„Waýreth?”

Yarl Althopian blieb ungeduldig stehen und drehte sich um. Andriér Altabete und Daap Grootplen, beide offenbar gerade eben auf den Burghof zurückgekommen, hielten auf ihn zu, der hinüber zum Stall strebte. Zunächst wollte er die beiden abwimmeln. Dann schaute er genauer hin und stutzte.

„Was ist denn mit euch geschehen?”, erkundigte er sich, gegen seinen Willen nun doch interessiert. „Habe ich eine Schlacht verpasst?”

„Nicht ganz. Wir haben mit den Jungs trainiert.”

„Ja, und dabei haben wir die Zeit vergessen. Es gab viel zu reden.”

„Ah.” Althopian lächelte freudlos. „Sieht aus, als wäret ihr nicht recht in Form, so derangiert wie ihr ausseht.”

„Lass das unsere Sorge sein.” Grootplen, dessen Gewänder komplett durchgeschwitzt waren, fühlte sich wohl ertappt. „Sag uns lieber, was in Emberbey gefahren ist.”

„Wo ist er hin? Ich wollte ihm nach, wurde aufgehalten und habe ihn aus den Augen verloren!”

Altabete deutete hinüber zu der kleinen Seitentür gegenüber dem Haupthaus, ein diskreter Nebeneingang, der auf den inneren Wall des Grabens führte. „Da ist er heraus. Eilig hatte er es.”

„Er ist nicht einmal gerannt, aber er hatte einen Schritt an sich, als sei ein Chaosgeist ihm auf den Fersen. Was ist passiert? Ist er beim teirand in Ungnade gefallen?”

„Nein”, behauptete Althopian. Noch nicht, setzte er in Gedanken hinzu.

„Und was ist dann?”

„Ich bitte euch um Verständnis, dass ich dazu nichts sagen kann. Es ist etwas, das er … wir mit unserem teirand klären müssen.”

Grootplen runzelte die Stirn. „Nur ihr beide und der teirand?”

„Vorerst. Wir sind die yarlay des teirandon Spagor. Ich gehe aber davon aus, dass auch die teiranda zwischenzeitlich im Bilde ist. Und nun entschuldigt mich. Ich muss mit ihm sprechen.”

Er verneigte sich, ließ die beiden stehen und eilte so rasch zur Pforte hinüber wie es möglich war, ohne dabei zu rennen. Aber als er an dem Eisenring zog, der zum Bewegen der Tür dort eingelassen war, bewegte diese sich um keinen Deut. Althopian versuchte, zu schieben, mit demselben Ergebnis.

„Sieht aus, als wären wir nicht die einzigen, die nicht in Form sind”, stichelte Grootplen. Die beiden Herren schlenderten ihm mit unverhohlener Belustigung nach. Althopian winkte ab und rüttelte noch einmal an dem Griff. Ergebnislos.

Nun kamen die beiden abgekämpften Recken interessiert heran.

„Sie geht nicht auf.”

Altabete versuchte es ebenfalls. Doch auch er brachte die Tür nicht von der Schwelle.

„Ist abgeschlossen?”

„Unmöglich. Diese Tür hat offensichtlich kein Schloss.”

„Vielleicht hat er einen Riegel vorgelegt.”

„Hast du in deiner Burg Riegel außen an den Mauern?”

Althopian ließ die Schultern hängen. Tatsächlich. Der Innenriegel, mit dem diese Tür in dem höchst unwahrscheinlichen Fall, dass ein Angreifer den Graben überwand, versperrt werden konnte, lehnte an der Wand.

„Ich glaube, dann soll es nicht so sein, dass ich ihn nun störe”, sagte der Ritter beunruhigt. „Oder gibt es eine weitere Tür?”

„Du kannst an der Zugbrücke rechts runter und einmal ganz um die Mauern laufen, wenn du dir den Aufwand machen willst und nichts besseres zu tun hast.”

