
Advon genoss den Tag. Über der Wüste und der Stadt strahlte der Himmel wolkenlos in sattem Blau. Der Cielástel auf seiner Anhöhe funkelte in allen Farben wie ein Regenbogen und wirkte ungeachtet seiner mächtigen Mauern so zerbrechlich, als bestünde er aus hauchdünnem Glas. Pataghíus Glanz stand zu dieser Zeit bereits weit nördlich, über dem Montazíel in der Mitte der Welt und strahlte aus dieser Richtung auf sein Heiligtum nieder.
Die Luft war recht trocken, der Wind, der in den vergangenen Tagen vom Meer am anderen Ende der Welt hierher gestrichen war, hatte die Feuchtigkeit in die Wüste fortgeblasen, wo sie in der Nähe des Chaos zu brodelndem Wasserdampf werden und als Wolken neu aufsteigen würde. Das hatte Advon schon früh gelernt, eines der wenigen interessanten Dinge, die Siledaú ihm beigebracht hatte. Der Junge stellte sich das Spektakel vor, wie Wolken aus dem Sand kamen wie Dunst aus einem Kochtopf und fragte sich, ob er das Wunder einmal mit eigenen Augen sehen würde.
Er fragte den Gelben danach, aber der lachte.
„Nein, Advon Irísolor. So nahe kommen nicht einmal wir an das Chaos heran. Hoch oben aus der Luft kann man es an klaren Tagen mit viel Glück erahnen. Aber es sich aus der Nähe anschauen – das geht nicht.”
„Schade”, antwortete Advon. „Ich hätte mir das gern einmal angeschaut.”
„Die Mächte haben es klug eingerichtet, dass Sterbliche die Grenzen des Chaos nicht überwinden können, indem sie die Wüste und das weite Meer an den Rand des Weltenspielbretts gesetzt haben.”
Der Junge lehnte sich auf Farbenspiels Hals und verschränkte die Hände unter dem Kinn. Nachdenklich schaute er nach Süden, wo hinter den Hügeln die Einsamkeit begann. Von dort erschien jeden Morgen Pataghíus Glanz, des Abends eilte ihm Noktáma nach. Das hatten sie schon getan, bevor Menschen das Weltenspiel betreten hatten.
„Wo ist Pataghíu eigentlich nachts?”, fragte er. „Und was macht Noktáma tagsüber? Ruhen sie sich vielleicht im Chaos aus?”
„Sicher nicht. Nicht im Chaos. Die Mächte haben ihre eigene Domäne. Aber sie können unbeschadet das Chaos durchqueren.”
Advon setzte sich auf. „Woher weißt du das?”
„Weiß das nicht jeder?”
„Als ich Siledaú einmal gefragt habe, sagte sie, ich solle nicht so törichte Fragen stellen und meine Rechenaufgaben machen.”
Der arcaval’ay antwortete nicht, aber Advon war überzeugt davon, dass er unter seinem Helm grinste.
„Eines Tages werde ich das herausfinden”, beschloss Advon.
„Das versuchen die forscoray schon seit Ewigkeiten.”
„Ich gucke nach.”
„Du kommst auch nicht näher heran als die mutigen Abenteurer, Advon Irísolor. Drei Tagesritte südwärts ist die Luft so heiß, dass sie sich nicht mehr atmen lässt, und der Sand wird darunter zu Glas.”
„Man könnte einen Tunnel graben”, sinnierte das Kind. „Wie ein Maulwurf, unter der Hitze durch.”
„Nun lass doch die Wüste sein. Wolltest du nicht die Stadt anschauen?”
Advon setzte sich wieder auf und blickte nach vorn. Sie näherten sich den weißen Stadtmauern von Aurópéa in der Ebene westlich des Cielástel. Der Weg von der Burg dorthin war nicht allzu weit; ein Reiter konnte die Distanz im Schritt zwischen zwei Gongschlägen bewältigen. Hier, vom Erdboden aus, wirkte die große Stadt allerdings ganz anders als vom Turm aus betrachtet. Sie hielten auf einen mächtigen Mauerring zu, dessen Zinnen nochmals mit verschnörkeltem Zierrat aus Gold gekrönt waren. Innerhalb der Mauern erhob sich mittig der Hügel, auf dem die bunten Villen der vornehmen Stadtbewohner in den Gärten standen. Die Kuppe mit dem kreisrunden Palast des konsej in der Mitte war ebenfalls mit filigranen, goldenen Aufbauten geschmückt. Advon kniff die Augen zusammen und ließ seinen Blick verschwimmen. Nun sah Aurópéa aus wie eine flache Zuckertorte mit einem erhabenen Mittelteil.
