Die zweite Tageshälfte verbrachte ich rastlos damit, zwischen Noktámas Halle und yarl Moréaval hin und her zu streifen, immer am Ufer des Sees entlang. Dem Ritter schien es den Umständen entsprechend gut zu gehen. Abgesehen davon, dass er nach wie vor bewusstlos war, hatten die Nachtblumen die Wunde an seinem Hals versiegelt, Laub und Blütenblätter klebten darauf wie ein organisches Pflaster. Aber heilen konnte die Verletzung sicherlich nur Yalomiro selbst.

„Es dauert nicht mehr lange, Herr Jóndere”, sagte ich zu ihm. „Sobald es dunkel ist, versuche ich, Yalomiro herbeizurufen. Er wird Euch so dankbar sein, dass Ihr versucht habt, Dýamirée zu retten!”

Vielleicht konnte er es hören. Wenn es wirklich so war, dass die Blumen ihn in einer Art magischem Koma hielten, war lange nicht gesagt, dass das auch seine Wahrnehmung betraf. Ich hatte mehr als einmal am eigenen Leib sonderbare Schwebezustände erlebt, von denen ich selbst später nie hatte sagen können, ob es Halluzination, Träume oder Trance gewesen waren. Irgendwann gewöhnte man sich wohl daran, dass das klare, wache Bewusstsein manchmal sehr einschränkt wurde, wenn Magie im Spiel war.

Ich setzte mich zu Moréaval ins Gras. Auch wenn er bewusstlos war, die Nähe eines anderen Menschen beruhigte mich ein wenig. Seit ich den Plan ersonnen hatte, die Geigensaiten als Alarmsignal zu benutzen, war ich aufgeregt und verunsichert wie vor einer wichtigen Prüfung. Ich war niemals gut mit Klassenarbeiten, Klausuren oder Vorträgen zurechtgekommen; selbst wenn ich zuvor bis zur Erschöpfung gelernt und mir Wissen eingeprägt hatte, das ich aufsagen konnte, aber nicht wirklich verstand. Die Nervosität und Befürchtung, Fehler zu machen hatte meine Angst vor Prüfungen so verstärkt, dass der pure Gedanke daran in mir Panik aufkommen ließ.

Bei dem, was ich nun vorhatte, konnte mich nicht einmal auswendig gelerntes retten. Diesmal musste ich raten.

„Schaut”, sagte ich zu ihm, wohl wissend, wie blödsinnig das war. „Glaubt Ihr, das funktioniert?”

Ich betrachtete das improvisierte Instrument, das ich in den vergangenen Stunden gebastelt hatte. Es hatte eine Weile gedauert, bis ich in Yalomiros Sachen etwas gefunden hatte, das sich zweckentfremden ließ. Ich war schließlich auf einen ovalen Silberreifen gestoßen, ein wenig kürzer als mein Unterarm. Ich hatte keine Ahnung, wofür dieser Gegenstand tatsächlich bestimmt war, vielleicht sollte es ein Rahmen für irgend etwas werden. Aber meine maghiscal hatte sich zwischenzeitlich wieder soweit regeneriert, dass ich mit Sicherheit sagen konnte, dass es kein Werkzeug war, kein Objekt, mit dem in irgendeiner Weise bereits Magie verknüpft war. Es war einfach ein Stück aus Yalomiros Bastelkiste.

Ziemlich dilettantisch hatte ich die fünf silbernen, magischen Saiten am spitzen und flachen Ende des eirunden Rings festgeknotet und schließlich, um genügend Spannung zu erzeugen, ganz vorsichtig ein paar Stöckchen darunter geklemmt, die ich unter den Bäumen direkt am Etaímalon aufgesammelt hatte, in der Annahme, die Saiten benötigten wenigstens ein klein wenig Kontakt zu Holz, wie die Geige selbst. Das Ergebnis meiner Bemühungen glich nun vage dem Oberteil eines Eierschneiders, wie meine Oma ihn besessen hatte. Als kleines Kind war ich fasziniert von dem Küchengerät gewesen und hatte mir vorgestellt, es sei eine Art Miniatur-Harfe. Zu mehr musikalischen Ambitionen hatte ich mich nie aufschwingen können.

