
„Ich weiß was!”, zischte Jándris Altabete. Er war auf dem Weg in die Küche, um einen neuen Schwung Teller zu holen. Láas Grootplen kam ihm gerade mit einem Stapel Tonbecher entgegen.
„Das wäre was neues”, neckte der ältere Junge, blieb aber stehen.
„Ich weiß, wie wir unser Problem lösen, so dass Manjév zufrieden ist und wir uns nicht die Hände schmutzig machen.”
Láas stellte seine Last auf der nächstgelegenen Bank ab. „Lass hören.”
„Es muss uns irgendwie gelingen, ihn vor dem Abendessen abzupassen.”
Láas schüttelte missbilligend den Kopf. „Da fängt’s doch schon an. Der Kerl ist doch immer noch weg.”
„Sicher nicht mehr lange. Das Eulengesicht ist wieder aufgetaucht. Jándris deutete mit dem Kinn hinüber zu dem Tisch in der Ecke, wo die teiranday sich soeben erhoben. Der Junge aus Emberbey stand bereits.
Láas bedachte seinen Freund mit einem tadelnden Blick. „Ich glaube, unsere Eltern würden schelten, wenn wir ihn so nennen.”
„Dann unterlassen wir es eben vor ihren Ohren. Aber das ist nebensächlich.” Er griff sich einen Teil der Becher. „Komm, lass uns schnell eindecken. Ich kann’s dir hier nicht erklären, wenn jeder zuhört.”
„Gib mir wenigstens einen Hinweis.”
„Wenn alles beim Essen sind”, raunte Jándris, „Ist hier in der Burg eine neue Tür offen, von der niemand etwas weiß.”
„Und?”
„Wir nehmen ihn gefangen! In Manjévs Namen. Bis er seine Frechheit bereut.”
„Bist du toll? Was meinst du, was wir da für Ärger einstreichen! Die Erwachsenen sind doch jetzt schon ganz irre, dass er verschwunden ist!”
„Na und? Dann fällt nicht auf, wenn er noch eine Weile länger weg ist.”
„Aber …” Láas unterbrach sich. Eine Magd mit hölzernen Löffeln kam zu nahe und hätte mithören können.
„Láas! Wir machen es natürlich so, dass wir nicht in Verdacht geraten. Und so, dass Manjév, sobald sie davon erfährt, uns ganz schnell gebietet, ihn wieder frei zu lassen!”
Láas Grootplen runzelte verwirrt die Stirn. Mit solchen Gedankengängen hatte Jándris ihn abgehängt. Der etwas jüngere yarlandor begann, die Becher zu verteilen. „Niemandem geschieht allzu viel. Denkst du nicht, die teirandanja wird nichts Eiligeres zu tun haben, als den Frechling wieder freizusetzen, bevor von den Erwachsenen jemand richtig ärgerlich wird? Dann haben wir ihr gehorcht, niemandem stößt etwas zu und mit etwas Glück bekommt der Kerl von seinem Vater die Tracht seines Lebens.”
Láas stellte seinerseits die Becher auf. „Ist das den Mächten gefällig?”, fragte er zweifelnd.
„Ich denke nicht, dass die Mächte so etwas interessiert. Es ist mehr eine Art … Versteckspiel.”
„Gut. Und von was für einer Tür redest du?”
„Vom höchsten Zimmer.”
Láas überlegte kurz. Dann begriff er, und der Becher, den er gerade in Händen hielt, entglitt ihm vor Schreck. Das Tongefäß zerschellte am Steinboden und rief die Magd auf den Plan, die heute das Eindecken beaufsichtigte. Mit großen Schritten kam die resolute Frau herangestürmt, wurde dann aber dessen gewahr, dass es die immer so hilfsbereiten yarlandoray waren, die das Spektakel verursacht hatten. Jándris sammelte die Scherben bereits ein. So beließ sie es bei einem strengen Blick.