Auf der Straße, die sie bisher benutzt hatten, war wenig los gewesen, da Unkundige keinen Grund hatten, zum Cielástel zu gehen. Nur ein paar Reisende waren ihnen begegnet, die Ziele weiter östlich am Rand von Soldesér ansteuerten. Doch je näher sie der Stadt kamen, desto belebter wurde die Gegend. Ein geschäftiges Treiben von Leuten zu Fuß, mit Kutschen, Karren und Lasttieren bewegte sich um die Mauern herum. Advon schätzte, dass ein Großteil der Stadtbewohner hier auf den sandigen Wiesen und zwischen den knorrigen Bäumen unterwegs war. Ein Teil der Leute, das konnte Advon beobachten, als sie sich nordwärts in den Strom der Menschen einreihten, löste sich aus dem Reigen um die Stadt und zog auf der breiten Straße weiter in Richtung des Montazíel. Aus der Gegenrichtung stießen dafür andere wieder dazu, sodass die Menge insgesamt konstant blieb.
„Was machen die hier alle?”, fragte Advon und staunte mit großen Augen über all die vielen Unkundigen, ihre Tiere und das Zeug, das sie mit sich schleppten, über das laute Rufen und Lärmen ringsum, die Geräusche und Gerüche, die auf ihn einströmten. Hier und da hatten Unkundige ihre Karren zu Verkaufsbuden umgebaut und hielten Erfrischungen und kleine Speisen feil.
„Die meisten nehmen wahrscheinlich einfach den Weg um die Stadt herum. Je nachdem, wohin sie wollen, sind sie damit sicher schneller als auf direkter Strecke durch die engen Gassen.”
Advon genoss den Ausflug. Die Unkundigen, die ihrer ansichtig wurden, schienen über die Anwesenheit des Regenbogenritters auf seinem zitronengelben Einhorn zwar überrascht, aber wenig daran interessiert zu sein. Niemand sprach sie an oder verstellte ihnen den Weg.
Von vielen Kindern, die unter den um die Mauern wandernden Leuten gingen, fing Advon hingegen so manchen staunenden und auch einige begehrliche Blicke auf. Sicher beneideten sie ihn, der er auf dem jungen Einhornhengst mit dem auffällig schimmerndern Fell und Gefieder saß.
Für Farbenspiel war dieser Ausritt eine gute Übung, befand Advon. Das Tier bewegte sich selten in der Nähe von größeren Menschenmengen. Dazu gab es genaugenommen auch keinen Anlass, aber es konnte nicht schaden, wenn der halbstarke Hengst lernte, dass von den geschäftigen und lauten Menschen keine Gefahr ausging. Nicht auszudenken, wenn ein Einhorn scheute und Leute niedertrat.
Aber Farbenspiel war alles andere als nervös. Zwar blieb er hin und wieder stehen und ließ sich erst fortbewegen, als der Gelbe energisch an seinen Zügeln ruckte. Aber Advon wusste, dass sein Reittier keineswegs ängstlich oder störrisch war. Die Ohren mit den zarten Fellspitzen bewegten sich angeregt und der Junge hörte Farbenspiel leise grollen und schnaufen. Immer, wenn er stehen blieb, reckte sich der schillernde Hals einem verlockenden Geruch entgegen.
„Ich glaube, Farbenspiel hat Hunger”, sagte Advon.
„Unmöglich. Er war den ganzen Vormittag auf einer fetten Weide. Der muss so satt sein, dass kein Hälmchen mehr hinein passt.”
„Ja, aber da hinten riecht es nach frischem warmen Honigkuchen. Deshalb ist er so bockig.”
Der Gelbe wendete, um Advon besser ansehen zu können. „Honigkuchen?”
„Na ja, er mag Gebäck.”
„Das tut er nur, weil jemand ihm verbotenerweise auf den Geschmack gebracht hat, denke ich”, tadelte der Ritter.