Zum Glück konnte Moréaval mein improvisiertes Instrument nicht sehen. Als Adliger mit höfischer Erziehung konnte er ganz bestimmt Laute oder dergleichen spielen und hätte an meinem Verstand gezweifelt.

Ob er, sofern er ein Instrument beherrschte, seiner kleinen Tochter Kinderlieder vorspielte? Ob seine hýardora ihn schon vermisste? Wahrscheinlich nicht. Selbst hoch zu Ross konnte ein Unkundiger den Weg über den Montazíel nicht in so kurzer Zeit zurücklegen. Es würde bestimmt noch einige Tage dauern, bis man in Wijdlant oder in seinem eigenen Haus beginnen würde, sich Sorgen um ihn zu machen, je nachdem, von wo aus er ursprünglich losgezogen war.

Warum war er eigentlich in den Boscargén zurückgekehrt? Das konnte ich mir immer noch nicht erklären. Hatte Yalomiro selbst ihn womöglich mit irgendeiner Botschaft zurückgeschickt? Nein, das war unwahrscheinlich. Hätte er ein wirklich wichtiges Anliegen gegeben, dann hätte Yalomiro mich auf andere Weise kontaktieren können.

Vielleicht war ihm selbst etwas eingefallen, das er vergessen hatte? Aber was hätte das sein sollen?

Oder hatte … jemand ihn geschickt?

Ich würde es nicht erfahren, bevor Yalomiro wieder hier war. Und das konnte, wenn mein verzweifelter Plan überhaupt Erfolg hatte, noch eine Weile dauern. Aber wenn ich ihn erreichte, würde er keine Zeit verlieren. Als Dýamirée noch klein gewesen war und wegen irgendetwas zu weinen begann, war Yalomiro, selbst wenn er im Freien beschäftigt gewesen war, meist schneller an ihrem Wiegenkörbchen als ich vom Nebenzimmer aus. Er machte sich dann gar nicht erst die Mühe, Türen zu benutzen. Er sprang durch den Schatten, um nach dem Rechten zu sehen.

Früher, in meiner ursprünglichen Welt, hatte ich mir nicht im Traum vorstellen können, Mutter zu werden. Es war einfach kein Thema für mich gewesen. Die wenigen Kinder, die ich persönlich kannte, waren mir fremd, unnahbar geblieben. Hier, in der Welt, in die ich letztlich geflüchtet war, hatte ich das grundlegend geändert. Ich konnte mir kaum noch vorstellen, wie es ohne Dýamirée gewesen war. Ich wusste, dass es Yalomiro ebenso ging. Dabei hatte er sein Leben lang nicht einmal eine Veranlassung gehabt, an kleine Kinder zu denken,

Ich strich nachdenklich über die Saiten.

„Yalomiro”, hatte ich ihm eines wunderschönen Vormittags mitgeteilt. „Ich bin schwanger.”

Er war gerade damit beschäftigt, auf der Suche nach frischen Knospen für irgendein Elixier in einem Baum herumzuklettern. Diese Elixiere waren wichtig, eines der wenigen Dinge, derentwegen die Leute in dem Bergbaudorf sich überhaupt auf Tauschhandel mit uns einließen. Manchmal benötigten wir Dinge, die Menschen erschufen und für die wir etwas geben mussten. Nun hielt er inne und schaute verwirrt zu mir hinunter.

„Was heißt das?”

„Ich … wir bekommen ein Kind.”

„Ich verstehe nicht.”

„Du wirst Vater.”