Etwas anderes zu tun … nun, tatsächlich. Waýreth Althopian, der sich denken konnte, wer und weshalb derjenige die Tür blockiert hatte, nickte nachdenklich. Es wäre aufdringlich, Alsgör Emberbey anzusprechen, solange sich die Tür nicht wieder öffnen ließ. Das war ein Zeichen, das er verstanden hatte.

„So dringend ist es nicht. Ich sollte wohl nachschauen, wo Merrit ist.”

„Du hast ihn etwa immer noch nicht gefunden?”, erkundigte Grootplen sich, nun mit ernstgemeintem Mitgefühl.

„Ich habe ihn die halbe Nacht gesucht. Entweder ist er mir die ganze Zeit geschickt ausgewichen, oder er hat sich in einem Raum verkrochen, in den ich ihm nicht folgen konnte. Aber ich habe beinahe Angst, dass er es doch irgendwie geschafft hat, die Burg zu verlassen.” Er zögerte und fragte dann: „Mein Sohn kennt sich hier nicht aus. Wenn er im Finsteren weggerannt ist und sich verlaufen hat …”

„Unmöglich. Jeder Weg hier ringsum ist ausgeschildert und die Burg nun wirklich nicht zu übersehen. Es sei denn, er will nicht zurück.”

Die drei Männer schwiegen. Althopian lag das Anliegen auf der Zunge. Aber wie sollte er dieses Gespräch weiterführen? Nun, was nutzte falsche Zurückhaltung.

„Helft ihr mir, ihn zu suchen, wenn er doch fort sein sollte?”

„Selbstverständlich. Er kann ja nicht weit gekommen sein, im Dunklen und ohne Pferd.”

„Warum macht er das?”, fragte Altabete mitfühlend. „Hat er Angst vor dir? Bist du zu streng mit ihm?”

„Nein”, sagte Althopian leise. „Zumindest habe ich ihm nie einen Anlass dazu gegeben. Ich glaube eher, er schämt sich wegen dem Vorfall heute nacht.”

„Warum? Unser Jungs haben das bestimmt längst vergessen.”

„So gedankenlos sind die beiden nicht. Aber das meinte ich nicht. Es ist …”

Die beiden warteten auffordernd. Aber es dauerte einen Moment, bis der yarl weiterredete, während sie sich zurück auf den Hof begaben.

„Als meine hýardora … dieser Stein. Dieser verfluchte Dachziegel … er hat nicht nur sie erschlagen. Im selben Moment ist etwas zwischen mir und Merrit zersprungen wie ein Stück Glas.” Althopian lächelte flüchtig und so jämmerlich, als wolle er wieder weinen. Aber diesmal hatte er sich besser unter Kontrolle. Nein, vor den beiden Vätern braver und artiger Söhne durfte er sich nicht gehen lassen. „Er war ihr ganzer Stolz, müsst ihr wissen. Sie war so glücklich, als er geboren war, sie hat ihn nicht aus den Augen gelassen. Ihr habt sie gekannt, meine hýardora, ihr wisst, wie gut und lieb sie mir war. Aber wenn sie ihn im Arm hatte, da war sie noch viel schöner und glücklicher. Und er, er hat sie verehrt. Immerfort hat er versucht, sie stolz und glücklich zu machen und sie zum Lachen zu bringen. Er lachte hilflos auf. „Ich hätte nicht gedacht, wie viel Frohsinn und Liebe in einem so kleinen Herzen sein kann. Wie empfindsam er ist. Er war ihr Ebenbild.”

Die beiden Ritter schwiegen.

„Wie geht es dir, Waýreth?”, fragte Altabete schließlich. „Was hat dieser verfluchte Ziegelstein mit dir gemacht?”

Althopian schüttelte müde den Kopf. „Das spielt keine Rolle. Ich muss das mit mir selbst ausmachen.”

„Waýreth … wir sind nicht so grobklotzig und gefühllos, wie wir aussehen. Du weißt, dass wir dir zuhören und dir mit allem helfen, was wir können”, erinnerte Grootplen ihn gutmütig.