„Darf ihm denn jemand die Freude machen und ein Stück Kuchen kaufen?”
„Hast du Geld bei dir?”
„Ja, natürlich. Mama sagt, ich soll immer ein paar Münzen mitnehmen. Sie meint, man weiß nie, wofür es gut sein kann.”
Der arcaval’ay seufzte. Dann stieg er ab, hob Advon von Farbenspiels Rücken und griff beide Einhörner am Zügel. „Dann lauf. Ich warte hier auf dich.”
„Ganz allein?”
„Natürlich. Jemand muss die Tiere festhalten. Aber keine Sorge, ich behalte dich im Auge. Ich will nicht, dass du mir verloren gehst. Vielleicht ist es gar nicht so verkehrt, wenn du dich im Umgang mit Unkundigen übst.”
Diese Bemerkung, obwohl mit Sicherheit nicht böse gemeint, versetzte Advon einen kleinen Stich. Nun, der Gelbe hatte Recht. Er würde einmal mehr mit den Unkundigen zu tun haben als mit den Magiern. Vielleicht würde er nicht dazu taugen, die Stadt und die Unkundigen gegen Gefahr aus dem Chaos zu verteidigen. Möglicherweise würde er ein ganz anderes Handwerk erlernen müssen. Vielleicht konnte er Bäcker werden, dachte Advon, als er sich zu Fuß in die Menschenmenge wagte und seiner Nase folgte, immer dem Kuchengeruch nach.
Dessen Quelle war schnell gefunden. Eine ältere, dralle Frau mit einer adretten weißen Schürze stand neben einem Karren gerade neben einem der Stadttore und verkaufte geschnittenen Kuchen, den sie auf zurechtgeschnittenen Feigenblättern ihren Kunden aushändigte. Offenbar war ihre Ware von ausgezeichneter Qualität, denn es hatte sich eine Schlange vor ihrem Verkaufsstand gebildet. Das lag einerseits daran, dass wohl viele Leute von ihrem Honigkuchen kaufen wollten, aber auch daran, dass die Frau mit jedem ein munteres Schwätzchen führte, während sie Portionen zurechtschnitt. Advon hatte es nicht eilig und stellte sich an.
Während er wartete und dabei neugierig das Treiben ringsum anschaute, schnappte er Fetzen des Gesprächs auf, das zwei Frauen führten, die vor ihm warteten. Die eine hatte ein Wiegenkind in einem Tragtuch auf dem Rücken bei sich, das sich zu langweilen schien. Es glotzte mit unbewegter Miene zu Advon herab. Der Junge erwiderte den Blick einen Moment. Eigentlich war es schade, dass er keine Geschwister hatte, dachte er. Ob es wohl schön war, mit anderen Kindern zusammen zu sein und spielen zu können?
Er zog eine lustige Grimasse, um das kleine Kind aufzuheitern. Doch das Kleine war nicht amüsiert. Es wandte sich ab.
„… einfach verschwunden, ganz ohne Grund”, erzählte in diesem Moment die Gesprächspartnerin der Mutter. Ein junges Mädchen war es, in einer schlichten Gewandung, die allerdings aus erlesenem Stoff gefertigt war. „Oh, der arme sinor war so aufgebracht und traurig deswegen. Die Figuren waren ihm fast das Liebste von all seinen Reichtümern.”
„Kaum zu fassen”, entgegnete die Frau mit dem Kindlein. „Da besitzt er gefühlt die Hälfte der Ländereien vor der Stadt, und dann trauert er einem alten Brettspiel nach.”
„Nun ja”, tratschte die andere, „es war tatsächlich ein sehr kostbares Brettspiel. Aber ich glaube, da hängen ganz andere Werte dran.” Sie neigte sich vor und flüsterte: „Ich hab gehört, er hat es von einer bekommen, die fast seine hýardora geworden wäre, vor ewigen Zeiten!”
„Ach nein! Der alte Saháalír und eine Frau? Nicht zu fassen!”
„Eben! Und darum ist es so schlimm. Dieser báchorkor muss ein ganz verkommener Lump sein! Hat sich den Abend aushalten lassen, dann lange Finger gemacht und ist klammheimlich verschwunden. Komisch nur, dass ihn niemand gesehen hat …”
„Ganz sicher, dass es dieser báchorkor war?”