„Später”, wisperte der Junge. „Und steck dir in der Küche was zu essen ein. Das Nachtmahl müssen wir schwänzen.”
***
Manjév war in Nöten. Die Mächte, das war dem Mädchen völlig klar, straften sie dafür, dass es sich ungefällig betragen hatte. Dass sie sich dafür nun mit den langweiligen Anweisungen für hochedle yarlaraé und fanjulaé in höfischem Stand herumplagen musste, geschah ihr wohl recht. Viel schlimmer wog, dass sie mit jedem Atemzug, der verstrich, die Gelegenheit versäumte, ihre getreuen Dienstjunker an dem selbst erteilten Auftrag zu hindern.
Manjév schauderte, wenn sie daran dachte, was die beiden wohl anstellen mochten, sollte ihnen Merrit Althopian tatsächlich über den Weg laufen. Wenn es nur auf eine weitere Prügelei hinausliefe, wäre es das Geringste, denn darauf würden Erwachsene schnell aufmerksam werden. Verdacht schöpfen, dass sie, die künftige teiranda hinter der Sache steckte, würde niemand, selbst wenn Láas und Jándris Verrat verübten. Dafür, dass die beiden sich für ihre nächtliche Niederlage revanchieren wollten, würden die Erwachsenen sogar Verständnis aufbringen.
Wenn nur niemand das kompromittierende Briefchen fände! Hoffentlich wären die beiden Jungen umsichtig genug gewesen, es verschwinden zu lassen. Sie ärgerte sich nun, nicht eine entsprechende Weisung hinzugefügt zu haben, etwa es unauffällig einer der Ziegen zu überlassen, die an der Burg gehalten wurden.
Die opayra ließ die teirandanja nicht aus den Augen. Sicherlich war das die süße Rache der älteren Edeldame für all den Unfug, den Manjév den Tag über angestellt hatte und bei dem Tíjnje gehorsam mitgemacht hatte. Das kleine Mädchen hatte es gut! Sicher war sie gerade bei ihrer Mutter oder ihrem Großvater und wartete auf das Abendmahl, mit nichts anderem als Appetit im Sinn. Als sie am Morgen die Milch und die Wecken aus der Küche geholt hatte, hatte Manjév gesehen, dass einige Körbe des violetten Kohls bereit gelegen hatten, eine Speise, die Tíjnje sehr schätzte. Manjév hätte ihr mit Freuden ihre Portion überlassen, wenn die opayra nur für ein paar Herzschläge den Raum verlassen hätte.
Stattdessen genoss die Dame es mit unverhohlener Genugtuung, wie Manjév schicksalsergeben Absatz um Absatz vortrug, wie eine Dame sich vor vielen Generationen zu benehmen hatte. Die bedauernswerten yarlaraé hatten offensichtlich nicht besonders viel Vergnügen im Leben genossen und sich auf das sittsam und anmutig sein beschränkt.
Die teirandanja blätterte das schwere Papier um und runzelte die Stirn. Von der rechten Abweisung, war das Kapitel betitelt.
„Was soll das heißen?”, fragte das Mädchen.
„Das braucht Ihr noch nicht zu wissen”, sagte die opayra hastig und zog das Buch an sich, um zum nächsten geziemlichen Kapitel zu blättern. „Dafür seid Ihr noch zu jung.”
„Zu jung?”
„Das braucht Ihr erst zu wissen, wenn die jungen Herren um Euch zu werben beginnen.”
„Um mich muss keiner werben”, sagte die teirandanja gedankenlos.
„Das werdet nicht Ihr zu bestimmen haben.” Die opayra schob ihr das Buch wieder zu. Im neuen Kapitel ging es um die Kunst, einen Kopfputz anmutig zu tragen,. Illustrationen dazu zeigten aufwändige, unpraktische Gebilde, die vor hundert Sommern schon außer Mode gewesen waren. „Ihr seid die teirandanja. Natürlich werden sie von nah und fern kommen, um um Euch zu werben.”
„Und wenn ich vorher einen hýardor finde?”