„Ich bin … müde. Ich fühle mich so unglaublich schwach und leer”, gestand Althopian.

„Das ist in Ordnung”, gab Altabete zurück. „Wir werden dich nicht anstrengen. Du hast viel durchgemacht.”

„Ich danke euch beiden. Eines Tages werde ich die Kraft haben, den Verlust zu akzeptieren, den ich erlitten habe. Alles, was ich für den Moment will, ist nur, dass mein Sohn mich nicht auch noch lebendigen Leibes verlässt.”

„Warum sollte er dich verlassen?”

„Vielleicht denkt er, dass ich seine Mutter hätte beschützen können. Vielleicht zürnt er mir, weil er mir die Schuld daran gibt.”

Hättest du sie beschützen können?”

Waýreth Althopian blickte erstaunt auf. Nun erst wurde ihm bewusst, dass er mitten auf einem geschäftigen Burghof stand, einem, wo er Gast war noch dazu, nicht in seinem eigenen Heim. Das Gesinde der teiranda eilte emsig um ihn herum, niemand kümmerte sich um ihn und das Leid, das er seit jenem unglücklichen Vormittag von sich zu drängen versuchte, bis es ihn in der Nacht, in seinen Träumen zu packen bekam und er schluchzend auf dem Lager, in den Kissen erwachte, die sie mit ihm geteilt hatte. In manchen Nächten könnte er den Duft des Blumenwassers in seiner Erinnerung wahrnehmen, mit dem sie sich das schöne schwarze Haar gewaschen hatte, und er spürte geisterhaft ihre Hände.

Dass gerade die beiden anderen Herren, mögen ihnen die Mächte ihre hýardoraé erhalten, solchen Anteil nahmen, überwältigte ihn auf eine verstörende Weise. Da standen sie, zerrauft, erschöpft und voller Schweiß und etwas Dreck. Und sie hörten ihm zu.

„Ich danke Euch”, sagte er leise. „Und ich flehe zu den Mächten, dass unsere Söhne einander einmal so verbunden fühlen werden, wie ich mich in diesem Moment mit euch.”

„Nun mach uns nicht verlegen”, wehrte Grootplen unwirsch ab. „Komm mit uns. Lass dem verrückten Emberbey seine Ruhe. Wir wechseln rasch unsere Kleidung. Und dann durchkämmen wir die Burg nach deinem Nachwuchs. Meine Tochter hilft uns mit den Damengemächern.”

„Wir teilen uns auf”, schlug Altabete vor. „Wenn er vor einem flieht, läuft er dem anderen in die Arme.”

***

Um aus dem Amtszimmer des teirand zum nächsten Treppenaufgang zu kommen, mussten die beiden Jungen um die Ecke herum, die den kurzen Korridor mit dem längeren verband, wo die Gastgemächer sich befanden. Dort waren die Mägde wohl immer noch mit ihren Putzarbeiten beschäftigt, der Boden war nass und ein Feudel stand an ein Fenster gelehnt. Allerdings schienen die Mächte ihnen wohl gesonnen zu sein, denn die Frauen waren wohl gerade gegangen, um ihre Eimer mit frischem Wasser zu füllen. Man hörte sie schwatzen, während sie die Treppe hinabgingen.

Die Jungen warteten. Der Gang war frei. Eilig huschten sie ihnen nach.

Osse wollte die Treppe hinunter, aber Merrit hielt ihn zurück. „Nach oben”, zischte er. „Auf den Wehrgang.”

„Warum?”

Merrit bedeute ihm knapp, zu schweigen und zog seinen Begleiter dann treppauf. Auf dem Weg passierten sie den Abzweig zu einem weiteren langen Korridor und gelangten dann ganz oben in einen kleinen runden Raum mit zwei Türen. Von diesem kleinen Ecktürmchen ging es auf die zinnenbewehrte Mauerkrone, die die Burg umrundete.