„Kein Zweifel. Saháalír hat das ganze Haus umkrempeln lassen, und von uns anderen war niemand abwesend. Es muss so sein!”
„Mögen die Mächte geben, dass man den Schurken dingfest macht!”, grollte die Mutter. „Úldaise sei gedankt für seine Gerechtigkeit. Der Kerl wird sich wundern, wenn er sich in der Wüste wiederfindet …”
„Was ist denn in der Wüste?”, fragte Advon, bevor er sich besinnen konnte.
Nun wurden die Frauen auf ihn aufmerksam. Die Mutter schien ein unwirsches Wort auf den Lippen zu haben, aber sein Anblick ließ sie stutzen.
„Wer bist du denn?”, fragte die andere und neigte sich zu ihm hinab. „Was machst du hier außerhalb der Oberstadt, Kind?”
Oberstadt? Warum sollte er in der Oberstadt sein?
„Kuchen kaufen”, antwortete er bedacht. Wenn es hier die Gelegenheit gab, mehr über die Wüste zu erfahren, durfte er die beiden nun nicht mit einer unvorsichtigen Rede verschrecken.
„Ganz allein? Wo sind denn deine Diener?”
Diener? Advon stutzte, dann begriff er. Offenbar war seine goldbestickte Alltagsgewandung aus schneeweißem Leinen, mit kunstreich gefertigten Borten und bunt glitzernden Glassteinchen verziert, so vornehm, dass sie ihn mindestens für einen yarlandor hielten.
„Irgendwo da hinten”, behauptete er dann, mehr oder weniger wahrheitsgemäß. „Die kommen gleich nach.”
„Ich hab dich noch nie gesehen”, sagte das Mädchen misstrauisch. „Und ich arbeite in der Villa des ehrwürdigen sinor Saháalír. Ich kenne die ganze Oberstadt. Zu welcher Familie gehörst du?”
„Wir sind nicht von hier. Und wir … wir bleiben auch nicht lange. Ich will nur ein Stück Kuchen für … als Wegzehrung.”
„Sollte das nicht dein Diener für dich erledigen?” Die Mutter schien nicht ganz überzeugt von dieser Geschichte.
„Der … ach, der würde eine ganz falsche Sorte mitbringen. Da mach ich das lieber allein!”
„Sollen wir dich nicht besser zu deinen Leuten zurückbringen?”, fragte das Mädchen. „Es ist gefährlich hier!”
„Nicht nötig. Sie stehen ja gleich dort drüben.”
„Wo?”
Advon schaute sich nervös um. Ganz in der Nähe lungerten zwei große, muskulöse Männer in schlichten Dienergewändern herum. Sie schienen auf etwas zu warten, blickten suchend über die Menge hinweg. „Da hinten”, sagte er und deutete so flüchtig unbestimmt in diese Richtung, dass er damit so ziemlich jeden hätte meinen können.
Im selben Moment jedoch war das Mädchen, die Magd des sinor an der Reihe. Abgelenkt wandte sie sich der Bäckerin zu und begann, von einem Notizzettel ihre Wünsche abzulesen. Die Mutter jedoch folgte seinem Fingerzeig. Ihr Blick verfinsterte sich kurz.
„Dann seid Ihr hier in Aurópéa Gäste von sinor Úldaise?”
Den Namen hatte er doch gerade schon einmal gehört? Advon zuckte unverbindlich die Schultern. „Keine Ahnung”, sagte er. „Ich bin nur mit meinem … meinem mestar auf der Durchreise.”
Die Mutter mit dem Kind schien sich damit nicht zufrieden zu geben. Advon wurde bewusst, dass er sich mit seiner Neugier in eine heikle Situation gebracht hatte. Es hatte gar keinen Grund gegeben, nicht die Wahrheit zu sagen und sich zu erkennen zu geben. Wie war er nur in dieses Missverständnis hineingeraten?
Die Magd hatte ihren Korb mit Kuchen und Keksen gefüllt und trat einen Schritt zurück, um der Mutter Platz zu machen. Die kaufte lediglich ein kleines Stück ein und war entsprechend schnell fertig. Unglücklicherweise machten beide jedoch keine Anstalten, sich mit ihren Einkäufen zu entfernen.