„Sicherlich wird unter den edlen teiranday und yarlay einer dabei sein. Nichtsdestoweniger gehört es zum guten Ton, auf die Herren nicht allzu offen zuzugehen. Wie leicht könnte sich einer Hoffnungen machen.”
Manjév runzelte nachdenklich die Stirn. „Steht da also drin, ich soll den Herren sagen, dass sie mich in Ruhe lassen sollen?”
„Es steht darin, nach welchen Regeln Ihr auf die Herren einzugehen habt.”
„Regeln?”
Die opayra lächelte. „So ist es, Majestät. Regeln, wie sie auch die Herren untereinander befolgen.”
„Ist es ein Spiel?”
„Man könnte es so nennen, ja.”
„Wie kompliziert.”
„Es hat alles seit jeher seinen Sinn, Majestät.”
Manjév stützte die Ellenbogen auf und stützte die Wange in die Hand. „Hat um Euch auch einmal einer so geworben?”
„Majestät, das sind Dinge, die Ihr nicht wissen müsst.”
„Und wenn ich sie wissen will? Oder mögt Ihr nicht darüber reden?”
Die Dame seufzte. Für einen Moment verschwand die Strenge von ihrem Gesicht. „Es ist nicht für Euch, Majestät.”
„Hattet Ihr einmal einen hýardor?”
„Ja.”
Manjév setzte sich aufmerksam auf. Nun, das war interessant. Sie hatte sich nie besondere Gedanken darüber gemacht, was die opayra wohl getan hatte, bevor sie nach Wijdlant gekommen war, um ihre höfische Damenerziehung sicherzustellen.
„Und er hat um Euch geworben?”
„Ja.”
„Und Ihr habt ihn abgewiesen? Wie die Regeln es sagen?”
„Ja. Aber … nein. Nicht nach diesen Regeln.”
„Das verstehe ich nicht.”
„Majestät, das ist etwas, das nur mich etwas angeht und über das ich mit einem Kind nicht reden will. Lest nun bitte weiter über die Haubenmode.”
Das hatte Manjév zu respektieren. Schutzbefohlene waren Rechenschaft über alles schuldig, was in irgendeiner Weise das Leben und die Gemeinschaft der Burg betraf. Aber dann gab es Dinge, die nur den Einzelnen betrafen. Es galt als ungebührlich, in Neugier zu beharren, wenn derjenige nicht reden wollte. Manjév reichte es, erfahren zu haben, dass die opayra ihre Geheimnisse hatte. Vielleicht, so malte die teirandanja es sich aus, hatte sie ihren hýardor allzu beflissen abgewiesen und war deswegen allein geblieben. Das wäre sehr traurig.
„Spielen nur teiranday und yarlay dieses Regelspiel?”, fragte sie dennoch.
„Majestät … lenkt nicht von der Lektüre ab.”
Manjév seufzte und las. Der Text war so langweilig, dass sie sich nicht die Mühe machte, den Inhalt zu erfassen. Die opayra jedoch schien nicht zu bemerken, wie sie die Absätze herunterleierte. Offenbar war die Dame in eigene Gedanken versunken.
Die teirandanja kam zum Ende des Kapitels. Die Zeit zum Abendessen nahte. Ob man sie nun endlich entlassen würde?
Die opayra bemerkte, dass das Kind abwartend schwieg. Sie hob den Kopf.
„Majestät”, sagte sie ernst. „Lasst Euch niemals auf jemanden ein, der die Regeln nicht achtet. Erwählt Euch einen edlen, redlichen und den Mächten gefälligen Herrn und schaut alle anderen gar nicht erst an.”
***
Galéon schreckte hoch und blickte sich erschrocken um. Über dem Hügel lag nun bläuliches Zwielicht. Pataghíus Glanz wich Noktámas samtener Schwärze.
