besondere Beziehung zu der großen ruhigen Wasserfläche. Es war damals gewesen, als habe der See nur darauf gewartet, dass ich das Wasser berührte. Als ich schließlich mit beiden Füßen zugleich hineingeraten war, hatte das meine maghiscal mit einem Schlag aktiviert. Es war ein überwältigendes, erschreckendes Gefühl gewesen, und zugleich eines, das ich in der Folge immer wieder bewusst gesucht hatte, indem ich unter den Sternen hier badete. Schon bevor ich in diese Welt gekommen war, hatte ich leidlich schwimmen können, eben genug, um ein paar Bahnen in einem Schwimmbecken zu ziehen, ohne unterzugehen. Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, es in einem Naturgewässer zu tun, und schon gar nicht ohne Badebekleidung. Yalomiro hatte mich gewarnt, nicht gerade bis zur Mitte des Sees hinauszuschwimmen, da dessen Bodenlosigkeit an der tiefsten Stelle gewisse tückische Strömungen verursachte. Entsprechend vorsichtig war ich. Das Wasser war so spät im Jahr recht kalt, aber sobald ich einmal darin eingetaucht war, spürte ich das nicht mehr. Der See nahm die Schwere von meinem Körper, umfloss mich dichter und schützender als die Luft, und es reagierte mit den schwachen maghiscal, die sich seit gestern wieder aufgebaut hatte. Genau das hatte ich gehofft. Ich hatte mich ausgetrocknet gefühlt wie eine Topfpflanze, die zu lange in der Sonne gestanden hatte. Die im Wasser gebundene Magie zersetzte sich und begann, sich an die maghiscal anzulagern.
Vielleicht, so überlegte ich, während ich mich auf dem Rücken treiben ließ, sollte ich dieses abendliche Bad zu einem Teil meines persönlichen Rituals machen. Es tat so gut. Und während ich mich vom See tragen ließ, überkam mich urplötzlich ein Gefühl von Zuversicht. Es fühlte sich richtig an. Es kräftigte mich, bewirkte, dass ich mich fokussieren konnte, auf das, was ich wollte, was wichtig war, was …
Und dann glaubte ich, dass da etwas ganz nahe bei mir im Wasser war; war und zugleich nicht war. Ich erkannte es, griff instinktiv danach und hindurch, und …
Dýamirée!
***
Der kleine Tümpel war eine jämmerliche Pfütze gegenüber dem See im Boscargén, den Dýamirée so sehr liebte. Aber etwas Besseres hatte das kleine Mädchen nicht, und mit ein wenig Glück würde es genügen. Doch es musste schnell gehen. Der Regenbogenritter durfte sich nicht lange besinnen.
Das Kind hustete nachdrücklich, vergewisserte sich, dass der arcaval’ay kurz aufmerksam den Kopf hob. Dann begann das Mädchen, wie suchend am Ufer hin und her zu laufen, ein paar Schritte nach links und dann wieder nach rechts. Gebannt betrachtete sie das Wasser und aus den Augenwinkeln den Mann am Feuer, der sich endlich tatsächlich aufsetzte.
„Was ist los?”, rief er ihr zu.
„Mein Boot!”
„Was ist damit?”
„Es ist weg!”
Cýelú Irísolor rappelte sich auf, und Perlenglanz, der spürte wie sein Herr sich bewegte, hob den Kopf unter seinem Flügel hervor.
„Ist es dir weggeschwommen?”, fragte der Regenbogenritter.
„Ich glaube, ein großer Frosch hat es weggetragen!”
„Ein Frosch?”, fragte Cýelú belustigt.
„Vielleicht gibt er es mir wieder, wenn ich verspreche, seine hýardora zu werden.”
„Was?”
„Na, wie in dem Märchen mit der dummen teirandanja mit dem Edelsteinball im Brunnen. Mama sagt, wenn man an tiefen Löchern spielt, muss man seine Sachen immer gut festhalten.”
„Nun, wo ist es denn, dein Boot? Kannst du es noch sehen?”
Er war bis auf wenige Schritte an den Tümpel heran. Dýamirée atmete tief ein.
„Dort!”, rief sie und deutete hinüber zu einer Gruppe Teichwachteln, die friedlich schlafend auf dem Wasser dümpelten.
Er wandte den Kopf dorthin, und Dýamirée tat einen beherzten Satz und sprang hinein in das trübe Wasser. Das Spritzen und Platschen schreckte weitere Vögel auf, die im Schilf verborgen gewesen waren.
