
Alsgör Emberbey hatte sich ursprünglich in das ihm zugewiesene Gastgemach zurückziehen und die Tür hinter sich schließen wollen; eine Geste, die Waýreth Althopian hätte akzeptieren müssen. Als er aber die Stube in dem angrenzenden Korridor erreichte, fand er den Raum verlassen vor. Sein Sohn hatte also ganz offensichtlich die Gelegenheit genutzt, sich aus dem Staub zu machen.
Und da hatte Waýreth Althopian ihn auch schon eingeholt.
„Alsgör”, zischte der jüngere Mann und legte die Hand auf die Schulter des alten yarl, „jetzt kommt zur Vernunft!”
„Es gibt hier keine Vernunft”, gab Emberbey wütend zurück. „Es gibt nicht einmal einen Ausweg!”
„Wollt Ihr den teirand brüskieren?”
„Ach!” Ärgerlich schüttelte Emberbey seine Hand ab. „Lasst mich in Ruhe!”
„Bitte!”
Emberbey stieß Althopians Arm beiseite und funkelte seinen Standesgenossen wütend an. „Packt Euch und Euren außergewöhnlichen Sohn und lasst mich in Frieden den meinen suchen!”
Er wollte sich befreien und weitergehen. Althopian griff nach ihm, besann sich aber im letzten Moment darauf, den alten Ritter besser nicht bedrängen zu wollen. Also ließ er von ihm ab und folgte ihm auf dem Fuße. Aber weit kamen die beiden nicht. Am Durchgang zum Stiegenhaus hatte sich ein kleiner Menschenpulk gebildet, Schutzbefohlene aus Wijdlant, inklusive der jungen yarlara von Moréaval und der teiranda persönlich, die gerade eben aus der Gegenrichtung hinzu kam, eine ältere Hofdame im Schlepp. Die opayra der jungen teirandanja, wie die Herren sich erinnerten.
Der alte yarl bezähmte sich gerade noch rechtzeitig, sich seinen Weg durch die Gaffer zu bahnen, die er wohl selbst mit seinem Gezeter auf den Plan gerufen hatte. Da klangen auch schon die Schritte von Asgaý von Spagor in seinen weichen, zivilen Lederschuhen hinter ihnen.
Waýreth Althopian blieb stehen und kniete dann artig vor der teiranda nieder. Kíaná von Wijdlant winkte ihm ungeduldig, sich wieder zu erheben. Emberbey senkte seinen Blick. Das alles war so peinlich!, war an seiner nach wie vor beunruhigend lebhaften Miene abzulesen.
„Was geht hier vor sich?”, fragte die teiranda. „Man berichtet mir, hier sei ein ungebührlicher Streit ausgebrochen?”
„Eine kleine Sache, die der Klärung bedarf, meine teiranda“, behauptete Asgaý von Spagor beschwichtigend. „Wir waren alle ein klein wenig aufgebracht.”
„Wie klein diese Sache ist, Majestät, wird sich wohl noch zeigen”, sagte Althopian. „Ich bitte euch, lasst mich das zunächst mit Emberbey ausmachen.”
Die teiranda wechselte einen fragenden Blick mit ihrem hýardor. Der zuckte vielsagend die Achseln und schüttelte den Kopf.
Alsgör Emberbey schaute zu Boden. „Majestät”, bat er schließlich. „Bitte gebt mir einen Moment allein. Ich muss mich bedenken, ohne dass mir irgendjemand in meine Gedanken hineinplappert.”
Sie zögerte einen kurzen Augenblick. Dann winkte sie die opayra und die yarlara beiseite. Die Frauen steckten die Köpfe zusammen und berieten sich.
„Geht, Emberbey”, sagte sie dann freundlich. „Kommt zur Ruhe und lasst uns hernach reden.”
„Ich bedanke mich, Majestät.”
Er verneigte sich und beeilte sich, würdevoll an den Damen vorbei zu gehen.
