„Die teiranday sind in einem Gespräch”, sagte der Wächter, der vor dem Audienzzimmer seinen Dienst verrichtete. „Ich darf Euch nicht einlassen.”

„Seht ihr”, sagte die opayra vorwurfsvoll. „Ich habe es Euch doch gesagt, Herrin.”

Manjév seufzte. Eigentlich hatte sie gar kein so wichtiges Anliegen gehabt, das eine Unterbrechung des Unterrichts erfordert hätte. Ihre Absicht war lediglich gewesen, das Schulzimmer getrennt von den anderen zu verlassen. Nun aber konnte sie nicht mehr zurück.

„Es ist wichtig!”, sagte sie zu dem Wachmann. „Ich muss zu meiner Mutter.”

„Hat es wirklich keine Zeit, Majestät?”, fragte der Wächter. Ein Anliegen der teirandanja konnte er nicht ignorieren, andererseits hatte er seine Befehle.

„Nein”, sagte das Mädchen selbstsicher. „Ich muss dringend mit meinen Eltern sprechen. Es ist sehr wichtig.”

Die opayra und der Wächter wechselten einen vielsagenden Blick miteinander. Beide kannten die Bedeutung von wichtig, wenn die teirandanja dieses Wort aussprach. Dann klopfte der Mann sacht an die Tür, öffnete sie und verschwand kurz darin.

Einen Moment später war er wieder da.

„Tretet ein, Majestät”, sagte er und öffnete die Tür einen Spalt weit für Manjév. Die opayra setzte sich ebenfalls in Bewegung, aber er streckte ihr die Hand entgegen. „Ihr nicht.”

Die Dame schaute ihn verdutzt an. „Was soll das heißen – ich nicht?”, fragte sie entrüstet.

„Die Majestäten lassen nur die teirandanja ein. Sie haben Gründe dafür. Geht nur, Majestät.”

Manjév nickte und schlüpfte an ihm vorbei.

„Was für Gründe?”, hörte sie die opayra noch verärgert zischen. Die Antwort bekam sie nicht mehr mit, denn die Tür schloss sich hinter ihr. Aber als sie das Zimmer betrat, konnte sie sich den Anlass schon selbst denken. Das Mädchen erstarrte und errötete.

„Was gibt es, Manjév?”, fragte Asgaý von Spagor. Er saß in seinem Sessel neben dem der teiranda und hatte einen Trinkbecher für Wein in der Hand. Das war um diese Tageszeit äußerst ungewöhnlich, aber er schien es gar nicht recht zu bemerken.

„Ich … es ist vielleicht doch nicht so wichtig, Papa.”

„Sag es nur, Kind”, schloss sich die teiranda milde an. Sie sah besorgt aus, lächelte aber. „Wir hören dir zu.”

„Ich wusste nicht, dass es eine so wichtige Besprechung ist. Dann hätte ich … ich geh einfach wieder, ja? Der mestar …”

„Stört Euch einfach nicht an meiner Anwesenheit, Majestät”, sagte der Schattensänger. „Nichts, was Euch zu Euren Eltern treibt, könnte unwichtiger sein als das, was ich zu sagen habe.”

Manjév schaute unbehaglich zu ihm hinüber. Der Magier stand neben den beiden Thronsesseln, hatte den teiranday jedoch seinen Rücken zugekehrt, seinen Hut in die Stirn gezogen. Dennoch fing sie einen kurzen, mahnenden Blick aus seinen Augenwinkeln auf.

Manjév schauderte und fühlte sich mit einem Mal miserabel und schuldbewusst.

„Nein”, sagte sie. „Ihr habt doch sicher mit dem Meister viel wichtigere Dinge zu besprechen als ich. Ich gehe zurück in den Unterricht, und …”

„Ihr müsst nicht vor mir zurücktreten, Majestät”, beharrte der Magier. „Wisst Ihr, wenn meine hýardora und ich im Etaímalon mit anderen Dingen beschäftigt sind und meine Tochter hat etwa auf dem Herzen, dann lassen wir alles stehen und liegen, um ihr zuzuhören. In der Regel sind es wirklich wichtige, wahrhaftige Anliegen, die keinen Aufschub dulden.”