Merrit Althopian schaute in die Ferne. Im Süden war in der Ferne der Kamm des Montazíel zu erahnen. Ringsum erstreckte sich das endlose Wiesen- und Ackerland mit vereinzelten Gehöften. Anders als die alte Burg derer von Althopian war die Burg von Wijdlant auf ebenem Gelände erbaut, die Fernsicht nicht besonders gut. Den strategischen Vorteil boten die platten Felder und Weiden, die nur von kleinen Hainen mit niedrigen Bäumen durchbrochen wurden, und natürlich der breite Graben. Anschleichen konnte sich hier niemand. Aber wer bessere Ausschau halten wollte, musste hinauf auf den hoch aufragenden Turm. Merrit schaute neugierig hinüber. Es war ein faszinierender Bau, den er gern näher untersucht hätte. Von zuhause kannte er nur den uralten eckigen Wehrturm. Dieser hier war rund und ein gutes Stück höher. Was man von oben wohl sehen konnte? Aber das war nun unwichtig.

„Wir nehmen eine Außentreppe”, erklärte Merrit. „Da kommt uns niemand entgegen, ohne dass wir es merken.”

„Aber man sieht uns hier.”

„Und wir sehen die anderen. Aber was sollte jemand jetzt hier wollen?” Merrit schaute sich um. „Kennst du dich hier aus? Wo ist der Garten?”

„Ich weiß nicht, ich bin auch erst seit gestern hier. Ich schätze aber, an der Nordmauer.”

„Wieso?”

„Das wäre vernünftig so, weil die Pflanzen da über den Tag das meiste Licht und am wenigsten Schatten bekommen.”

„Dann komm!”

Auf dem Wehrgang hatten sie Glück. Niemand kam ihnen entgegen. Solange sie sich dicht an den Zinnen hielten, sah man sie vielleicht auch von unten nicht.

Wie der bebrillte Junge vermutet hatte, waren tatsächlich im nördlichen Bereich der Burgmauern zur Hof- und zur Grabenseite innerhalb eines etwas niedrigeren Mauerrings Beete, Büsche und Obstbäumchen angelegt. Es musste dort unten einen Durchgang in der Mauer in diesen vorgelagerten Bereich geben. Die Rosenlaube, von der der Magier geredet hatte, war deutlich zu erkennen, lag im Inneren des Gartenummauerung. Eine sehr steile und offensichtlich kaum genutzte Treppe, gesichert nur mit einem Seil als Handlauf, führte in der Nähe herunter. Zwei junge Frauen und ein Mann mit Strohhut waren unten an den Beeten beschäftigt.

Näher heran kamen sie nicht. Merrit überlegte nicht lange. Wenn sie nur schnell und leise nach unten kamen, konnten sie sich zwischen den Büschen verstecken und …

„Geh allein”, sagte der andere Junge.

Merrit schaute sich um. „Was?”, fragte er schroff und bemerkte dann, wie kreidebleich das Gesicht hinter der Brille war.

„Ich hab Angst. Da komme ich nie und nimmer heil herab.”

„Oh. Du kannst die Stufen nicht richtig sehen, stimmt’s?”

„Ja. Sie verschwimmen ineinander. Mir ist schwindelig.”

„Obwohl der Magier die Gläser verbessert hat?”

„Das ändert nichts an meinem Ungeschick.”

„Ach komm. Du übertreibst.”

„Bist du schon einmal eine Treppe runtergefallen?”

„Nein.”

„Sei froh!”

Merrit grinste. Wie der andere Junge da so verzagt stand und panisch in die Tiefe linste, amüsierte ihn. Aber Ungeschick hin und her, bei diesem Abenteuer musste er mittun. So weit waren sie gekomen, da wäre ein Rückzieher blanke Feigheit.

„Ich halte dich fest.”

„Aber …”

„Dir passiert nichts. Du hältst die Hand am Seil.” Er drehte sich zu seinem Begleiter um und legte ihm die Hand auf den Arm. „Nimm meine Schulter als Stütze. Ich pass auf, dass du nicht zu weit nach außen trittst. Wenn du doch ausrutscht, fange ich dich auf.”