„Emberbey”, rief sie ihm nach. „Lasst Euch nur nicht einfallen, mein Haus in unangemessener Eile zu verlassen. Ich wünsche nicht, dass einer unserer Dienstmänner in so aufgestörter Laune eigene Wege geht. Kommt zu Euch und erleichtert dann Euer Herz.”
Der alte Ritter sah für einen ganz kurzen Moment so aus, als läge ihm eine schroffe Antwort auf den Lippen. Dann nickte er und ging würdevoll davon.
Waýreth Althopian schaute ihm verblüfft nach. Dann kam auch in ihn wieder Bewegung.
„Alsgör!”, rief er. „Wartet auf mich!”
Asgaý von Spagor griff rasch zu und erwischte seinen Dienstmann gerade noch am Ärmel. „Lasst ihn! Es hat doch keinen Sinn, ihn nun noch weiter zu bedrängen! Lasst ihn doch erst einmal einsehen, was für eine untragbare Dummheit er da begangen hat!”
„Majestät! Bitte, lasst mich das nach meinem eigenen Herzen regeln! Er ist mein Freund! Ich mag ihn in diesem Zustand nicht aus den Augen lassen!”
Kíaná von Wijdlant nickte ihrem hýardor zu. Der teirand ließ den blauen Waffenrock los.
„Ich weiß nicht, was hier vorgefallen ist”, sagte Kíaná von Wijdlant. „Aber ich denke, es ist nicht verkehrt, wenn Ihr beide näher beieinander steht als wir zu Euch. Geht. Aber treibt ihn nicht in die Enge. Das mag ihn noch mehr verstocken. Ich bin sicher, dass sich alles fügt.”
Waýreth Althopian senkte artig den Blick vor ihr. Dann ging auch er, aber gemessenen Schrittes. Er rannte dem Fliehenden nicht nach.
„Und was ist nun mit den Kindern?”, fragte die opayra hinter seinem Rücken. „Majestät, es kann nicht angehen, dass die Mädchen sich gegenseitig zu Unarten verleiten! Wo bleibt denn da die Disziplin?”
„Sind sie schon wieder unerlaubt fortgegangen?”, seufzte der teirand. „Ich kümmere mich darum.”
Er wollte sich an den Damen vorbei, aber die teiranda hielt ihn zurück.
„Wo ist Meister Yalomiro?”, fragte sie leise.
Sie schauten den Korridor hinunter. Aber obwohl der Magier aus dieser Richtung hätte kommen müssen, blieb der Gang leer.
***
Galéon betrachtete die Gerippe, die er unter all dem alten Laub hervor gescharrt hatte, voller Demut und Ernst. Es waren nur zwei Schädel gewesen, und auch die größeren Knochen wiesen nicht darauf hin, dass mehr als zwei Menschen in dieser Höhle hinter die Träume gegangen waren.
Der báchorkor konnte sich nicht erklären, woher er das wusste, aber er erkannte die Skelette als die zweier alter Leute, eines Mannes und einer Frau, die beide mehr als neunzig Sommer gesehen hatten, mindestens. Beide hatten kaum noch Zähne im Mund gehabt, das Alter hatte ihre Knochen verformt und spröde gemacht. Hinter die Träume gegangen waren sie ungefähr zur selben Zeit. Mehrere Dutzend Winter mochte es her sein.
Er schaute hinauf zu der Öffnung oben im Fels und wunderte sich. Es war doch nicht anzunehmen, dass zwei Greise sich hier an einer Kletterpartie versucht und dabei zu Tode gestürzt hatten. Ebenso wenig glaubte er, dass die beiden denselben Weg aus dem Brunnen genommen hatten wie er und dann hier in der Falle gewesen waren. Das erschien ihm absolut unmöglich.
Gab es etwa noch einen weiteren Zugang? Waren diese alten Leute es gewesen, die mit der letzten Kraft ihrer alten Leiber den engen Gang verschüttet hatten, der diese Höhle mit dem Brunnen verband?