„Ist es dir unangenehm, vor dem Meister zu sprechen?”, fragte Kíaná von Wijdlant. Oh ja, die Mutter durchchaute jede Regung des kleinen Mädchens.

Ja, dachte Manjév. „Nein”, log sie stattdessen. „Aber es … mir war langweilig. Ich hatte keine Lust mehr, zu lernen. Und da habe ich eben … ich dachte, ihr redet vielleicht mit yarl Grootplen über irgendetwas Langweiliges. Wie jeden Tag.”

Asgaý von Spagor lächelte entschuldigend zu dem Magier hinüber, aber der war immer noch nur mit einem Seitenblick dem Mädchen zugewandt. Manjév versuchte, das zu ignorieren.

„Kann ich gehen, Mama?”, fragte das Kind flehentlich. „Ich störe ganz sicher nicht noch einmal!”

„Damit gibst du vor der opayra zu, dass du sie hereingelegt hast,” sagte Kíaná von Wijdlant sanft. „Wenn du schon einmal hier bist, geh einfach nach nebenan und warte da eine Weile.”

„Kíaná”, gab der teirand zu bedenken, „”vielleicht sollte sie nicht hören, was …”

„Ich denke, es kann nicht schaden, wenn sie hört, was hinter verschlossenen Türen geredet wird, selbst wenn sie es nicht versteht”, unterbrach der Magier. „Es ist nicht gut, Kinder für unverständiger zu halten, als sie sind.”

Die Eltern wechselten einen Blick miteinander.

„Geh”, sagte Asgaý von Spagor. „Wir reden später miteinander darüber, wie du dir den Unterricht verbessert wünschst.”

Manjév verneigte sich und beeilte sich dann, in das Nebenzimmer zu gelangen, jenen Durchgangsraum, in dem auch die Puppenburg stand, mit der sie üblicherweise mit Tíjnje spielte. Was hätte das Mädchen nun darum gegeben, die kleine Gefährtin nun bei sich zu haben.

Der Magier schaute ihr nach, sie spürte seinen ernsten Blick auf sich ruhen und schauderte.

Er wusste, was sie getan hatte. Daran gab es gar keinen Zweifel.

Wie gut wäre es, zurück im Schulzimmer zu sein und mit den yarlandoray reden zu können!

Manjév setzte sich zu ihren Spielsachen, griff nach den Holzfigürchen und gab vor, damit zu spielen. Ihre Aufmerksamkeit jedoch war furchtsam auf das gerichtet, was die Erwachsenen sprachen.

„Herr Alsgör”, fuhr der Magier in der Rede fort, bei der er wohl gerade unterbrochen worden war, „ist in Aufruhr mit sich selbst. Er gibt sich die Schuld an dem, was geschehen ist und glaubt, vor Euren Augen versagt zu haben. Sein Wunsch nach einem wehrhaften Nachfolger ist ebenso verständlich wie kurzsichtig.”

„Ja”, sagte die teiranda. „Aber ausgerechnet aus Rodekliv … das ist ein Hohn, Meister!”

„Ein Hohn, an dem der yarl keine Schuld trägt. Er versucht, zu retten was aus seiner Sicht zu retten ist. Ihr solltet ihm dieses noble Ansinnen, so empörend es auf den ersten Blick erscheint, hoch anrechnen.”

„Und was empfehlt Ihr?”, fragte Kíaná von Wijdlant.

„Was ich empfehle? Majestät, ich bin nicht hier, um Partei für irgendjemanden zu ergreifen. Magier sollten sich aus Menschendingen, und schon gar aus unkundigen Machtgefügen tunlichst heraushalten.”

Die teiranday schwiegen. Dann fragte Asgaý: „Und was würdet Ihr tun, wenn ich Euch als Mensch fragte? Als Freund?”