„Dann werde ich dich mit herunter reißen!”

„Ich bin schon mal eine Mauer runtergefallen”, erklärte Merrit unbekümmert. „So schlaksig wie du bist, prallst du eher an mir ab.”

Der andere zögerte.

„Vertrau mir.”

Der andere Junge murmelte etwas. Es klang, als befehle er sich den Mächten. Dann streckte er seine Hand aus.

„Ich lass dich nicht fallen”, versprach Merrit und trat rückwärts auf die schmale, verwaschene Treppe. „He, das war eine wirklich gute Idee, nach Norden zu gehen. Woher wusstest du das mit den Pflanzen?”

Der andere Junge tastete zaghaft mit der Fußspitze nach der ersten Stufe. „Von meinem mestar. Ich hatte ihn einmal gefragt, warum das Gras unten an der Mauer so mickerig wächst, dass die Schafe es nicht wollen.”

„So etwas erklärt mein mestar mir nicht.”

„Hast du ihn so was schon mal gefragt?”

„Nein. Das ist Bauernzeug. Mein mestar ist zufrieden, wenn ich lesen und rechnen kann. Rechnen ist wichtig. Wenn man nämlich ein Turnier bestreitet, dann … Entschuldige.”

Der andere lächelte, obwohl er sichtlich in Panik war, wie er sich da Schritt für Schritt vorantastete. Seine Finger hatte er fest in Merrits Schulter gekrallt. „Sag es ruhig. Wenn ich jemals bei einem Turnier sein sollte, dann bei den Damen auf der Tribüne.”

Das sagte er so gelassen, dass es Merrit befremdete. Für einen winzigen Moment zuckte die Erregung in ihm auf, die er immer verspürt hatte, wenn er sich das spannende Szenario eines Turniers ausmalte. Als ganz kleiner Junge hatte er einmal einem Turnier beigewohnt, natürlich gemeinsam mit den Damen. Das vasposár von yarl Moreaval war das gewesen, ein winziges Turnier, an dem nur die Ritter von Wijdlant, Spagor und ein paar befreundete Gäste aus Valvivant teilgenommen hatten. Merrit hatte damals noch nicht allzu viel von dem verstanden, was da eigentlich zur Freude der Zuschauer vorgegangen war, aber der Anblick der Ritter, einschließlich seines eigenen Vaters, in ihrem aufwändigen Eisenzeug, mitsamt den großen Turnierlanzen, der vielen Pferde und der Schutzbefohlenen, die ihre Herren anfeuerten, das Klingen von Metall und die Erde, die unter den Pferdehufen bebte, das hatte sich tief in das Herz des Jungen eingebrannt.

Wer an diesem Tag den spielerischen Wettkampf gewonnen hatte, wusste Merrit nicht zu sagen, viel zu turbulent und unübersichtlich war das alles für seinen kleinen Verstand gewesen. Auf dem Schoß seiner Mutter hatte er bei den Damen gesessen und war von einem sonderbaren Glücksgefühl beseelt gewesen. Am Ende hatte der junge yarl Moréaval im Übermut sein Pferd ganz dicht an die Zuschauerinnen gelenkt und seine zugleich kreischende und lachende hýardora auf sein Pferd gezogen. Die anderen Ritter waren den beiden unter großem Gejohle nachgehetzt, hatten sie aber entkommen lassen. Der Ritter mit seiner Dame war in einem Wäldchen am Rand der Planwiese verschwunden und man hatte die beiden bis zum nächsten Morgen nicht wieder gesehen. Merrit hatte sich nie erklären können, was seine Eltern daran so lustig gefunden hatten, wenn sie davon erzählten. Das geschah oft. Merrit hatte, je älter er wurde, mehr und mehr Details über jenes Ereignis hören wollen, das ihn so tief beeindruckt hatte, mehr als alle anderen, zu denen er seinen Vater später begleitet hatte. Viele waren es nicht gewesen, Merrit war noch jung, all das lag noch vor ihm. Und er hatte beschlossen, niemals …

„Wieso sind wir nicht einfach im Stiegenhaus geblieben?”, riss der andere Junge ihn aus seinen Gedanken.