Er würde es nicht erfahren, das war ihm klar. Noch nicht.
Andächtig hob er den Schädel der alten Frau auf. Die leeren Augenhöhlen faszinierten ihn auf eine ungute Weise. Was mochte das Letzte gewesen sein, was die Greisin gesehen hatte? Erinnerten sich ihre Knochen?
Energisch legte er den Schädel zurück an seinen Platz. Nein. Was immer für unentdeckte Mächte in ihm schlummern mochten, es war nicht recht, Vergangenes zu befragen. Es war schon genug, dass er das Phantom hinter den Träumen um seinen Beistand gebeten hatte. Für so etwas war er noch nicht bereit.
Andererseits … hatte jemand die beiden alten Leute hier in die Höhle hinabgestoßen? Oder hatte etwas sie hierher gelockt?
Galéon wusste, dass es unvernünftig war, dass er viel zu viel Zeit verlor, wenn er sich hier zu lange aufhielt. Dennoch tastete er sich tiefer in das armtiefe, trockene Laub. Alles, was er zutage förderte, waren noch mehr kleinere Knochen. Blätter, Sand und kleine Zweige.
Schließlich gab er auf und erhob sich. Nichts! Nicht die kleinste Spur von Stoff oder Metall, Holz oder Leder. Waren diese beiden Toten etwa völlig nackt hinter die Träume gegangen? Selbst wenn sie hier seit hundert Wintern liegen mochten und die Zeit sich ihre Habe geholt hatte – es war unmöglich, dass gar nichts zurückgeblieben war, keine Gürtelschnalle, kein Stück von einem Schuh, keine mürbe gewordene Geldbörse oder auch nur eine Spange, womit die Frauen ihr Haar bändigten.
Hatte etwa jemand das, was sie am Leib getragen hatten … gebrauchen können?
Galéon seufzte und klopfte sich den Schmutz von den immer noch feuchten Gewändern. Er hatte gehofft, irgendetwas zu finden, was ihm aus der Höhle heraus geholfen hätte. So wie es aussah, würde ihm wohl nichts anderes übrig bleiben, als mit bloßen Händen die Felswand hinauf zu klettern. Das würde schwierig, aber sicher nicht unmöglich sein, denn der quarzdurchsetzte graue Stein war unregelmäßig geformt. Es wäre nicht das erste Mal, dass der junge Mann eine waghalsige Kletterpartie unternahm. Das Risiko, abzustürzen und sich das Genick zu brechen bestand ohnehin nicht, wie er mit bitterer Heiterkeit feststellte. Aber jeder Fall würde ihn kostbare Zeit kosten, jede ernste Verletzung möglicherweise um Tage zurückwerfen. Er durfte nichts überstürzen und musste mit seinen Kräften haushalten.
Suchend lief er einige Schritte unterhalb der Öffnung hin und her, durch die das sanfte goldene Licht hinein flirrte. Sehnsüchtig blickte er hinauf. Er stellte sich vor, wie die Sonnenstrahlen ihn wärmen, seine Kleidung trocknen und die klamme Kälte und Finsternis besiegen würden. Nur noch die Felsen trennten ihn von diesem köstliche Ziel. Doch die flimmernden Schatten, die das Geäst vor dem zugewucherten Höhleneingang warf, machten ihm die Sache nicht einfacher, denn sie verzerrten die Oberfläche des Gesteins. Dennoch gelang es ihm, hier und da Unebenheiten auszumachen, die seinem Fuß und seinen Händen Halt bieten würden. Er trat einen Schritt zurück und versuchte, sich die Reihenfolge, die ungefähre Position und ein Muster der Vorsprünge zu merken. Während er so Schritt um Schritt rückwärts ging, blieb unvermittelt seine Ferse an etwas hängen, das halb vergraben im Kies der Bachbetts gelegen hatte.