Cýelú Irísolor fuhr herum, erschrocken und für einen Wimpernschlag starr vor Schreck.
„Kind!”, rief er aus.
Und da tauchte Dýamirée auch schon wieder auf, einen Steinwurf vom Ufer entfernt.
„Ich hole es mir schon”, rief sie ihm prustend zu und tauchte unter.
Cýelú war zu überrascht, um sofort zu reagieren. Aber schon einen Atemzug später hatte er sich gesammelt und tat einen Schritt ins Wasser, ruderte überrascht mit den Armen, schwankte und kam gerade rechtzeitig wieder ins Gleichgewicht. Der Grund war schlickig, hatte ein überraschendes Gefälle und das Wasser reichte ihm augenblicklich bis auf die Höhe seines Oberschenkels. Für ein zierliches Kind wie Dýamirée war das ausreichend tief, um unterzutauchen und weiter in die Tiefe zu gleiten.
„Kind! Komm sofort wieder her!”
Das Wasser plätscherte unruhig, aber es war zu dunkel, als dass der Regenbogenritter den Ort genau hätte lokalisieren können. Als Dýamirée das nächste Mal auftauchte, befand sie sich weitab von den aufgestörten Wasservögeln.
„Kind!”
„Ich hab es gleich! Hier, es hängt im Teichtang fest! Ich hole es schnell!”
Wieder tauchte sie unter. Aber nun hatte Cýelú Irísolor gesehen, wo sie war und watete ärgerlich tiefer ins Wasser. Der Tümpel schien am Grund eine zwar steil abfallende, aber nicht allzu große Tiefe zu erreichen. Zumindest dachte der Regenbogenritter das, bis unter seinen goldbeschlagenen Stiefeln ein Batzen glitschiges Laub und Schlick ins Rutschen kam und er der Länge nach in die moderigen Fluten hinschlug.
Spuckend kam er wieder auf die Füße. Das Wasser war hier war bereits hüfthoch und voller aufgewühltem Schlamm.
„Ich hab es”, jubelte Dýamirée, nun plötzlich auf seiner anderen Seite. „Schau, ich…”
Der Rest ihrer Worte ging in einem Gurgeln unter. Dann spritzte und platschte das dunkle Wasser auf, knallend und scharf, als wände sich ein großer Fisch in einem Kescher.
„Hilfe!”, prustete Dýamirée panisch. „Hil-“
„Kind!” Er wollte zu ihr, aber sein Fuß verfing sich in einer Schlinge aus Unterwasserpflanzen oder einer alten Wurzel und brachte ihn erneut zu Fall.
„Es hat mich!”, schrillte Dýamirée, in Angst, echter, aufrichtiger Angst. „Es pack-“
Und wieder war sie unter Wasser und zappelte, weit weniger heftig als zuvor.
Cýelú Irísolor befreite sich energisch, zerriss kurzerhand, was auch immer für eine Fußangel ihn da in der Tiefe aufhalten wollte und schaute sich erschrocken um, bis er die letzte Unruhe auf der Wasseroberfläche entdeckte, die nicht er selbst ausgelöst hatte. Die Wellen kreuzten sich dort, und irgendwo hinter seinem Rücken flatterten mit empörtem Geschnatter die Teichwachteln auf und davon, in die Nacht hinein. Es war entschieden zu unruhig geworden in ihrem friedlichen Tümpel.
„Kind!”
Das Wasser ging ihm nun bis zur Brust. Sein langes, graublondes Haar hing ihm klatschnass über der Stirn und behinderte seinen Blick. Der Untergrund war zu matschig, er in seinem Rüstzeug zu unbeweglich und das kleine Mädchen verschwunden. Der Regenbogenritter griff hektisch im Wasser um sich, ohne etwas anderes zu packen zu bekommen als ein paar Seerosenstängel und einen glitschigen Gründelfisch, der ihm aus den Händen und direkt ins Gesicht sprang. Er verlor das Gleichgewicht und kam erneut zu Fall, diesmal rücklings.
Als er wieder hustend und nach Atem ringend auftauchte, jetzt fast bis zum Hals im Wasser, war Dýamirée bereits wieder an Land und rannte so schnell auf das Feuer zu, als sei ihr etwas auf den Fersen.