„Wenn es irgendwie anders geht”, murmelte Merrit geistesabwesend und stieg bedacht und Schritt um Schritt die verwitterten Stufen, „darfst du niemals in einem Gebäude kämpfen”,

„Wieso?”

„Die Wände sind im Weg. Und sie können dich in die Enge treiben.”

„Aber es war doch niemand zum Kämpfen da!”

„Mich erwischen sie nicht”, sagte Merrit und blieb stehen, einen Herzschlag nur. „Wenn sie mich festhalten wollen, werde ich mich wehren!”

Der andere Junge kommentierte das nicht. Schweigend kletterten sie die abgelegene Treppe hinab, beide tief in Gedanken versunken.

„He!”, rief es da aus Richtung der Büsche, als sie fast den rettenden Boden erreicht hatten. „Was macht ihr da?”

Der Mann mit dem Strohhut, der Gärtner wohl war es, der mit energischen Schritten auf die Treppe zustapfte.

Merrit zuckte zusammen. Impulsiv schickte er sich an, die verbliebenen Stufen herabzuspringen und zu fliehen, wie ein Hase. Aber der andere packte seinen Arm, hielt ihn fest. Ein, zwei Atemzüge versuchte Merrit, sich loszureißen, rangelte mit ihm, dass sie beide beinahe doch noch herabgestürzt wären.

„Blieb hier!”

„Lass mich sofort los, du …!”

„Du bist doch der Junge, den die Herren suchen!”, rief der Gärtner aus. Jetzt kamen auch seine Gehilfinnen näher. „So ein Glück! Hier kommst du nicht …”

„Ja, und ich habe ihn gefunden”, fiel der Junge mit der Brille ihm ins Wort, mit einer Strenge und Autorität, die nicht zu seiner Kinderstimme passte. Aber es ließ den Gärtner verstummen. „Ich bringe ihn zu seinem Vater!”

Energisch versuchte Merrit, sich loszureißen. Aber der Verräter klammerte sich an das Seil. „Vertrau mir!”, zischte er.

Der Gärtner stand nun vor ihnen. Eine Flucht nach oben war unmöglich.

„Und du?”, fragte er schroff.

„Ich bin Osse yarlandor von Emberbey. Ich habe meinem Vater bei der Suche geholfen,” sagte der Junge, der nie ein Ritter werden würde, scharf.

„Da wirst du dir sicher eine schöne Belohnung verdient haben”, sagte der Gärtner. Der Mann schien … verunsichert.

„Wir sind froh”, sagte Osse kühl, „dass wir die Vorkommnisse unter Standesgleichen regeln können. Wenn du uns nun passieren lässt? Ich will weiter!”

Der Gärtner errötete. Dann trat er einen Schritt zurück, zog seinen Hut und verneigte sich tief. Osse schob seinen Gefangenen nachdrücklich voran. Merrit fügte sich verblüfft. Gehorsam lief er neben dem dünnen Jungen her, der ihn fest am Arm hielt.

„Kommt er uns nach?”, flüsterte Osse Emberbey.

„Nein.” Merrit tat einen raschen Schulterblick. „Er scheucht die Mädchen zurück ins Beet.”

„Wo ist die Laube? Ich sehe nur Blätter, lauter Grün …”

„Zehn Schritte. Links. Hinter den Bohnenranken.”

„Sag mir, wenn.”

Vier Schritte. Drei …

„Runter und los!”, zischte Merrit Althopian. Osse Emberbey duckte sich. Mit klopfenden Herzen und unentdeckt entwischten die Jungen durch üppige Minzen und Küchenkräuter in den Schutz duftender Dornenranken.