Einen Herzschlag lang dachte Galéon, es handele sich um eine Schlange, die sich um seinen Fuß ringelte und zuckte zusammen. Als er jedoch hinschaute, erkannte er, dass es ein Kettchen war, angelaufen und kaum zu erkennen im Dämmerlicht und auf dem feinen Kies. Er bückte sich danach, zog daran und förderte einen Klumpen von etwas aus dem Boden hervor, das aussah wie ein zerfleddertes Vogelnest. Beides, Kette und Gewölle waren eng ineinander verschlungen.
Der báchorkor hob verblüfft die Augenbrauen. Was immer er hier in der Hand hielt, es hatte sicher lange Zeit im feuchten Bachbett gelegen und sich dabei so weit zersetzt, dass nur noch übrig war, was selbst dem Wasser standhielt. Metall. Silber. Ein Schmuckstück und die Reste von dem, was mit sehr viel Phantasie noch als Garn zu erkennen war, kostbarer metallener Faden, der vielleicht einmal ein höfisches Gewand geziert hatte.
War das etwa die Kleidung der beiden Alten gewesen? Vielleicht die eines vornehmen Paares aus Aurópéa, das gemeinsam an diesem seltsamen Ort hinter die Träume gegangen war, vielleicht im Rahmen eines sonderbaren Brauches?
Aber was sollte das für ein albernes Ritual sein, bei dem sie sich entkleideten, ihre Gewänder auszogen, in der Mitte der Höhle im Wasser verscharrten, um dann unterhalb der Felswand nackt zu sterben? Das war doch blanker Unfug!
Er versuchte, die Schmuckkette aus dem Fadenknäuel zu lösen, ein unmögliches Unterfangen. Erfolg damit hatte er erst, als es ihm gelang, die Metallfädchen kurzerhand zu zerreißen und die Plakette aus der Mitte des Gewirrs zu zerren. Feiner Sedimentstaub hatte eine Kruste darum gebildet. Galéon begann, das gröbste davon mit dem Fingernagel wegzukratzen, während er seine Aufmerksamkeit wieder dem Felsen zuwandte. Wenn er links unten begann und dann schräg nach rechts und von dort unmittelbar nach oben langte … aber da ging es nicht weiter. Was er von hier sah, würde er sich aus der Nähe nie und nimmer einprägen.
Ein Brocken der Sandkruste und ein Batzen Faden löste sich. Der báchorkor ließ sich ablenken und warf einen Blick auf das notdürftig gesäuberte Amulett. Erwartet hatte er, das Wappen eines Adligen oder das alte Zeichen des konsej zu sehen, etwas, das einen der Toten als illustres Mitglied der Oberschicht der Stadt auswies.
Doch das Zeichen, das er nun in Händen hielt, drei ineinander verschränkte, asymmetrische Dreiecke, das hatte er nie zuvor gesehen.
***
„Ist dein Einhorn niemals müde?”, fragte Dýamirée.
Cýelú versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr er sich über diese Frage freute. Das Kind hatte nicht mehr mit ihm geredet, seit sie wieder in der Luft waren. Zwischenzeitlich stand Pataghíus Glanz hoch über dem Montazíel. Wenn sie in diesem Tempo voran kamen, würden sie morgen am späten Mittag den Cielástel erreichen.
Dass sie nun von sich heraus eine Frage stellte, bedeutete hoffentlich, dass sie begann, sich für ihre Umgebung zu interessieren.
„Er schläft ja”, erklärte der Regenbogenritter.
„Er schläft?”
„Ja. Sie können zugleich fliegen und schlafen. Hier am Himmel muss er nicht achtgeben, wohin er läuft. Er kann ja mit nichts zusammenstoßen oder hineinfallen.”
„Und woher weiß er, wohin er fliegen muss?”
„Ich lenke ihn. Ganz bedacht und vorsichtig, sodass er gar nicht wach wird dabei.”