Ich hatte schon eine ganze Weile den Verdacht gehabt, nicht mehr allein mit meinem Körper zu sein. Aber ich hatte abwarten wollen, bis es keinen Zweifel gab. An diesem Morgen hatte ich entschieden, war es sicher. Ich war glücklich und hatte erwartet, dass er sich ebenfalls freuen würde. Ich hatte zwar nicht erwartet, dass er ausgelassen jubeln würde, das tat er niemals. Aber dass er geradezu erstarrte, das machte mir Angst. Wie eingefroren hockte er in den Zweigen und sah auf so seltsame Weise bestürzt aus, dass mir unwohl wurde.

„Das ist unmöglich”, sagte er schließlich. „Ich kann kein Vater sein.”

Das verschlug mir die Sprache, für einen kurzen Moment. Dann war ich entsetzt, empört. „Mit wem hätte ich dich hier betrügen können?”

„Saghiára, ich …”

„Denkst du etwa, ich bilde es mir nur ein?”

Er sprang vom Baum herunter. „Du musst dich irren. Noktáma verbietet uns, Nachkommen zu haben. Camat’ay können Kinder weder zeugen noch empfangen.”

„Aber wenn es nun einmal so ist? Vielleicht ist es Magie!”, fuhr ich ihn gereizt an. Aber bevor ich mich noch weiter aufregen konnte, kam er mit beschwichtigender Geste auf mich zu.

„Es wäre ein Wunder.”

„Wäre es ein Problem?”

„Bein den Mächten!” Er legte seinen Sammelbeutel auf den Boden und verschränkte demütig seine Hände über seinem Herzen. „Es wäre … Salghiára …”

Und dann fiel er vor mir auf die Knie und senkte den Blick.

„Freust du dich denn nicht darüber?”, hatte ich ganz leise und vielleicht etwas zu enttäuscht gefragt.

„Salghiára, es ist mehr, als mein Verstand erfassen kann. Ich bin dessen nicht würdig.”

„Was redest du denn? Es geschieht doch überall und immerzu. Lebendiges pflanzt sich fort.”

„Es wäre das allererste Mal seit Anbeginn des Weltenspiels, dass Magier miteinander neues Leben hervorbrächten. Unseresgleichen darf kein Leben erschaffen, nicht mit Magie und nicht mit der Natur.”

Ich wurde ungeduldig. Es mochte ja sein, dass Noktáma in all der Zeit nicht gewollt hatte, dass die ihr Geweihten Familien gründeten. Aber ich wusste ja wohl selbst am besten, was in meinem Körper vor sich ging. Also ging ich einen Schritt auf ihn zu, fasste ihn bei den Schultern und zog ihn an mich.

„Hör hin. Vielleicht kannst du es schon spüren.”

Einen Moment lang horchte er an meinem Bauch. Dann hob er so zaghaft die Hand, als befürchte er, etwas zu verletzen, und tastete danach.

Eine ganze Weile standen wir so still mitten im Wald, nur das Wispern der Blätter und Vogelgezwitscher um uns.

„Noktáma hat es zugelassen”, sagte ich. „Vielleicht ist es eine neue Bestimmung für uns.”

Er antwortete mir nicht. Aber mein Kleid an seinem Gesicht wurde feucht. Er weinte! Er weinte lautlos, und er weinte vor Glück.

„Ich glaube”, brach ich schließlich das Schweigen, „es ist ein Mädchen. Es fühlt sich an, als sei es weiblich. Ich bin nicht sicher, ob es normal ist, so etwas zu wissen.”

Er legte die Arme um meine Hüften und schmiegte sich an mich. Seine maghiscal floss mit der meinen zusammen und schuf einen Kokon aus Liebe, Magie und Geborgenheit um uns. Es tat unendlich gut, sein Glück zu spüren. Wir mussten keine weiteren Worte darüber wechseln.