„Und was möchtest du?”, erkundigte sich die freundliche Bäckerin.
„Hast du Honigkekse?”, fragte Advon. „Ich hätte gerne einen … nein, zwei.”
Die Bäckerin legte ihm lächelnd das gewünschte auf ein Feigenblatt. Advon dankte und reichte ihr eine seiner Münzen hinüber.
„Aber Junge! Das ist viel zu viel! Das kann ich nicht wechseln!”
Advon schaute verwirrt auf die Kekse in seiner Hand. „Das war die geringste Münze, die ich bei mir habe”, entschuldigte er sich.
„Jetzt hör dir das an”, lachte die Mutter. Sogar das Wiegenkind gluckste. „Da schicken sie schon kleine Kinder mit Goldmünzen los.”
„Dann behalte doch einfach den Rest”, schlug Advon vor.
„Kommt nicht infrage, Kleiner”, sagte die Bäckerin gutmütig. „Ich würde doch kein Kind begaunern.”
„Dann … dann gib mir einfach so viel, wie ich für die Münze bekomme.” Irgendwo, so dachte Advon, würde er den Rest des Gebäcks schon loswerden.
„Wenn das die geringste Münze war, „ließ sich der Mann vernehmen, der hinter Advon in der Schlange anstand”, dann wüsste ich gern, was der Kleine sonst noch in seinen Taschen hat!”
„Still!”, zischte die Mutter. „Seine Leute sind Gäste von Úldaise!”
Der Mann erbleichte und zog sich einen Schritt zurück. Beschwichtigend hob er beide Hände. Ein nervöses Grinsen versteinerte sein errötendes Gesicht.
„Gäste von Úldaise?”
„Ja. Er sagt, er sei mit dessen Knechten unterwegs.” Die Mutter deutete zu den beiden Muskelmännern hinüber, die immer noch gelangweilt ihre Blicke über die Menge schweifen ließen.
„Úldaise hat Gäste? Davon weiß ich ja gar nichts!”, empörte sich die Magd, die wohl sonst über alles Wichtige in Aurópéa informiert war.
„Wir bleiben nicht über Nacht”, sagte Advon, dem die Situation immer unangenehmer wurde. Einerseits wünschte er sich, der Gelbe würde kommen und ihn aus seiner misslichen Lage erlösen. Aber möglicherweise würde das dann noch mehr Aufsehen erregen.
„Wie geht es denn nun weiter mit deinem Einkauf, junger Herr? Deine Münze ist weit mehr wert als meine gesamte verbliebene Ware.”
Die Bäckerin wartete auf eine Antwort. Advon schaute sich nervös um. Der Gelbe war nicht zu sehen.
„Gib mir alles, was hineinpasst, in einen Korb”, entschied er. „Den Rest von der Ware gibst du … ja, allen, die jetzt hier im Moment stehen, jedem das, was er ohnehin haben wollte. Und wenn dann noch was übrig bleibt … schenkst du jedem Kind, das hier, vorbeikommt etwas. Und was dann immer noch an Geld übersteht … das ist für dich, wenn du es so machst, wie ich es sage. Ja?”
„Das ist … großzügig”, sagte die Bäckerin verblüfft.
„Ihr seid wohl aus Forétern, stimmt’s?”, fragte der Mann, der gerade noch unverhohlen Interesse an Advons Geldbeutel gezeigt hatte. “Wo die Reichsten der Reichen wohnen?”
„Das darf niemand weitersagen”, sagte Advon so verschwörerisch und unbestimmt, wie es nur möglich war. Es schien gut zu gehen. Alle Umstehenden nickten dem Kind eifrig zu.
Kurz darauf hatte Advon einen Henkelkorb, randvoll mit Kuchen und Keksen in der Hand, Mengen, die er nie im Leben so schnell verzehren konnte, selbst wenn Farbenspiel ihm dabei half. Aber seine Vorstellung war noch nicht zu Ende. Nun musste er den Leuten noch glaubhaft machen, dass die beiden Kraftmenschen zu ihm gehörten, die da immer noch in der Menge warteten, als habe man sie versetzt. Forschen Schrittes ging er hin.
„Hallo”, sagte der Junge und setzte seinen Korb vor ihnen ab. „Könnt ihr mir wohl einen Gefallen tun?”