Sie schwieg einen Moment, aber diesmal nicht, weil sie ihn mit Verachtung strafen wollte. Diesmal dachte sie nach. Vielleicht war sie sogar beeindruckt.
„Wieso gehorcht er dir?”, fragte sie dann.
„Wieso sollte er nicht?”
„Weil du es willst? Gehorcht er dir, weil du ihn mit deinem Willen verzaubert hast?”
„Wie kommst du darauf, Kleines?”
„Weil er doch so groß und stark und magisch ist. Ganz anderes als das Pferd von dem Ritter, den du erschlagen hast.”
Nein, dachte Cýelú bitter. Nicht wieder diese Schuld!
Aber ihre Gedanken nahmen diesmal einen ganz anderen Weg. „Das Pferd, weißt du, war lieb, aber … na ja … nicht besonders schlau. Der hier ist magisch. Und er ist so groß und stark, dass er dir nicht gehorchen müsste.”
„Er trägt mich ganz freiwillig, Kleines. Wir alle haben eine ganz besondere Verbindung zu unseren Einhörnern. Es ist eine uralte Magie, die auf Gegenseitigkeit beruht.”
„Nicht dein Wille?”
„Nein. Pataghíu schätzt es nicht, wenn wir unseren Willen einem anderen Verstand aufzwingen, nicht einmal dem eines Tieres. Zumindest nicht ohne sehr guten Grund oder in sehr großer Not.”
Sie grübelte weiter. „Dann hast du deswegen nicht versucht, den guten Ritter einfach so zu verzaubern, dass du nicht willst, dass er mir hilft?”
„Im großen und ganzen ja. Das wäre … unehrenhaft gewesen.”
„Wie viele seid ihr in eurem Heiligtum?”
„Sieben. Mit mir acht. Und natürlich ist meine hýardora bei uns. Aber wenn Pataghíu will, wenn es nötig ist, werden wir … viel mehr.”
Sie blickte über die Schulter. Er lächelte zaghaft.
„Das verstehe ich nicht.”
„Das kannst du auch nicht verstehen. Das ist Magie.”
„Ich verstehe sehr viel von Magie”, behauptete sie und schaute an Perlenglanz’ Flügel vorbei auf den Erdboden, die Felder und Baumwipfel hinab, über die ihr Schatten hinweg glitt. Sie überflogen die wilden Graslande und blühenden Bergwälder westlich von Ivaál.
„Die flunkerst, Kleines. Du kannst nicht zaubern. Das kann ich fühlen.”
„Ich habe ja auch nicht gesagt, dass ich zaubern kann. Aber ich schaue Papa so gern zu, wenn er Magie wirkt. Und ich freue mich, wenn Mama es auch versucht.”
Cýelú zauderte. Wenn die Mutter es versuchte? Die Mutter hätte ihn um ein Haar zerschmettert mit ihrer unheilvollen Magie!
„Was zaubert dein Vater denn so?”, fragte er so harmlos, wie es ihm möglich war.
„Lauter schöne Dinge.”
Cýelú schmunzelte. Jetzt dachte sie sich offensichtlich etwas aus, um ihn zu beeindrucken. Gleich würde sie ihm Prahlereien von Macht und Verwüstung aufbinden wollen, und …
„Neulich”, sagte sie ernsthaft, „nach dem großen Sturm, da hatte der Wind einen jungen Baum angeknackst. Die Krone hat den Boden berührt und die Vöglein, die drin wohnten, waren ganz aufgeregt. Das hat mir so leid getan. Da hat Papa gemacht, dass das Holz wieder zusammengewachsen ist.”
„Wie bitte?”, fragte Cýelú irritiert.
„Mama hat mitgeholfen. Sie hat den Baum gestützt und Papa hat ihn heil gesungen. Jetzt ist er etwas krumm, weil der Wind ihn so verbogen hat. Aber er wächst weiter. Und das Vogelnest, das heraus gefallen war, das hab ich selbst wieder in die Zweige gesetzt.”