Hatte er hier oben in seinem Versteck tatsächlich der Schlaf übermannt? Offenbar war dem so, wenig verwunderlich nach all den Strapazen, die er durchlitten hatte. Gestern um diese Zeit hatte er bei sinor Saháalír auf der prächtigen Dachterrasse gesessen und Geschichten erzählt. Jetzt lag er hier, zerschunden und geschwächt, auf einem Hügel außerhalb der Stadt und fühlte sich, als sei er zwischen Mühlsteine geraten. Seine Zunge lang ihm schwer und kraftlos im Mund. So seltsam waren die Züge im Weltenspiel.
Nun, offenbar hatten Úldaises Knechte ihn hier oberhalb ihres Lagers nicht bemerkt. Aber unglücklicherweise waren sie noch da. Er konnte sie hören, unten am Hang, und er roch ein trockenes Holzfeuer, das sie entfacht hatten.
„Nun bleib doch einfach mal still sitzen!”, sagte der eine gerade. „Machst mich ganz nervös!”
„Kann nicht. Fühlt sich an, als wären lauter Ameisen in mir drin!”
„Unsinn!”
„Und mir ist heiß!”
„Dann geh weg vom Feuer!”
„Von innen! Ich schwitze wie ein Käse!”
„Hör auf mit Esskram! Mir ist schlecht!”
„Mir auch. Aber die Ameisen sind schlimmer.”
Die beiden stritten noch eine Weile vor sich hin. Galéon krabbelte lautlos näher an die Stelle, von der aus er nach unten blicken konnte. Er hätte sich gar nicht so leise bewegen müssen, denn die zwei grobschlächtigen Kerle waren ganz mit sich beschäftigt. Der eine saß so unruhig neben dem Feuer, als würde er tatsächlich von krabbelndem Getier bedrängt. Auch seine Hände konnte er kaum stillhalten. Er kämmte sich nervös durchs Haar und zupfte an seiner Kleidung herum.
Der andere erhob sich plötzlich ruckartig, stürzte ein paar Schritte weit in die Dunkelheit in den Schutz hochgewachsener Gräser. Geräusche und Gerüche deuteten darauf hin, dass er ziemlich quälende Beschwerden mit seinen Gedärmen hatte.
Galéon grinste voller Genugtuung. Offenbar hatten die beiden sich an dem süßen Inhalt ihres Proviantkorbes ganz entsetzlich überfressen.
„Geht’s?”, erkundigte sich der Nervöse mit rührendem Mitgefühl.
„Das kann sich kein fýntar ausdenken”, ächzte der andere aus den Gräsern.
„Wenn der Alte nicht nur gerade jetzt zurückkommt!”
„Wär mir sowas von egal! Hauptsache, das hier hört auf!”
„Mir ist auch übel!”, verkündete sein Kamerad plötzlich und begann, ungebührlich laut zu würgen.
Galéon zog sich im Schutz des Lärms vorsichtig zurück, kroch außer Sichtweite und zog sich dann vorsichtig am dürren Stamm einer Aranzie hinauf. Seine Arme und Beine trugen ihn wieder, allerdings spürte er jede Faser seiner Muskeln mit entsetzlicher Präzision.
Im Westen erahnte er die Mauern des Cielástel, dumpf glänzend wie Glas im schwindenden Tageslicht. Der Hügel hinab erstreckte sich eine licht bewaldete Strecke, die kaum Deckung bot. Zumindest viel zu wenig Deckung für einen Mann zu Fuß, der kaum in der Lage war, schnell zu rennen.
Indes, es half nichts. Hier auf dem Hügel konnte er nicht bleiben. Offenbar erwarteten die beiden Handlanger ihren Meister zurück. Sicherlich würde Úldaise sie ganz gehörig ausschelten und dann selbst auf die Idee kommen, auf der Hügelkuppe nachzuschauen, ob sich jemand dort aufhielt.
Úldaise würde ihn finden. Was immer der sinor an seltsamen Kräften besaß, die sogar in der Lage waren, in eine Menschenseele einzudringen, es würde ihm sicher nicht entgehen, wenn er sich hier oben aufhielt.