Am Abend hatte ich ihn bei seinem nächtlichen Wirken in Noktámas Halle allein gelassen. Ich ahnte, dass er über Dinge nachzudenken hatte, die für mich kaum zu verstehen waren. Ich war derweil an den See gegangen, an die Stelle, wo der große Stein im Wasser lag und eine besonders intensive magische Stimmung über Wald und See lag. Ich war mir ziemlich sicher, dass es hier gewesen war, wo ich Dýamirée empfangen hatte.

In der Zeit danach wurde mein Leben … kompliziert. Yalomiro war besessen davon, mir jede kleine Unannehmlichkeit und Mühe abzunehmen. Am liebsten hätte er mich wohl in Watte gepackt. Ich wies ihn vorsichtig darauf hin, dass ich kein gebrechliches altes Mütterchen war, das keinen Schritt mehr allein gehen konnte. Er nahm sich das zu Herzen und bemühte sich, mich etwas unauffälliger zu verfolgen, wenn ich durch den Wald ging. Ich sagte nichts dazu und fand sein fürsorgliches Verhalten rührend. Ich gab vor, es nicht zu bemerken, dass mir auf Schritt und Tritt ein Rabe in den Wipfeln nachflatterte. Er ertrug geduldig meine Stimmungsschwankungen, und je mehr Last mir mein Körper bereitete, umso mehr sorgte er für mein Wohlbefinden.

Schließlich hatte er es damals fertig gebracht, Isan herbeizurufen. Natürlich war ihm nicht entgangen, wie ich zunehmend besorgt darüber gewesen war, wie die Niederkunft ablaufen würde. In meiner alten Welt war es selbstverständlich, in solchen Fällen ärztliche Versorgung zu erhalten. Yalomiro aber war ein mächtiger Zauberer, in dessen Kreisen noch nie eine Geburt stattgefunden hatte. Er hatte keine Ahnung, was zu tun war. Außerdem: Er war ein Mann.

Was für ein Glück, dass mir in dieser Welt einst Isan, die angehende Heilerin begegnet war, ein unkundiger Mensch, dem auch Yalomiro vertraute.

„Wie konnte das passieren?”, hatte Isan als Allererstes gefragt, eher sensationslustig denn bestürzt. Die schauerlichen Geschichten, die über Schattensänger im Umlauf waren und die alle darauf hinausliefen, dass jeder sein Leben verlor, der körperlich mit ihnen verkehrte, hatte sie nie vergessen.

Nun, ich hatte es überlebt, nicht nur dieses eine Mal am See, und darüber oft nachgedacht. Es gab mehrere Erklärungen. Nachdem ich selbst zur camat’ayra geworden war, hatte das den tödlichen Fluch, der auf den Schattensängern lastete, möglicherweise neutralisiert. Oder es lag daran, dass Yalomiro und ich durch Meister Gors Schwert vorläufig unsterblich waren.Vielleicht hatte uns gerade das davor bewahrt, uns gegenseitig umzubringen. Dass es überhaupt zu Intimität zwischen uns gekommen war, lag möglicherweise daran, dass durch das ganze Hin- und Hertauschen von Magie und Lebenskraft Yalomiros schattensängerische Keuschheit und meine unkundigen sinnlichen Bedürfnisse einander durchdrungen hatten.

Aber das alles musste Isan nicht wissen. „Vielleicht waren die Geschichten über Schattensänger maßlos übertrieben und übles Gerede”, hatte ich gesagt. Aber ich war davon überzeugt, dass sie sich davon nicht überzeugen ließ.

Yalomiro vermied es taktvoll, bei uns zu sein, wenn wir über Frauendinge redeten und über die neuesten Begebenheiten aus Wijdlant und Spagor tratschten. Erst als die Geburt nahte, erstritt er sich das Recht, dabei zu sein. Isan hätte ihn am liebsten aus dem Etaímalon herausgeworfen, so empörend fand sie sein Ansinnen, sich in eine Sache einzuschalten, die traditionell Frauen handhabten. Das war eine so altmodische Einstellung, dass ich selbst dagegen protestiert hätte, wenn ich in meinem Zustand noch klar hätte debattieren können. Ich sah die beiden vor mir, als ich daran zurückdachte.