Wollte dieses Kind ihn veralbern? Was dachte das Mädchen sich da aus?
„Kein Zauber kann einen zerschlagenen Baum wiederbeleben”, sagte er unwillig.
„Der Baum war ja nicht zerschlagen, nur verletzt.” Sie schüttelte altklug den den Kopf. „Dass man nichts Totes mit Magie wiederbeleben darf, das weiß ich doch längst. Das hat Papa mir erklärt, da war ich noch ganz klein.”
„Ach”, machte Cýelú und ärgerte sich über die Verachtung in seiner Stimme. Woher sollte das Mädchen wissen, was für einen Unfug es von sich gab, wenn man es bislang nur belogen hatte.
Sie hatte es bemerkt und war ärgerlich. „Ja! Das weiß ich noch genau, weil … ach. Das verstehst du doch nicht.”
„Gut. Dann repariert dein Vater also Bäume, wenn du ihn darum bittest. Und was macht er sonst noch mit der Macht, die … die Noktáma ihm verliehen hat?”
„Das erzähle ich dir nicht. Du verstehst das doch nicht.”
Cýelú seufzte. Nun hatte er es sich wohl verscherzt mit der Kleinen.
„Und was zauberst du so?”, fragte sie nach einer Weile.
„Ich? Also, ich …. Wir beschützen die große Stadt am Rand der Wüste. Und wir passen gut auf, dass …” Nun zögerte er. Was mochte sie über Chaosgeister wissen, nach all dem, was damals geschehen war?
„Worauf passt du auf?”
„Auf meinen Sohn”, sagte er und log damit nicht einmal. „Ich passe auf, dass meinem Sohn nichts Böses zustößt. Aus der Wüste darf nichts heraus, das für Unkundige gefährlich ist.”
Sie gab einen abfälligen Laut von sich, aber es klang nicht mehr ganz so ablehnend wie zuvor. „Und meine Eltern lassen nichts in den Wald hinein, was gefährlich für mich ist.”
„Sehr erfolgreich sind sie damit jedenfalls nicht,” sagte er gekränkt.
„Und was hast du denn zuletzt Schönes für deinen Sohn gezaubert?”
„Schönes?”
„Ja. Worüber hat er sich gefreut? Was macht ihm Spaß?”
„Er mag Einhörner. Ach, was sage ich: Er ist ganz verrückt nach Einhörnern. Er hat sogar schon ein eigenes. Es …”
„Ja, aber was hast du schönes für ihn gemacht? Außer ihm ein Einhorn zu schenken? Das zählt nämlich nicht, weißt du. Mama sagt, mit Geschenken lenkt man nur vom Wesentlichen ab.”
„Was ist denn das Wesentliche?”, wunderte er sich. Wo hatte das Kind solche Ideen her? Einen ganz ähnlichen Spruch hatte er selbst einst, vor langer Zeit, so weit fort, dass er sich kaum noch erinnerte, zu hören bekommen.
Sie schwieg. Entweder wusste sie es nicht, oder sie hatte nicht die Worte, um es auszudrücken. Eine Weile war es, abgesehen von Perlenglanz’ gemächlichem Flügelschlag, ganz still. Die Geräusche des Weltenspiels drangen nicht bis in diese Höhe vor.
„Ich … ich erzähle ihm Geschichten”, sagte Cýelú schließlich. „Märchen. Das ist zwar keine Zauberei, aber er mag es.”
„Märchen?”
„Ja. Märchen, die ich von meiner Großmutter gehört habe, als ich selbst ein Kind war.”
Stille. Zu lange Stille.
„Erzählst du mir auch eine?”, fragte sie schließlich, leise, fast verlegen. Cýelú atmete erleichtert auf und legte seinen Arm etwas fester um sie. Einen Moment versteifte sie sich, ganz kurz nur. Dann lehnte sie sich an seine Brust.
„Es war einmal”, begann er.
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