„Kind!”, rief Cýelú und spuckte torfiges Wasser, halb erleichtert, sie nicht ertrunken zu sehen, halb entsetzt, als sie geradewegs auf Perlenglanz zujagte. Das Einhorn schien viel zu verblüfft, um sie abzuwehren, als sie sich gedankenlos unter seinen Flügeln hindurch duckte und sich in den Sattel hangelte.
„Kind!”, schrie Cýelú aufgebracht.
Perlenglanz bemerkte, dass jemand auf seinem Rücken saß, der dort nicht hingehörte und nahm das zum Anlass, ruckartig aufzuspringen und die Flügel zu spreizen. Der Regenbogenritter setzte sich hastig in Bewegung, war aber viel zu unbeholfen im Wasser, als dass es noch hätte verhindern können. Das Einhorn tänzelte verwirrt um das Feuer herum, sah seinen Herrn im Wasser, spürte aber nichts, was es hielt.
„Perlenglanz!”, brüllte Cýelú Irísolor. „Hiergeblieben!”
Aber die magische Verbindung zwischen ihm und dem mächtigen Einhorn war unterbrochen. Das Herz des arcaval’ay raste. So schnell er sich in in vollem Rüstzeug gegen die Wassermassen und all das Grünzeug am Boden wehren konnte, das ihn festzuhalten versuchte, watete er auf das Feuer zu.
Das Einhorn scheute und preschte buckelnd los. Mit donnernden Klauen, die Fetzen von Erde aus dem Boden rissen, jagte das im Mondlicht fahl schimmernde Tier vom Wasser weg und kümmerte sich weder um das kleine verängstigte Menschenkind auf seinem Rücken noch um den fassungslosen Ritter, der ihm, vom Wasser gebannt, hilflos hinterher schrie und gestikulierte.
***
Ich tauchte erschrocken wieder auf und schaute mich verblüfft um. Das Wasser um mich herum schwappte aufgestört, so energisch hatte ich versucht, das zu packen und an mich zu ziehen, was ich ganz unzweifelhaft neben mir gespürt hatte. Ich war überzeugt davon gewesen, dass es Dýamirée gewesen war, zugleich wurde mir ganz klar, dass das völlig unmöglich war. Aber ich hatte es deutlich wahrgenommen. Viel zu klar, als dass es pure Einbildung und Wunschdenken hätte gewesen sein können. Es war mir entschlüpft und entwischt. Aber … was war da geschehen?
Die maghiscal um mich herum pulsierte, kräftiger und lebendiger als ich es gewohnt war. Ich fühlte mich verwirrt und zugleich erfrischt und beunruhigt; auf eine konstruktive, sehr seltsame Weise. Etwas, das ich schlecht beschreiben kann, trieb mich; so als wisse ich ganz genau, dass der ideale Moment, um zu handeln, jetzt gekommen sei.
Ich schwamm ans Ufer und fragte mich, was ich mit dieser sonderbaren Erfahrung anfangen sollte. Es war so … echt gewesen. So oft war ich gemeinsam mit Dýamirée im See schwimmen gewesen, mit Yalomiro zusammen, aber auch allein. Ich hatte unsere Tochter schon als kleines Wiegenkind mit ins Wasser genommen, weil ich irgendwelche diffusen Vorstellungen von Babyschwimmkursen hatte, die für die Entwicklung von Kindern gut sein sollten. Dýamirée war begeistert gewesen und hatte schon als Kleinkind paddeln können wie ein Hündchen, in ihrem vierten Sommer schwamm sie besser als ein Fisch. Yalomiro hatte ihre Liebe zum Wasser mit seinen Erzählungen vom Meer beflügelt, einem Gewässer, noch so viel größer und geheimnisvoller als unser See. Halb im Scherz hatte er damals gemeint, dass Dýamirée, wenn es an der Zeit war, ihre Tiergestalten auszuwählen, sich vermutlich für die einer Teichforelle entscheiden würde. Das war gewesen, lange bevor wir bemerkten, wie es mit Dýamirées magischen Fähigkeiten bestellt war.
Was, bei allen Mächten, war das gewesen? Ich hatte sie so deutlich gespürt, dass ich sie hätte berühren können, nein: sie berührt hatte! Hatte ich das vielleicht wirklich getan?
Ich lief, nackt und tropfnass wie ich war, zu yarl Moréaval hinüber. In Verlegenheit brachte ich uns beide damit nicht, solange er nicht zu sich kam. Die Nachtblumen hatten zwischenzeitlich noch mehr üppige Blütenblätter gebildet; nur an wenigen Stellen schimmerte noch sein grün-gelbes Wappenkleid und etwas Metall von seinem Rüstzeug durch. Waren die Blumen so fürsorglich, dass er nachts nicht frieren sollte? Das würde zu Arámaú passen.