Hier oben war er in der Falle. Aber so, wie die unappetitlichen Geräusche bis hierher schallten, hatten die Mächte ihm nun wohl eine Chance bereitet, zumindest an den beiden vorbei an den Fuß des Hügels zu gelangen. Dort unter war er zwar immer noch nicht in Sicherheit, aber wenigstens konnten sie ihn dort nicht so einfach in die Enge treiben.
Galeón schaute sich um. Zwei Schritte entfernt ragte das Stämmchen eines schlanken Palmengewächses empor, dem die Trockenheit die Wurzeln zermürbt hatte und das nur noch einen Schopf dröger Blättchen trug. Galéon versuchte sein Glück, und es gelang ihm tatsächlich, das tote Bäumchen aus der Erde herauszudrehen. Ein Stab würde ihm beim Abstieg helfen und wäre sicherlich besser als gar nichts, um einen von den Folgen der Völlerei geschwächten Angreifer abzuwehren.
Der báchorkor nahm all seine Entschlossenheit zusammen und wagte es. Erst in den Mauern des Cielástel wäre er in Sicherheit.
***
Dýamirée spielte mit ihrem Schiffchen. Der Teich war lange nicht so ein prächtiges Gewässer wie der See im Boscargén, aber für diesen Zweck würde es genügen. Damit das Bötchen nicht vor der Zeit davon schwamm, hatte sie Binsen gepflückt und zu einer langen Schnur zusammengeknüpft.
Perlenglanz lag bei seinem Herrn am Feuer und schlief offenbar tief und fest. Das Einhorn hatte die Schnauze unter seinem Flügel verborgen, wie ein schlafender Vogel und schnarchte grollend. Cýelú schlief offenbar nicht. Er hatte sich an die Kruppe seines Reittieres gelehnt und schaute abwechselnd zum Feuer und zu ihr hin.
Ob er nicht müde war? Selbst Dýamirée spürte, dass sie langsam schläfrig wurde, und das obwohl Schattensänger viel länger am Stück wach bleiben konnten als unkundige Menschen. Sie seufzte. Was nützte es ihr, dass ihr Vater, ihre Mutter viel weniger Schlaf benötigten? Sie war ein unkundiges Kind, weder dazu in der Lage, Magie zu wirken noch von Sternen- und Mondlicht zu trinken. Cýelú hatte ihr eine dicke Scheibe von etwas zu essen gegeben, das eine Art zäher Brotteig mit fremdartigen, säuerlichen getrockneten Früchten darin war. Sie hatte verhalten daran geknabbert und schließlich mit Heißhunger gegessen. Es schmeckte gut, und ihr Magen hatte dringend nach Nahrung verlangt.
Dýamirée dachte nach. In ihrem Kopf war ein ungeordneter, chaotischer Plan, geboren aus kleinen Ideen, die sie über den Tag gesammelt hatte, je mehr sie über Cýelú und seine beeindruckenden magischen Kräfte nachgedacht hatte. Den letzten Anstoß dazu hatte der Regenbogenritter ihr gegeben, als er mit seinem Feuerzauber geprahlt hatte.
Dýamirée hatte sich schon als kleines Kind gewundert, warum in den Märchen der Mutter so oft von Gold die Rede war. Was war Gold, hatte sie gefragt. Gold, hatten die Eltern ihr erklärt, war ein Metall, das Pataghíu geweiht war, so wie das Silber zu Noktámas Schätzen gehörte. Menschen begehrten das Gold, weil es wertvoll war und sie damit Reichtum erlangten. Reichtum gehörte auch zu den seltsamen Unkundigen-Dingen, die Dýamirée nicht begriff – aber was tat es?
Dýamirée hatte gefragt, ob die Eltern ihr einmal etwas Gold zeigen konnten. Das sei nicht möglich, hatten sie erklärt. Im Boscargén gebe es kein Gold, und auf Dýamirées Frage, warum, hatte der Vater erklärt, dass Schattensänger Gold nicht berühren konnten. Dass es in der Lage sei, Schattensängermagie zu bannen.
