
Arámaú hatte Mühe, den beiden Jungen durch das Dickicht aus Kräutern und Gestrüpp zu folgen, durch das ihr Weg führte, sobald die Sonne aufgegangen war. Die kleine Schattensängerin war verwirrt, dass ihr Meister sie angewiesen hatte, Yalomiro und Falgrèd zu folgen, und das auch noch auf eine so aufregende Reise, hin zu den Unkundigen, die so seltsam zu beobachten waren. Auf ihre Frage, was man denn bei den Menschen wolle, hatten die beiden ihr lediglich geantwortet, man wolle ein kleines Kuscheltier besichtigen. Falgrèd hatte beunruhigend wissend gegrinst dabei.
Arámaú Füße waren klein und der Weg anstrengend. Die drei Kinder kamen daher nicht so schnell voran, wie sie es sich vorgestellt hatten. Sich in ein Tier zu verwandeln hatte Arámaú noch nicht gelernt, sodass ein schneller Flug nicht möglich war. Schließlich mussten sie rasten, weil das Mädchen einfach nicht mehr weiter konnte.
„Wenn wir bei den Unkundigen sind”, sagte Falgrèd und streckte sich auf einem weichen Moospolster aus, „muss ich sehr achtsam sein, dass mich keine Weiber zu Gesicht bekommen. Womöglich ist es bei mir schon … erwacht.”
„Wir schauen uns nur das Lamm an”, antwortete Yalomiro. „Das ist sicher bei den Männern auf dem Feld. Frauen hüten keine Herden.”
„Haben die Hirten Hunde?”, erkundigte Arámaú sich.
„Sicher.”
„Kleine Hunde?”
„Ganz bestimmt. Kleine und ganz kleine. So klein, dass man sie gar nicht sehen kann. Klein wie Ameisen!”
„Ach, du nimmst mich auf den Arm, Falgrèd!” Arámaú zog eine Schnute. „Ob sie mir einen kleinen Hund schenken?”, überlegte sie.
„Was willst du mit einem Hund?”
„Ich mag kleine Tiere.”
„Schattensänger haben keine Haustiere, Arámaú.”
„Aber kleine Hunde sind niedlich!”
Falgrèd verdrehte die Augen, aber Yalomiro lachte.
„Arámaú, wenn du willst, kann ich mich eine Weile für dich in einen kleinen Kater verwandeln, wenn wir wieder daheim sind.”
„Für wie lange kannst du schon deine Gestalt verändern?”, fragte Falgrèd.
„Nur für ein paar hundert Herzschläge.”
Der ältere Junge wirkte erleichtert, dass es wohl doch noch etwas gab, worin er dem jüngeren Gefährten voraus war. Arámaú war das egal. Sie wippte fröhlich auf den Fersen auf und ab.. Dann entdeckte sie ein paar Schritte abseits eine Pflanze mit rosafarbenen Blüten und lief dorthin, um sie näher zu betrachten.
„Das ist doch kindisch, Yalomiro.” Falgrèd setzte sich wieder auf. „Ich frage mich ohnehin, wieso du dich mit der Kleinen so viel abgibst!”
„Du könntest dich deinerseits auch ein wenig mehr um sie kümmern. Sie hat es nicht leicht. Sie ist noch so klein, und dann ausgerechnet Meister Gíonar als Meister…”
„Du magst Meister Gíonar nicht”, stellte Falgrèd fest.
„Das stimmt nicht.”
„Du ärgerst dich, weil er dir nicht alles durchgehen lässt, wie Meister Askýn.”
Yalomiro räusperte sich und wandte seine Aufmerksamkeit einem Pilz neben sich zu. Falgrèd grinste, war er doch der Meinung, einen wunden Punkt gefunden zu haben, mit dem er den Jüngeren aufziehen konnte.
„Meister Askýn hat an mir nichts zu tadeln.”
„Sicherlich. Du bist ja auch sein Schüler. Wenn er dich tadelte, müsste er seine eigene Lehre bemängeln.”
„Du bist eifersüchtig.”
„Nein, ich bin älter als du. Ich kann das beurteilen.”
Yalomiro schwieg gekränkt. Falgrèd lächelte spöttisch und begann dann, in seiner Tasche zu kramen. „Ich zeig dir was.”
Yalomiro beobachte ihn dabei, wie er geheimnisvoll in seinen Sachen herumkramte. Auch Arámaú gesellte sich wieder zu ihnen.
„Was hast du da?”, fragte sie, als Falgrèd ein kleines Kästchen zutage förderte, es öffnete und ein Tuch aus dickem Samtstoff heraus nahm, in das offenbar ein kleiner Gegenstand eingewickelt war.