„Hier haben werden Magier noch Männer etwas zu suchen”, hatte sie ihn angeraunzt. „Ihr steht im Weg und verliert womöglich die Nerven! So schnell kann ein Unglück geschehen! Da kann ich mich nicht auch noch um Euch kümmern!”

„Ich kann dir ebenso gut helfen wie jede unkundige Frau!”, hatte er protestiert, war vor ihrem energischen Auftreten aber tatsächlich respektvoll einen Schritt zurückgewichen. Isan hatte eine Autorität entwickelt, die wohl selbst Magier beeindruckte.

„Dann geht und sorgt dafür, dass ich warmes Wasser bekomme!”

Er blieb stehen. Dann warf er einen Blick und eine Geste auf einen der bereitstehenden Wassereimer, der daraufhin zu dampfen begann. Isan war unbeeindruckt.

„Ohne Magie. Wer weiß, was alles geschehen kann, wenn Ihr währenddessen die Wirklichkeit verbiegt!”

Zu dieser Zeit war ich bereits so benebelt vor Schmerz und Erschöpfung, dass ich mich selbst nicht äußern konnte. Ich wünschte mir so sehr, dass er bei mir blieb, aber Isan hatte Vorbehalte.

„Nun gut. Ohne Magie. Aber ich werde sie nicht allein lassen.”

Isan seufzte. „Habt Ihr etwas, was schmerzlindernd ist, ohne dass sie es zu sich nehmen muss?”, fragte sie unwillig. „So was könnte ich tatsächlich brauchen.”

Yalomiro war fortgegangen und kurz darauf mit einer kleinen Feuerschale du einem Bündel trockenem, blauschimmerndem Kraut zurückgekommen. Daraufhin war Isan augenblicklich zugänglicher geworden. Offenbar erkannte sie sofort, was das war.

„Wo habt Ihr das her?”, fragte sie misstrauisch. „Das wächst in verbotenen Gärten!”

„Möglicherweise habe ich einen solchen verbotenen Garten”, hatte er beiläufig gesagt. „Irgendwo in der Nähe, wovon niemand weiß.”

„Wisst Ihr, wie man es dosiert? Ich weiß es nämlich nicht. Niemand weiß das wirklich. Deswegen benutzt es keiner, so wertvoll es ist.”

Nie werde ich Yalomiros Miene vergessen. Mit unverhohlener Befriedigung legte er ihr das Bündel in die Hand. „Ich lehre es dich. Und ich gebe dir davon.”

Sie verstand wohl, was er damit alles nicht sagte, und sie ließ sich darauf ein. Einige Zeit darauf verbrannten sie ein paar einzelne Halme aus dem Bündel mit einem Stückchen Holzkohle. Es roch süßlich, schwer, nicht unangenehm, aber so betörend, dass mir war, als löse sich für eine Weile mein Verstand von meinem Körper. Yalomiro fing beides auf, und während Isan tat, was eine Hebamme eben tat, hielt er meinen Körper im Arm und seine maghsical war so sanft und gut und stark, dass ich mich vollkommen dem hingab, was geschah.

Und dann legte Isan irgendwann etwas Winziges, Atmendes auf meine Brust, woran noch etwas silbernes und rotes Blut klebte. Es war tatsächlich ein Mädchen. Das erste Menschenwesen, das auf diese Weise im Schutz des Etaímalon das Weltenspiel betrat.