Der Schattensänger schwieg eine Weile. Manjév gab vor zu spielen und war verwirrt. Was hatte Herr Alsgör mit dem schlimmen yarlmálon Rodekliv zu tun?

„Weder kenne ich den Jungen noch weiß ich, wie es um seine Familie steht. Ihr müsst Euch im Klaren sein, dass es manchen Personen in Rodekliv wie ein unverdientes Geschenk der Mächte vorkommen mag, wenn einer der Ihren unversehens in den Stand seiner Familie vor dem Verrat zurückerhoben wird.”

„Genau das befürchte ich auch!”, rief der Vater eifrig aus. Manjév fröstelte.

„Andererseits”, fügte der Magier hinzu, „mag es ein Geschenk der Mächte an den Jungen sein, Aufnahme bei Alsgör Emberbey zu finden. Wir können es nicht wissen:”

„Meister … ich wage kaum, Euch darum zu bitten …”, begann die Mutter.

„Nein.”

Manjév schaute verstohlen auf. Die Mutter senkte den Blick und nickte, so als habe sie es nicht anders erwartet.

„Das ist eine Sache, in der der Junge bewähren, seine eigenen Entscheidungen treffen muss. Lasst Herrn Alsgör für sich selbst entscheiden, was er tut. Ich bitte dagegen Euch um etwas anderes.”

„Sprecht.”

„Um auf diese Geschichte mit dem Brot zurückzukommen …”

„Oh bitte, Meister Yalomiro”, rief Asgaý von Spagor aus. „Nicht Ihr auch noch. Es sind Kinder. Solange nicht offiziell …”

„Nein, Majestät. Und ich sage Euch auch, weshalb. Was gestern in Eurer Halle geschehen ist, das haben die Mächte geschehen lassen. Nehmt es als ein Zeichen. Für alle Beteiligten mag es eine Öffentlichkeit, ein Spiel, ein verzweifelter unschuldiger Wunsch gewesen sein. Niemand hat es inszeniert, kein Erwachsener die Kinder geheißen, es zu tun. Es ist ein Zeichen, ein Hinweis.”

„Das heißt …”

„Ja, Majestät. Die drei sind miteinander verbunden. Ebenso, wie ich es Euch schon einmal angedeutet hatte, gestern, bei den Büchern.”

Manjév ließ hatte aufgehört, mit den Püppchen zu hantieren. Gebannt hörte sie zu und schauderte. Der Magier schaute sie aus dem Nebenraum her an, unverwandt und doch so intensiv, dass sie es kaum ertrug.

„Ich hatte zwischenzeitlich die Gelegenheit, mit den Jungen zu reden, Majestät.”

„Ihr habt den jungen Althopian gefunden?”, rief der teirand aus. „Wann? Die Herren durchkämmen die Burg nach ihm!”

„Es tut nichts zur Sache. Aber ich werde gleich dazu kommen, wie sich die Dinge für mich darstellen. Zunächst: Wenn Ihr ein Unheil verhüten wollt, Majestät, dann haltet Herrn Alsgör davon ab, für seinen Sohn dessen Treueschwur aufzulösen. Es ist wahr, der Junge wird sich niemals im Kampf behaupten. Aber Stärke besteht nicht allein aus Kraft.”

„Ich verstehe”, sagte die teiranda.

„Und was den anderen Jungen, den Sohn von yarl Althopian betrifft …”

Manjév zuckte zusammen. Verzweifelt versuchte sie, sich mit harmloser Miene abzuwenden, aber es war zwecklos. Der Magier beobachtete sie. Nichts entging ihm.

„Bitte”, sagte Asgaý von Spagor. „Bitte sagt nicht, dass ihr mir nicht zustimmt. Der Junge ist …”

„… verletzt und verzweifelt wie ein wundes Tier”, sagte der Schattensänger.

Manjév stutzte. So eine Bemerkung hatte sie nicht erwartet.

„Ich verstehe nicht?”, sagte nun auch die Mutter, bestürzt.