Ich griff mir meine Harfe – das erste magische Werkzeug, an dem ich mich selbst versucht hatte – warf einen Blick auf den im Süden perlengleich aufgehenden Mond und machte mich dann auf den Weg in den Etaímalon. Die Nervosität, die ich den Tag über empfunden hatte, war wie fortgewaschen. Stattdessen erfüllte mich nun eine sonderbare Mischung aus großer Feierlichkeit und Zuversicht. Ich hatte Dýamirée gespürt. Sie lebte.
Sie würde bald wieder hier sein.
***
Es fiel Advon ausgesprochen schwer, den Abend mit seiner Mutter zu verbringen und dabei peinlich genau auf das acht geben zu müssen, was er – aus ihrer Sicht – wissen konnte und durfte und wobei er sich nicht verplappern durfte. Der Junge erkannte schmerzlich, wie viel Unbefangenheit verloren ging, wenn es galt, Geheimnisse zu bewahren.
Am besten, so dachte er sich, als Elosál ihn am Abend in seinem Zimmer besuchte, wäre es wohl, das Gespräch möglichst schleunigst auf einen gemeinsamen Nenner zu führen.
„Warum war Siledaú so unwillig, als ich ihr deinen Brief gebracht habe?”, fragte er.
„War sie das?”
„ Und wie!” Er nickte gewichtig. „Sie hat ihn mir aus der Hand gerissen und als ich fragte, ob sie böse auf mich sei, hat sie gesagt, ich solle mich gefälligst um meinen eigenen Kram kümmern.”
Die fajía drehte nachdenklich eine ihrer blonden Haarsträhnen um den schlanken weißen Zeigefinger. Wie sie da auf seiner Bettkante saß, im Schein der Nachtlaternen aus buntem Glas, wirkte sie wie eine Skulptur aus Perlmutt und Gold. Sie schien fast ein wenig aus sich selbst zu leuchten. Advon wusste, wenn ihre maghiscal auf diese Weise sichtbar wurde, war sie wegen irgendetwas sehr aufgeregt, im erfreulichen wie im besorgten. Aber warum sorgte sie sich so?
„Was war das für ein Brief, Mama? Darf ich das wissen?”
Sie musterte ihn still mit ihren golddurchsetzten Augen. Er bemühte sich um eine Unschuldsmiene. Immerhin wusste er im Groben, was seine Mutter mit ihrer flüchtigen, sauberen Handschrift verfasst haben mochte. Den Mächten sei Dank hatte er nicht das Siegel aufbrechen müssen, um es zu erfahren. Das wäre eine harte Probe für seine Geduld gewesen.
„Ich habe Siledaú lediglich um einen Botengang gebeten. Sie sollte den Brief in Aurópéa beim konsej abliefern.”
„Wenn du willst, mache ich das das nächste Mal für dich, Mama.”
Sie lächelte.
„Wirklich”, beharrte er. „Ich darf doch in die Stadt rein und raus, weil ich kein Magier bin. Das ist doch so, Mama, nicht wahr?”
„Wir werden sehen.”
„Und was stand denn nun drin im Brief?”
„Du stellst neugierige Fragen, Advon.”
„Und du schreibst selten Briefe an Unkundige.”
„Wenn die Mächte ihm diese Vernunft geben, werden wir morgen für kurze Zeit einen unkundigen Besucher empfangen. Ich hoffe sehr, dass dein Vater es so einrichten kann, dass er zu dieser Zeit schon wieder hier ist.”
„Ist es so weit?”, fragte er erfreut.
Sie nickte. „Ja. Ich habe vorhin in die Weite hinaus gespürt. Ich weiß, dass er mehr als den halben Weg getan hat.”
„Da war Perlenglanz aber mächtig schnell”, sagte Advon anerkennend. „So ausdauernd ist Farbenspiel nicht.”
„Noch nicht. Dein Farbenspiel ist doch beinahe noch ein Fohlen. Wenn er erst einmal einen Reiter tragen kann, dann werden wir alle staunen.”
„Was für ein Gast, Mama?”
Elosál seufzte. Wahrscheinlich hatte sie gerade gehofft, dass Advon sich mit seinem Lieblingsthema hätte ablenken lassen.
„Ich will mit dem Obersten des konsej reden.”