Yalomiro behandelte Dýamirée, als sei sie zerbrechlich wie ein Schneekristall. Ich musste mir ins Gedächtnis rufen, dass Schattensänger seit Anbeginn des Weltenspiels nie mit Neugeborenen zu tun hatten. Dass Dýamirée für ihn so fremd und zugleich ehrfurchtgebietend sein mochte, dass er befürchtete, sie mit seinen Erwachsenenhänden zu grob anzufassen. Es war rührend zu sehen, wie sachte und liebevoll er mit ihr umging.

Und es war erstaunlich, mit welcher Wucht seine Vaterinstinkte einsetzten. Dafür dass er der erste Schattensänger überhaupt war, der leiblichen Nachwuchs hatte, erfüllte er seine neue ungewohnte Rolle sehr gut.

Ich beobachtete die beiden miteinander. Dabei fiel mir bald auf, nachdem Dýamirée begann, zu krabbeln und schließlich an seiner Hand durch den Wald zu laufen, dass Yalomiro sie mit einem eigenartigen, gar nicht ihrem Alter angemessenen Respekt behandelte. Manchmal saß er einfach mit ihr zusammen im Gras und erklärte ihr ganz erwachsen die Pflanzen und Tiere und Sterne. Ich weiß nicht, wann sie tatsächlich damit begann, seine Worte zu verstehen. Aber ich weiß, dass sie ihm von Anfang an gebannt zuhörte.

Mein Verhältnis zu Dýamirée war von anderer Art. Ich fühlte mich ihr auf einer ganz unmittelbaren, emotionalen Ebene verbunden, fast so, als seien wir Eines. Ich versorgte sie intuitiv und unverdorben von Erziehungsratgebern und guten und widersprüchlichen Ratschlägen erfahrener Frauen. Ich denke, das gelang so gut, weil ich diese besondere mentale Verbindung zu ihr hatte. Wir kommunizierten lange miteinander, bevor sie ihr erstes Wort sagte.

So viel Liebe ….

Dýamirée verstand es, ihre Zärtlichkeit und Zuneigung nicht nur mit Yalomiro und mir, sondern mit der ganzen Welt zu teilen. Ich erinnere mich nicht, dass sie jemals einen nennenswerten Wutanfall oder eine anstrengende Trotzphase durchgemacht hat. Sie war ein so freundliches, positives Kind, dass Psychologen in meiner alten Welt sicherlich voller Unglauben versucht hätten, ihr irgendeine Verhaltensauffälligkeit zu attestieren.

Ich sagte Yalomiro das.

„Sie wächst hier bei uns unberührt von Angst und Sorgen auf”, hatte er gesagt. „Sie hat keine Vorstellung davon, was im Weltenspiel lauert. Warum sollte sie unartig oder wütend sein?”

„Sollen wir es geheim halten? Soll sie aufwachsen, als gäbe es nur uns drei und die Idylle hier?”, hatte ich ihn gefragt, zweifelnd.

„Nein. Arglosigkeit bringt sie ihn Gefahr, sobald sie einmal den Wald verlässt. Sie muss ein Gefühl dafür bekommen, ohne dass es ihr Angst macht.”

Und so hatten wir begonnen, ihr unsere Märchen zu erzählen. Märchen, dass wusste ich noch aus meinem geisteswissenschaftlichem Studium, waren gut, um Kinder auf die harten Realitäten des Lebens vorzubereiten. Zum Glück waren die meisten Geschichten, an die ich mich erinnerte, so zeitlos, dass ich sie vortragen konnte, ohne verwirrende Anachronismen in diese Welt zu tragen. Manchmal reichten kleine Anpassungen. Anstrengend blieb, dass Dýamirée ein unfehlbares Gespür für Logiklücken hatte und sich in unwesentlichen Nebensächlichkeiten verlieren konnte. Damit hatte ich nicht gerechnet.

Als sie fünf Sommer alt war, begann ich mich zu fragen, wann sich wohl ihre magischen Kräfte offenbaren würden.