„Ihr hattet mich zu Euch gerufen”, sagte der Magier, „um zu erfahren, ob der Tod der beiden ehrenwerten yarlaraé in so kurzer Zeit ein blanker Zufall gewesen war oder etwas … Bedrohliches.”

Die Erwachsenen schwiegen gespannt. Aber der Schwarzgewandete redete nicht weiter.

Manjév blinzelte. Er schaute sie immer noch an. Sein Blick beängstigte sie, denn die sanfte Freundlichkeit, die noch am Vortag darin gelegen hatte, war einer tiefen Enttäuschung und Strenge gewichen.

Ja, er wusste, was sie getan hatte. Sie dagegen … sie wusste plötzlich nicht mehr, warum sie es getan hatte. Es war so … kindisch.

„Ich denke, es hat es auf die Kinder abgesehen”, sagte er dann. „Nicht auf die Väter, nicht auf die Eltern. Es will die, die als Kinderspiel den Bund miteinander geschlossen haben, bevor sie ihm gefährlich werden. Und eines davon hat es bereits an seinem Angelfaden.”

***

Die Laube der teiranda bestand aus einem quaderfömigen Aufbau, dessen Seitenflächen von rosa und weißen Kletterrosen bespannt waren wie die Fäden auf einem chaotischen Webstuhl. In der Höhe strebten die stachligen Ranken zusammen. An einer Seite erlaubte eine Lücke, die die Gärtner gewissenhaft offen hielten, den Eintritt ins Innere, wo zwei hölzerne Bänke einander gegenüber standen. Kaum waren die Jungen hindurch geschlüpft, raschelte das Rosenlaub und streckte sich über die Öffnung. Die Kinder sahen das staunend, beschlossen aber, sich darüber nicht zu wundern.

„Ich glaube”, sagte Osse, „der Magier will, dass wir miteinander reden, ohne dass uns Erwachsene stören.”

„Ja”, antwortete Merrit Althopian und berührte ganz vorsichtig eine der üppigen gefüllten Blüten in seiner Nähe. Ein schillernder blauer Panzerkäfer krabbelte aufgeschreckt daraus hervor und auf seine Hand. Statt ihn abzuschütteln, ließ der Junge ihn auf seinen Finger klettern. Das Insekt nahm die Einladung an und zwickte den Jungen mit seinen Zangen in die Haut.

„Au”, machte Merrit Althopian, packte den Käfer vorsichtig und setzte ihn auf ein Blatt.

Den Blick des anderen Kindes mied er.

Osse entschied, es ihm gleichzutun und begutachtete ebenfalls die Blumen. Sie waren von anderer Art als die daheim, viel zarter und größer. Die Rosen im rauen Klima am Meer waren stärker, aber lange nicht so perfekt geformt. Doch sie dufteten betörender als diese hier.

„Meine Mutter hat Rosen so gern gehabt”, sagte Merrit. Der Käfer öffnete seine Flügel und brummte zielstrebig davon, weiter zur nächsten Blüte.

„Meine auch.”

„Hatte sie auch eine so schöne Laube?”

„Nein. Aber auf der Klippe zwischen der nördlichen Mauer und der Bucht steht ein großer, uralter Bogen aus Eisen. Die Pflanze daran muss uralt sein. Und deine? Habt ihr ein Rosenzimmer für die Damen?”

„An der Nordseite sind unsere Mauern voller bunter Kletterblumen, nicht nur Rosen. Aber an einer Stelle, da sind so viele … mein Vater hat immer im Scherz gesagt, die Bienen flögen Attacken gegen unsere Mauern. Mama hat gesagt, das wolle sie sehen. Da hat er ihr eine bequeme Bank zimmern lassen. Wenn gutes Wetter war und die Sonne schien, hat sie so gern dort gesessen.”

Osse schwieg einen Moment. „Ich glaube, die Damen lieben überall die schönen Rosen. Meine Mutter kam weit aus dem Norden, aus Ovéstola. Deine war aus Ivaál, nicht wahr?”