„Mit dem sinor Úldaise?”
„Woher kennst du den Namen?”
„Ich habe Leute unten in der Stadt heute Mittag von ihm reden hören.”
„So?”
„Ja. Sie haben Angst vor ihm, glaube ich. Mama, warum lassen die Leute in Aurópéa Leute über sie bestimmen, vor denen sie Angst haben?”
„Vor langer, langer Zeit, früher, da meine Schwestern und ich noch beisammen waren, da haben die Menschen, die Aurópéa gegründet haben, beschlossen, dass die Geschicke der Stadt von den Weisesten unter ihnen geführt werden sollten. Sie wollten nicht, wie es in anderen Gegenden beiderseits des Montazíel zuging, dass der Stärkste über sie gebietet, oder jemand, der kraft seiner Abstammung der erste unter ihnen war. Sie hielten es für klug, die Weisheit zu wählen.”
„Aber im konsej sitzen doch nur lauter alte Leute.”
„Ja. Es sind stets die ältesten neun Einwohner von Aurópéa, ungeachtet von Geschlecht, Stand und Herkunft. Die, die im Leben die meiste Erfahrung gesammelt haben.”
„Aber ist das nicht dumm?”
„Dumm?”
Er legte sich auf den Rücken und betrachtete die Vögelchen und Windninchen am Betthimmel.
„Ich stelle mir nur gerade vor, wenn jemand hundert Sommer lang in Aurópéa lebt und nicht aus der Stadt herauskommt und nichts lernt und anschaut, dann kommt der trotzdem in den konsej. Und vielleicht wohnen zugleich junge Leute in der Stadt, die wirklich schlau sind und gute Ideen haben und gut regieren würden. Aber die werden vielleicht gar nicht erst so alt. Oder müssen ganz lange warten mit einer schönen Sache, die für alle von Vorteil wäre.”
Elosál lächelte. „Nun, es steht uns nicht an, zu hinterfragen warum die Leute in der Stadt das Alter über alles andere erheben. Und ich kann mir denken, dass die sinoray ihrerseits den Rat der ihrer maedloray schätzen.”
„Auch dieser Úldaise?”
„Eben das will ich herausfinden.”
„Wegen der Leute in der Wüste?”
Sie hob die Brauen. „Spricht man davon in der Stadt?”
Er zuckte unverbindlich die Achseln. „Ich glaube, die Leute haben Angst davor, in die Wüste geschickt zu werden.”
„Ja”, sagte Elosál. „Darüber werde ich mit dem sinor Úldaise sprechen müssen.”
„Aber …”
„Mit dem sinor Úldaise. Nicht mit dir, Advon. Noch nicht.”
Gut. Dann kam er hier nicht weiter.
„Vielleicht hat Siledaú ja Angst, dass jemand sie in die Wüste schickt und war deswegen so wütend wegen des Briefs.”
Nun war Elosál offensichtlich belustigt. „Glaubst du?”
„Na ja. Du warst doch auch verärgert wegen dem ganzen alten Schattensängerzeug, das sie hier in die Burg geschmuggelt hatte. Vielleicht hat sie das ja nur gemacht, weil die Leute unten in der Stadt die Sachen auch nicht haben wollten. Oder sie hat in Aurópéa auch etwas gemacht, was Leute nicht so gut fanden und versteckt sich bei uns.” Er verschränkte die Arme und fuhr unschuldig fort: „Also, wenn ich etwas angestellt hätte, dann würde ich wohl versuchen, demjenigen, der zornig mit mir ist, aus dem Weg zu gehen.”
„Sollte ich Dinge wissen, Advon? Hast du etwas angestellt?”
Er schaute sie mit dem allerharmlosesten Blick an, den er aufsetzen konnte.
„Ich hab eine ganze Goldmünze für Kuchen ausgegeben”, gestand er.
„Bei den Mächten!” Elosál lachte. „Dein armer Magen!”
„Ich hab fast alles verschenkt. Bis auf zwei Kekse für Farbenspiel und Sonnenblume. Und ich hab auch nur einen gegessen.” Er seufzte. „Also, falls dieser sinor Úldaise zornig ist, weil es vielleicht einen Aufruhr wegen des Kuchens gab …”
„Ich bin mir sicher”, sagte die fajía und streichelte ihm zärtlich mit der schlanken bleichen Hand übers Haar, „dass du mit dem Naschwerk vielen Menschen eine kleine Freude bereitet hast.”
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