„Ihr dürft niemandem verraten, was ich euch jetzt zeige. Das müsst ihr mir schwören.”
Yalomiro runzelte die Stirn. „Da muss ich zuerst wissen, wofür ich einen Schwur vergeude.”
Arámaú verzog das Gesicht und hielt sich die Stirn. Auch Yalomiro spürte plötzlich einen Schmerz, als drücke etwas sacht, aber unnachgiebig gegen seine Schläfen, je weiter Falgrèd seinen Schatz auspackte. Auch dem größeren Jungen war unwohl, er biss sich auf die Lippen und verzog das Gesicht.
Dann hatte er das Tuch entfaltet und etwas blitzte darin auf, als ein Sonnenstrahl sich darin brach.
Yalomiro keuchte auf und zog Arámaú ein Stück zurück.
„Wo hast du das her?”, fragte er entsetzt.
„Gefunden. Ist schon eine Weile her. Ich war mit der Meisterin unterwegs, und es lag im Gras am Rand einer Straße. Ich habe mir die Stelle gemerkt und es mir später geholt.”
„Yalomiro, was ist das? Es tut weh…”
„Du bist ja noch so dumm, Arámaú”, sagte der größere Junge mitleidig. „Das ist Gold.”
Arámaú kiekste und verbarg sich hinter Yalomiros Rücken.
Der dumpfe Schmerz in seinem Kopf ließ nicht nach, aber Yalomiros Neugier war geweckt. Aus der Entfernung spähte er auf den glänzenden Gegenstand. „Das ist Geld, nicht wahr? Eine Münze, wie sie die Unkundigen benutzen, wenn sie Handel treiben?”
„Ein reicher yarl oder vielleicht sogar ein teirand muss sie verloren haben. Vielleicht schon vor langer Zeit. Vielleicht wurde auch ein Handelszug überfallen, und die Räuber haben in der Eile etwas von der Beute verloren.”
Yalomiro betrachtete die runde Goldscheibe fasziniert. „Da ist ein Pferd drauf abgebildet.”
„Das ist das Wappen der yarlay von Althopian, hinter dem Montaziél, schon fast am Meer. Das wirst du auch noch lernen.”
Falgrèd genoss sein Wissen und blickte Arámaú ungnädig an, als das kleine Mädchen altklug einwarf: „Gold ist gefährlich, sagt Meister Giónar. Gold tut weh!”
„Ja, aber man verletzt sich nicht daran wie an einer Klinge oder so. Schau her!” Er streckte die Hand aus und tippte die Goldmünze mit der Fingerspitze an. Ein schmerzhaftes Aufzischen konnte er sich nicht verkneifen.
Yalomiro nahm all seinen Mut zusammen. Hinter dem älteren wollte er nicht zurückstehen.
Es war, als hielte er den Finger in eine Kerzenflamme. Der Junge biss die Zähne zusammen und keuchte. Aber obwohl seine Haut sich anfühlte wie verbrannt, war keine Wunde entstanden.
Falgrèds Augen schimmerten silbrig auf. „Was meinst du, Yalomiro? Sollen wir es ausprobieren?”
„Was?”
„Wir machen eine Wette. Wer das Gold länger anfassen kann, der bestimmt, was wir bei den Unkundigen machen.”
Yalomiro zögerte unbehaglich. „Ich weiß nicht…”
„Feige?”
Der Blick des Jüngeren glomm silbrig und entschlossen.
„Wenn ich gewinne, darf ich entscheiden?”
„Das hab ich gesagt.”
Arámaú schaute bestürzt von einem zum anderen.
„Hört damit auf!”, bat sie ängstlich.
„Du musst gut aufpassen, Arámaú. Wer die Münze zuerst loslässt, hat verloren.”
„Die Meister werden euch dafür schelten!”
„Bist du bereit, Yalomiro?”
„Ich bin dabei.”
„Bestrafen werden sie euch, wenn ihr…”
„Eins… zwei… los!”
Zugleich legten die beiden Jungen den Finger auf die Münze. Schmerz raste durch ihre Hände in den Körper hinein. Es dauerte nicht lange, bis beide wimmerten.
Yalomiro verfluchte sich für die Torheit, die er da beging, aber er dachte auch nicht daran, vor Falgrèd Schwäche zu zeigen. Arámaú blickte entsetzt zwischen ihnen hin und her. Beide Knaben versuchten, nicht laut zu schreien, aber sie grimassierten vor Pein, und ihre Körper zuckten unter dem Kontakt mit dem Metall, das jeder Schattensänger zu fürchten lernte.