„Ja. Von weit her ist sie gekommen.” Der Junge besann und setzte sich. Osse ließ sich ihm gegenüber nieder. „Glaubst du, wir sollten hier über Blumen reden? Die anderen Jungen würden uns auslachen.”

„Die sind doch gar nicht hier. Und ich erzähle es nicht weiter.”

„Gut. Dann erzähle ich auch niemandem, dass du Angst vor der Treppe hattest.”

Osse lächelte. „Ach, ich glaube, das werde ich ohnehin auf Dauer nicht verbergen können.”

Wieder schwiegen sie einen Moment. Er war, als schlichen sie beide fasziniert um ein Feuer herum, an dem sie sich so gern gewärmt hätten.

„Was hat du gestern Nacht eigentlich angestellt, dass du dich verstecken musst?”, fragte Osse endlich.

„Ich war von der Mauer auf den Hof runtergefallen. Die Söhne von Herrn Andriér und Herrn Daap dachten wohl, ich wolle der teirandanja etwas zuleide tun und haben mich angegriffen. Da hab ich mich … na ja, ich hab sie verprügelt.”

„Alle beide?”

„Ja, klar.”

„Aber die sind doch viel größer, älter und stärker …”

„Und tapsig wie die Waldbären. Viel Kraft, wenig Gewandtheit.”

Osse musste unwillkürlich grinsen. Dann stutzte er. „Von der Mauer?”

„Ja. Ich bin aus dem Fenster geklettert und war plötzlich am dem der teirandanja. Ich hab mich so erschreckt! Ich hatte nicht gewusst, dass sie ein eigenes Gemach zwischen den Gästezimmern hat.”

„Aber wo wolltest du denn hin?”

Merrit druckste einen Moment herum und schaute einer kleinen Gehäuseschnecke nach, die sehr geduldig die Bank erklomm.

„Zu dir.”

„Zu mir?”

„Ja. Ich … ich dachte mir, die Gelegenheit ist günstig. Ich wollte wissen, was das für eine Sache in der Halle mit dem Brot war. Aber nicht nur das. Ich war schon lange neugierig auf dich.”

„Ernsthaft?”

„Ich habe mich immer gefragt, warum dein Vater dich nie mitgebracht hat, wenn er bei uns zu Besuch war und warum meiner mich nicht mitgenommen hat, wenn er zu deinem geritten ist.”

„Na ja. Wahrscheinlich hat deiner gedacht, du würdest dich bei uns nur langweilen. Bei uns ist alles langweilig.”

„Trotzdem. Unsere Väter sind gute Freunde. Wenn ich einen Sohn in meinem Alter hätte und wüsste, mein Freund hat auch einen, dann …”

„Wir hätten gar nichts gemeinsam. Weißt du … sie haben sich oft über dich unterhalten. Dein Vater ist unglaublich stolz auf dich. Ich habe immer gestaunt, wenn ich gehört habe, was du alles kannst und getan hast. Ein bisschen so wollte ich auch sein.”

Merrit errötete. „Ach. Väter prahlen voreinander mit allem Möglichen.” Er blickte von der Schnecke auf. „Aber er hat meiner Mama oft von dir erzählt. Das hab ich natürlich auch gehört und war neugierig.”

„Erzählt? Von mir? Aber was denn?” Nun wurde Osse verlegen. „Was gibt es von mir zu sagen? Außer dass ich blind wie ein Maulwurf umher stolpere?”

„Du bist schlau“, sagte Merrit schlicht. „Du hast sogar von diesem Brotritual gewusst. Das sind Sachen, die weiß vielleicht ein mynstir oder ein mestar. Ich wäre da nie drauf gekommen.”

„Ich lese viel”, sagte Osse schlicht. „Sehr viel mehr kann ich ja nicht tun.”

„Ich finde Lesen langweilig. Außer natürlich die schönen Ritterromane. Ich mag die Abenteuer von dem smaragdgrünen Ritter und der klugen Dame, die … So will … wollte ich sein.”