Schattensänger, das hatte Yalomiro erklärt, entwickelten ihre maghiscal erst ab einer gewissen Verständigkeit. Viel zu gefährlich wäre es, wenn ein kleines Kind impulsiv und ohne zu wissen, was es tat, seine Kräfte freisetzte und dabei womöglich im Trotz die Eltern erschlug, nur weil es seinen Willen nicht bekam. Es war Aufgabe der camat’ay-Meister gewesen, solche Kinder kurz vor dem Erwachen der Magie aufzuspüren, in den Boscargén zu bringen und zu Schattensängern zu machen, mit allen Konsequenzen.

„Und in welchem Alter geschieht das gewöhnlich?”, hatte ich gefragt und beobachtet, wie Dýamirée sich auf der Wiese vorm Etaímalon an ein Windninchen heranpirschte, um es mit Lattichblättern zu füttern, die überall ringsum wuchsen.

„Das lässt sich nicht sagen. Arámaú war vier oder allenfalls fünf Sommer alt, als sie herkam. Ich selbst war wahrscheinlich schon zwei, vielleicht sogar drei Sommer älter. Bei Mädchen scheint es etwas früher zu geschehen.”

„Das heißt, Arámaú war bereits magisch, als sie noch jünger war als Dýamirée?”

„Ja.”

Wir schauten zu Dýamirée hinüber. Das Windninchen, obwohl umgeben von schmackhaften Blättern, hoppelte zutraulich auf Dýamirée zu, um ihr aus der Hand zu fressen. Das war beeindruckend, aber es hatte nichts damit zu tun, dass sie Tiere beschwören konnte. Sie liebte den Wald, und der Wald liebte sie. Das war einfach so.

Ein weiterer Sommer und ein Winter vergingen, ohne dass Dýamirée irgendetwas Magisches tat. Offenbar bemerkte sie es langsam selbst. Die Gelegenheiten, bei denen wir beobachten konnten, wie sie mal spielerisch, mal mit großem Ernst versuchte, magische Gesten und Lieder zu kopieren, wurden seltener. Ich hatte mir darüber weniger Gedanken gemacht, da ich mit dem Gedanken, selbst magische Kräfte zu haben, selbst noch nicht wirklich zurechtkam. Ich war nicht mit Magie aufgewachsen und sah meine mir geschenkten Kräfte eher wie eine optionale Zusatzfähigkeit, nicht als etwas Alltägliches. Yalomiro indes schien zusehend nachdenklicher zu werden. Dass Dýamirée offenbar ein unkundiges Kind war, überraschte ihn, aber es beunruhigte ihn nicht wirklich. Es schmälerte seine Liebe und seine Verehrung für sie nicht im Mindesten. Aber ich war mir sicher, dass er sich fragte, warum Noktáma ihr altes Gebot aufhob, damit ein unkundiges Kind entstehen konnte. Es ergab keinen Sinn.

„Wenn es Noktámas Plan ist”, hatte ich zu ihm gesagt, „dann wird sie ihn uns früh genug offenbaren.”

„Wenn sie verborgene Magie hat”, hatte er gesagt und Dýamirée nachgeschaut, die mit ihrem geliebten Boot aus Rinde und Blättern am Ufer spielte, „wird das Wasser es offenbaren. So wie dir, damals, als wir herkamen.”

Camata’ayra waren mit dem Wasser verbunden, das hatte ich damals am eigenen Leib erfahren. Wasser und Noktámas Gestirne …

Ich zupfte vorsichtig an einer Saite und brachte tatsächlich ein hörbares, aber dissonantes ‚Pling’ zustande. Ich spürte Magie unter meinen Fingerspitzen. Sie kam zurück. Sehr gut.

Ich legte die improvisierte Harfe neben Moréaval ins Gras. „Gebt bitte eine Weile darauf acht”, sagte ich zu ihm und kam mir dumm dabei vor. „Ich möchte etwas ausprobieren. Ich glaube, ich gehe ein wenig im See schwimmen.”