Nur wenige Lidschläge ertrug Yalomiro noch die heißen Wogen, die sich seiner Glieder bemächtigten. Dann wurde ihm schwarz vor Augen und es war vorbei.
***
Falgrèd und Yalomiro plagte das Gewissen, als sie ihren Weg zum Dorf der Unkundigen fortsetzten. Arámaú hatte nun die Führung übernommen, stapfte einige Schritte voraus, und Zorn umwölkte ihr Kindergesicht.
„Arámaú, wir werden es ganz gewiss nicht wieder tun!”
Das kleine Mädchen rümpfte die Nase und tat, als würde sie ihre Begleiter gar nicht hören.
„Ich habe mein Lebtag genug von Mutproben!”
Die Vögel in den Zweigen verstummten, als die Kinder unter den Baumwipfeln hindurch liefen. Aber die drei bemerkten es nicht.
„Nie wieder fasse ich Gold an!”
„Das ist auch besser so”, knurrte Arámaú über die Schulter.
„Was für ein Glück”, versuchte Yalomiro, ihr zu schmeicheln, „dass du so vernünftig bist und uns helfen konntest!”
Arámaú schnaubte, war aber im Grunde mit sich zufrieden. Sie hatte wirklich sehr umsichtig gehandelt, als die beiden Jungen zugleich bewusstlos zusammengebrochen waren. An einem nahen Bach hatte sie ihr Schürzchen getränkt und versucht, die beiden mit kaltem Wasser wieder zur Besinnung zu bringen. Das hatte gewirkt. Sicher, davon war sie überzeugt, war es ihr allein zu verdanken, dass Yalomiro und Falgrèd nun so kleinlaut hinter ihr her trotteten, anstatt tot unter den Bäumen zu liegen.
„Wer hat denn eigentlich gewonnen?”, fragte Falgrèd.
„Ich hab nicht aufgepasst”, zürnte Arámaú. „Ich hatte Angst!”
„Wir haben eine Dummheit gemacht. Wir werden ganz bestimmt nicht noch einmal so etwas tun. Nicht wahr, Falgrèd”
Der ältere nickte stumm.
„Habt ihr die Goldmünze denn weggeworfen?”, fragte Arámaú.
„Sie ist in Sicherheit.”
„Du schwindelst! Du hast sie wieder in das Tuch eingepackt.”
Falgrèd errötete. So jung Arámaú auch noch war, seine Gedanken konnte sie sehr deutlich hören, wenn er nicht Acht gab.
„Da tut sie niemandem etwas. Wer weiß, wozu sie uns von Nutzen sein kann.”
Arámaú seufzte schwer. Yalomiro warf dem älteren Jungen einen neugierigen Blick zu. „Hast du sie irgendwie verzaubert, damit du sie in deinen Sachen tragen kannst, ohne dass die Meisterin es bemerkt?”
„Die Münze nicht, aber das Tuch. Alles, was ich in das Tuch packe, das ist… ganz weit weg.”
Yalomiro horchte fasziniert auf. „Du hast Magie mit einem Ding verknüpft?”
Falgrèd lächelte überlegen. „Bis du so etwas lernen darfst, wird es wohl noch dauern.”
„Aber wenn ich es einmal kann, dann lassen sich damit sicher sehr praktische Dinge anstellen. Dann kann ich nicht nur durch die Schatten gehen, wie die Meister es tun. Dann.. dann reicht mir schon eine ganz normale Tür.”
„Das ist doch Unfug. Warum sollte man eine Tür verzaubern, wenn man doch…”
„Still!” Arámaú blieb abrupt stehen und bedeutete den Jungen, es ihr nachzutun. Sie horchte und huschte dann in das nächste Gebüsch. Falgrèd und Yalomiro wechselten einen ratlosen Blick und taten es ihr nach.
„Da kommen welche”, wisperte das kleine Mädchen, noch bevor einer der beiden eine überflüssige Frage stellen konnte.
„Was, hier im Wald?”, flüsterte Yalomiro zurück.
Arámaú nickte und legte den Finger an die Lippen.
Dann werden es wohl keine Menschen sein, dachte Falgrèd.
Wer denn sonst?, entgegnete Yalomiro.
Der große Junge grinste. Vielleicht die goala’ay?
Arámaú runzelte unwillig die Stirn, rückte aber sicherheitshalber näher an Yalomiro heran.