Osse musterte den anderen Jungen verblüfft. Der meinte das Buch, das er im Helm auf dem Dachboden versteckt hatte!

„Trotzdem”, sagte er. „Wir passen wohl nicht zueinander. Die meisten der Herren haben einander schon gekannt, als sie nicht älter waren als wir. Sie haben gemeinsam bei den Vätern der jeweils anderen zu kämpfen gelernt. Da werde ich nie mittun können. Da muss ich gar nicht erst dabei sein.”

„Magst du etwa nicht mit einem Ritter befreundet sein?”, fragte Merrit spöttisch. „Hast du Angst? Ritter können sich auch ganz normal miteinander unterhalten, weißt du? Sie prügeln nicht immerzu aufeinander ein.”

„Du hast doch gehört, was passieren wird. Mein Vater hat einen entfernten Verwandten in Feindesland entdeckt und will, dass der künftig der yarl von Emberbey wird. Ich wette, sobald der Junge hier ist, schickt er mich irgendwohin, wo ich nicht störe. Vielleicht in eine Schule für maedloray in Virhavét. Dann kann ich später die Verwaltung machen.”

„Na und? Maedloray muss es auch geben. Dann gibt es in Emberbey eben einen yarl, der einen anderen an seiner Stelle kämpfen lässt und dafür die wichtigen Amtsgeschäfte selbst versteht.” Merrit lachte. „Und dann findest du eine schöne, kluge hýardora, und dein Sohn macht weiter wie dein Vater. Oder eine deine Schwestern findet sich einen Ritter. Wie die Mächte es fügen.”

„Darauf will mein Vater nicht warten. Das hast du doch gehört.”

„Ach”, machte Merrit wegwerfend.

„Kannst du dir vorstellen”, fragte Osse nachdenklich, „wie es sein muss, zu wissen dass man nur noch wenig Zeit zum Leben hat?”

„Wenn ein Kampf kommt, ein echter, meine ich, dann muss man jederzeit damit rechnen, den nächsten Tag nicht mehr zu sehen.”

„Ja, aber so einen Kampf könntest du immer auch gewinnen. Aber irgendwann kommt einmal einer, den gewinnst du nicht mehr. Ich glaube, das muss schrecklich für meinen Vater sein. Er ist schon so alt.”

Merrit dachte darüber nach.

„Vielleicht ist der Junge aus Rodekliv ja gar kein Schurke”, sagte er dann. „Vielleicht ist er nett und freut sich, wieder in deine Familie zurückzukehren.”

„Meinst du?”

„Wissen wir’s?”

Sie schwiegen einen Moment. Die Schnecke hatte die Sitzfläche der Bank erreicht und entschied sich wohl, dort eine Pause zu machen. Sie zog sich in ihr Häuschen zurück.

„Meinst du denn, wir könnten nicht vielleicht doch Freunde werden, wie unsere Väter?”, fragte Merrit.

„Das fragst du jetzt doch nur, weil du es dir mit den yarlandoray hier verdorben hast”, unterstellte Osse.

„Ach.” Merrit winkte ab. „Das bekomme ich schon wieder hin. Ich verliere einfach den nächsten Kampf gegen die beiden, dann haben sie ihre Ehre wieder und ich meine Ruhe.”

„Und deine Wut?”

„Bist du wütend, weil deine Mama weg ist?”

„Ich glaube, ich bin nicht wütend. Ich bin traurig. Es … na ja, es ist, als wäre etwas aus meinem Herzen herausgerissen. Es tut weh, wenn ich an sie denke. Und du?”

„Es ist unrecht, dass sie weg ist.”

„Es war Wille der Mächte.”

„Nein, es war ein Stein. Und ich glaube, nein, ich weiß, dass diesen Stein etwas geworfen hat. Etwas, was mir eines Tages dafür büßen wird. Ja. Das ist meine Wut.”

Osse musterte den andern Jungen ernst.