Nun, sie hatte den ganzen Tag Cýelús Rüstzeug um sich gehabt und nichts gespürt.
Aber vielleicht gab es etwas, das Regenbogenrittermagie bannen konnte?
Das Mädchen blickte nachdenklich auf die Teichoberfläche. Noktámas Juwelen, die ersten Sterne spiegelten sich bereits darin.
Womit löschte man Feuer, wenn man keine Herzflamme greifen konnte? Einmal war der Mutter im Winter das wärmende Feuer zersprungen, es waren Funken geflogen in der Stube und Stückchen von Holz hatten auf dem Boden geglüht. Der Vater hatte es bemerkt und auszaubern wollen, aber da hatte die Mutter schon, ohne nachzudenken, einen Trinkkrug mit Wasser vom Tisch genommen und darüber geschüttet, ohne nachzusinnen. Es hatte gezischt und gequalmt und Dýamirée, das Wiegenkind, sehr belustigt.
Feuer, goldenes Feuer. Und Wasser. Noktámas Dienerinnen geboten dem Wasser.
Warum lebten die arcaval’ay nahe der Wüste, dort, wo so wenig große Gewässer waren? Hatten sie Angst vor Wasser? Wahrscheinlich nicht, sonst hätte er sich nicht so nahe an den See herangewagt. Außerdem war Dýamirée sich sehr sicher, dass nichts Lebendiges auf Wasser verzichten konnte. Aber vielleicht waren sie … achtsamer?
Dýamirée führte ihr Schiffchen hin und her und äugte immer wieder zu Cýelú hinüber. Döste er, war er wach? War sie fortwährend mit seinem seltsamen Bann an ihn gefesselt oder ließen sich diese Fesseln lösen, vielleicht auch nur lockern, lang genug, um herauszuschlüpfen?
Und wenn sich herausschlüpfen ließ … wohin dann?
Dýamirée schaute zu Perlenglanz. Das Einhorn war groß und wild und stark, etwas ganz anderes als die Windninchen oder die Vögelchen im Wald. Es war magisch, stolz und unbezwingbar. Es würde ihr kein Leid zufügen, da war Dýamirée sich sicher. Aber würde es ihr gehorchen? Wenn sie es ganz zärtlich darum bat?
Natürlich machte Dýamirée sich keine falschen Hoffnungen, dass es ihr irgendwie gelingen konnte, das Einhorn gezielt zu lenken. Aber wenn es ihr nur gelänge, es zum Fliegen zu bringen, ganz egal, wohin, und abzusteigen, wo immer es landen würde?
Das Kind hatte keine Wahl. Eine bessere Idee hatte das kleine Mädchen im Augenblick nicht, und die Zeit drängte. Wenn Cýelú sie am nächsten Morgen wieder in den Sattel nahm, würde er sie erst im Cielástel wieder los lassen. Dann wäre sie gefangen, im Heiligtum Pataghius, dort, wo Schattensänger nichts zu suchen hatten. Sicher, vielleicht waren die arcavala’ay und die gütige fajía freundlich zu Kindern. Unter anderen Umständen wäre sie sogar sehr interessiert daran gewesen, den magielosen Jungen Advon kennenzulernen.
Die Mutter machte sich Sorgen. Und wenn der Vater kam, um sie zu befreien, dann würden die Regenbogenritter gegen ihn kämpfen. Wer konnte wissen, ob der Vater im fremden Heiligtum gegen eine Übermacht von acht arcaval’ay bestehen konnte?
Wenn sie entkam, dann musste niemand kämpfen. Dann mussten die Eltern sich nicht ihretwegen in Gefahr begeben.
Dýamirée ließ die Binsenschnur los und beobachtete geduldig, wie der Wind das Bötchen auf den Teich hinaus trieb.