Sie blieben eine Weile in ihrem Versteck, obwohl sich niemand auf dem Weg näherte. Denn Arámaú hatte recht: Wenn man sich konzentrierte, spürte man die Gegenwart von mehreren Wesen, die sich auf die drei Kinder zu bewegten. Zwei der Kreaturen waren sehr groß; es waren zweifellos Tiere. Sie waren umgeben von etwas, das wie sich ähnlich wie Magie anfühlte, aber von einer anderen Art als die, die den Kindern selbst innewohnte, die die Meister ihnen vermittelten. Diese Magie war… anders. Alt. Sehr, sehr alt. Die beiden anderen Kreaturen, die bei den Tieren waren, das waren ganz sicher keine Menschen.
Bevor sie die Wesen sahen, waren da die Farben, Farben, die fremd und erschreckend anders als das grünlichsilberne Zwielicht des Waldes leuchteten. Sie erschienen zwischen Bäumen und Büschen und schmerzten die Kinder in den Augen, so unerwartet und grell waren sie.
„Arcaval’ay!”, hauchte Falgrèd überrascht.
Arámaú zuckte zusammen, dass das Laub raschelte. Yalomiro packte sie und hielt sie fest. Regenbogenritter
Die tun uns nichts. Wir verstecken uns, bis sie vorüber sind!
Aber was machen die hier?
Falgrèd schüttelte ratlos den Kopf. Dann zog auch er sich noch tiefer zwischen die Zweige zurück. Zugleich spürten alle drei die Hitze. Wie die Glut aus einem nahen Lagerfeuer wehte sie zu ihnen heran. Die beiden Jungen stöhnten lautlos.
„Nicht schon wieder…”, zischte Yalomiro zwischen den Zähnen.
„Stell dich nicht an”, wies Falgrèd ihn zurecht. „Solange sie auf Abstand bleiben… stell dir vor, da läuft ein Kaminfeuer vorbei!”
Das half. Die Ritter waren tatsächlich so weit von den Kindern entfernt, dass das Gold nicht schmerzte. Aber dass es da war, das ließ sich nicht bestreiten.
Auf dem Weg näherten sich die Ritter auf ihren Reittieren. Sie schienen es nicht besonders eilig zu haben, ihre Einhörner trotteten gemächlich nebeneinander her. Das eine war so gelb wie eine Aranzie, das andere himmelblau. Ihre riesigen Schwanenflügel hielten die Tiere angewinkelt, so dass sie nirgendwo an den Bäumen anstießen. Dafür, dass die beiden Rösser mit den armlangen Hörnern größer waren als die größten Ackerpferde, die die Schattensängerkinder je zu Gesicht bekommen hatten, bewegten sie sich erstaunlich leise und graziös; das Klimpern ihrer Zaumzeuge war lauter als ihre Tritte auf dem Erdboden. Yalomiro bemerkte überrascht, woran das lag: Zwischen dem flaumzarten Haar ihrer Fesselbehänge blitzten geteilte Klauen aus glänzendem Horn hervor, ganz so wie bei den Ziegen. Die Hitze strahlte von den Rüstungen und Metallteilen am Geschirr her. All das und offensichtlich sogar die Schwerter der Männer bestanden aus glänzendem Gold.
Die Hellen Magier waren in ein leises Gespräch vertieft und achteten offenbar nicht auf ihre Umgebung. Die beiden Männer waren in Waffenröcke gewandet, die genau dieselbe Farbe hatten wie das Fell ihrer Reittiere. Ihre Helme hatten sie am Sattel befestigt, so dass die Kinder ihre sonderbaren Gesichter sehen konnten. Die sahen auf den ersten Blick ganz ähnlich aus, so als wären die beiden Männer Zwillinge.
Beim zweiten Blick war sich Yalomiro nicht mehr ganz sicher, ob es sich tatsächlich um Männer handelte, beim dritten, ob es sich um Erwachsene handelte oder nicht. Denn die Gesichter der Ritter waren so ebenmäßig, bleich und von ernster Schönheit, dass der Knabe beim besten Willen nicht schätzen konnte, wie viele Sommer sie wohl schon gesehen hatten. Sie wirkten uralt und jugendlich zugleich. Beider Haar war so blond, dass es wirkte wie Schnee, oder schillerndes Perlmutt. Sie trugen es lang und glatt, und es berührte ihre Sättel, während sie an den Kindern vorbei ritten.
Das gelbe Einhorn kam für einen Moment aus dem Tritt und schnaubte, genau in Richtung des Verstecks, wie es den Schattensängerkindern schien. Aber es blieb nicht stehen, und nur Arámaú ließ sich später nicht davon abbringen, dass der gelbe Ritter zu ihnen her gesehen habe.
Erst eine gute Weile, nachdem die beiden wieder außer Sicht waren, wagten die Kinder sich hervor. Was sie von dieser kurzen Begegnung zu halten hatten, wusste keines von ihnen. Also erübrigte es sich, darüber zu sprechen.
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