„Bitte”, bat Merrit Althopian leise. „rede mir das nicht aus. Alle versuchen das. Von Vorsehung reden sie, von Zufall, vom Willen der Mächte. Von einem Unfall. Kennst du das, wenn du etwas genau weißt, ganz genau weißt, dass etwas wahr ist, und die anderen tun es ab?”

„Ja”, sagte Osse schlicht. „Das tut weh. An Stellen, die du nicht kühlen kannst, Als stünde man zu nahe an einem Feuer und könnte nicht weg von dort.”

„Es brennt und juckt dort, wo man sich nicht kratzen kann, drinnen im Kopf und im Herzen”, sagte Merrit Althopian. In seine Augen trat ein seltsamer, verschwommener Ausdruck. „Manchmal wird es besser, wenn man … ich hab neulich versucht, die schönen Rosen zu zerschlagen. Als mein Vater mich endlich aufhalten konnte, da wusste ich am Ende nicht, was ich getan habe. Ich hab mich so geschämt. Aber dieses Stechen und Kribbeln .. das war weg. Zumindest eine Weile.”

Er schaute nach oben, wo die obersten Spitzen der Ranken sich im Wind wiegten. „Du bist der erste, dem ich das erzählt habe.”

„Danke”, antwortete Osse.

„Wie ist es bei dir?”, fragte der Junge. Ihm war anzusehen, wie sehr seine Worte ihn erschöpft hatten.

„Dir hat es etwas kaputtgeschlagen”, sagte Osse Emberbey, ertappte sich sofort bei seiner unsensiblen Wortwahl, aber der andere ging nicht darauf ein. „Bei mir war es … als käme der Winter. Aber einer, der nie wieder zum Frühling wird. Ich hatte gewusst, dass es so ausgehen würde. Ich habe gespürt, dass die doayra und mein Vater und überhaupt alle es gewusst und nie ausgesprochen haben. Als hätte ich deinen Stein fallen sehen, unaufhaltsam, aber so langsam wie eine Feder.”

„Du hast gewusst, dass du sie verlierst?”

„Ja. Lange Zeit voraus.”

„Das muss schrecklich gewesen sein.”

Osse zuckte die Achseln und schaute zu Boden.

Merrit dachte nach. „Und doch liebst du dein Schwesterchen?”

„Natürlich. Ich muss es beschützen. Meine Mama konnte ich nicht beschützen. Aber ich bin ein Schwächling. Das weiß ich. Ich hab es oft genug gehört.”

Merrit neigte sich vor.

„Wenn du einmal jemanden brauchst, der euch mit dem Schwert verteidigt, dann kannst du auf mich zählen.”

Osse blickte überrascht auf. „Aber …”

„Nein! Versteh das nicht falsch. Ich will dich nicht beschämen. Ich will nur, dass du weißt, dass ich dein Freund sein will. Auch, wenn wir niemals Kampfkumpane sein werden, die die teirandanja Seite an Seite verteidigen.”

Osse dachte darüber nach. „Wenn du und die deinen einmal jemanden brauchen, der … sich mit langweiligen Amtsdingen auskennt, dann weißt du, auf wen du zählen kannst.” Er lachte hilflos. „Bei den Mächten, das klingt so verquer. Aber es gibt nichts, was ich bieten könnte.”

„Freunde?”, fragte Merrit Althopian. „Was immer sich unsere Väter für uns ausdenken?”

Osse erhob sich und kam zu ihm herüber. Merrit konnte gerade noch die Schnecke aufheben, bevor der kurzsichtige Junge sich versehentlich darauf setzte.

Osse Emberbey nahm seine Brille ab und neigte sich zu Merrit Althopian vor. Der Junge benötigte einen Augenblick, um zu verstehen, das er ihm seine Stirn darbot. Dann nahm er das Angebot an.

Stirn an Stirn saßen die beiden eine Weile still beieinander, während der blaue Käfer zwischen den Rosen umherschwirrte und die Schnecke aus ihrem Häuschen schaute, feststellte, dass sie keinen Untergrund hatte und sich wieder zurückzog.