***
Osse Emberbey klopfte zaghaft an die Tür, bevor er das Gastgemach betrat. Sein Vater forderte ihn nicht zum Eintreten auf und schaute beiseite, als der Sohn es dennoch tat. Mit einem raschen Blick stellte Osse erleichtert fest, dass der Ritter frische Gewänder trug und auch sein ziviles Eisenzeug wieder anlegte. Der Junge trat hinzu, um dem alten Mann mit den Beinschienen zu helfen.
Alsgör Emberbey hinderte ihn nicht daran. Unangenehmes Schweigen war zwischen ihnen, das gebrochen werden musste.
„Im kommenden Sommer”, sagte der alte Ritter schließlich, „gehst du fort aus Emberbey, Osse.”
„Wohin?”, fragte der Junge, ohne aufzublicken.
„Zunächst nach Vírhavet. Ich will dich nicht zu weit weg wissen, solange … nun, ich will, dass du bei Bedarf innerhalb weniger Tage mit einem Schiff wieder an deinem Platz bist.”
„Was soll ich in Vírhavet tun, Vater?”
„Ich werde dir Wissen kaufen, Osse. Mehr als der mestar daheim dir verschaffen kann. Ich erwarte, dass du einen guten Handel damit machst.”
Osses Herz klopfte schneller, aber er zwang sich zur Ruhe.
„Drei Sommer werde ich dir in Vírhavet kaufen. Danach wird sich zeigen, wo dein Platz ist. Wenn du dich gefällig und anstellig zeigst, bekommst du drei weitere Sommer. In Forétern.”
„In Iváal”, sagte Osse. Alsgör Emberbey blickte auf. Osse nahm all seinen Mut zusammen und hielt der reglosen Miene seines Vaters stand.
„Warum in Iváal?”
„Mein Freund sagt, es sei gut dort, um ein vortrefflicher maedlor zu werden.”
„Dein Freund, so? Hat der junge Althopian sich auf dich eingelassen?”
„Unsere Mütter liebten beide die Rosen”, sagte Osse.
Alsgör Emberbey zuckte zusammen. Dann glitt ein bitteres Lächeln über seine Mundwinkel. Bitter, aber ein Lächeln. „So redet kein maedlor, Osse. Merk dir das für später.”
„Ja, Vater.”
„Wenn die Mächte mir diese sechs Sommer noch zugestehen, werde ich entscheiden, was weiter geschieht. Ich werde jeden Tag darum flehen, dass man mir diese Zeit noch lässt. Ich will mit eigenen Augen sehen, wer würdig ist, mein Schwert zu erben, jenes, das Thorgay Emberbey einst führte.”
„Falls ich dessen würdig bin”, sagte Osse, „ werde ich es für dich bewahren, bis Truda oder Raýneta es einst einem ihrer Söhne in die Hand geben. Derweil will ich ein guter maedlor sein.”
Alsgör Emberbey schüttelte den Kopf. „Nein, Osse. Das ist nicht deine Aufgabe. Du sollst kein Schwert bewachen wie ein Schatzhüter. Das kann jede Tür mit einem tauglichen Schloss. Ich will keinen maedlor als Nachfolger.”
Osse seufzte unbehaglich. Sollte er den Vater auf den Jungen aus Rodekliv ansprechen, jenen, von dem, er nicht wissen konnte, es sei denn er gestünde, unter dem Tisch gehockt und gelauscht zu haben?
„Steh auf”, forderte Alsgör Emberbey. „Sieh mich an, Osse.”
Er gehorchte. Die alten Hände des Ritters griffen nach der Brille und nahmen sie dem Sohn von der Nase. Keine gläserne Barriere sollte in diesem Moment zwischen ihnen sein.
„Ich will keinen unterwürfigen Schreiberling als Nachfolger, der mit Zahlen und Verträgen hantiert wie ein vendyr. Du, Osse Emberbey, sollst an der Seite der teirandanja dienen. Ich will dich als ihren mynstír sehen.”
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