Die zwei hatten nicht bemerkt, wie er zielstrebig auf sie zugesteuert war und schauten verblüfft zu ihm hinab. Dass ein Kind sie ansprach, kam wohl nicht allzu oft vor.
„Was willst’e, Kleiner?”, fragte der eine. „Wir haben keine Zeit.”
„Aber ihr steht doch nur hier herum.”
„Wir warten auf unseren Herrn.”
„Den sinor Úldaise?”
Nun hatte er die Aufmerksamkeit der beiden.
„Du kennst Úldaise?”, fragte der eine erstaunt.
„Nein, ich hab nur von ihm gehört. Schaut mal, ich hab hier einen Korb voller Kuchen. Der ist für euch, wenn ihr mir einen Gefallen tut. Es ist gar kein Aufwand.”
„Kuchen?” Schon bei diesem kurzen Wort hörte man, dass dem ersten das Wasser im Mund zusammenlief.
„Was sollen wir machen, Kleiner?”, erkundigte der andere sich etwas redegewandter. Advon winkte den beiden, sich zu ihm hinab zu beugen, damit er flüstern konnte.
„Es könnte sein, dass euch jemand wegen mir anspricht”, flüsterte er. „Wenn das geschieht, sagt einfach, der kleine Junge aus Forétern und sein mestar wären schon wieder weitergezogen und nur ganz kurz in Aurópéa zu Besuch gewesen. Mehr darüber wisst ihr nicht.”
„Was für’n kleiner Junge aus Forétern?”
„Einer, der ungefähr so aussieht wie ich und euch Kuchen gebracht hat. Mehr müsst ihr nicht wissen. Je mehr ihr sagt, desto komplizierter wird es.”
Der andere grinste. „Hast wohl was ausgefressen, was?”
„Ja, das fürchte ich auch.” Advon öffnete den Korb und nahm sich vier Honigkekse heraus. Die beiden machten die Hälse lang, um die Köstlichkeiten sehen zu können. „Die hier muss ich behalten. Der Rest ist für Euch. Und denkt dran: Ich bin mit meinem mestar unterwegs.”
„Kannst dich auf uns verlassen, junger Herr.”
Advon verneigte sich erfreut und wollte sich mit seinen Keksen entfernen.
„Hier steckt ihr!”, rief eine herrische Stimme. „Südtor, hatte ich gesagt! Wisst ihr Schwachköpfe nicht, wo Süden ist?”
Die beiden Muskelmänner zuckten ertappt zusammen. Ein alter Mann mit hämatitgrauen, vornehmen Gewändern lenkte sein Pferd, einen feingliedrigen Grauschimmel, zu ihnen. Der Sattel sah aus wie eine Mischung aus einem Lehnstuhl und einem dicken Kissen. Aber der Reiter war erstaunlich behände, ungeachtet seines Alters. Advon hatte nie zuvor ein derart verrunzeltes Menschengesicht gesehen.
Links und rechts von dem Alten gingen Passanten auf respektvollen Abstand und verneigten sich tief, schienen es aber ansonsten sehr eilig zu haben, nicht an der Stelle stehen zu bleiben.
„Da, nimm das!”, fauchte der Greis und warf dem etwas gesprächigeren der beiden Männer einen Beutel zu. „Wir haben zu …”
Er unterbrach sich. Der alte Mann hatte Advon mit den Keksen in der Hand entdeckt und schaute mit einer Verblüffung auf ihn hinab, die der Junge sich nicht erklären konnte.
Advon verneigte sich höflich. Offensichtlich war das hier sinor Úldaise, der, den die Leute für seine Strenge priesen und bei denen zugleich schon die Erwähnung seines Namens für Unbehagen zu sorgen schien. Als er wieder aufblickte, hatte Úldaise sein Pferd gewendet und ritt damit fort, nach Süden, weg von den Stadtmauern, in Richtung der Hügel. Er hatte es eilig, kaum, dass seine Knechte ihm folgen konnten. Der, der den Korb trug, fand dennoch den Mut, sich heimlich einen Keks herauszunehmen und eilig in den Mund zu stopfen.
Der Junge schaute dem seltsamen Trio nach. Dann tauchte er wieder in der Menge unter und beeilte sich, zu dem Gelben und den Reittieren zurückzukehren.
Als er sich den Einhörnern näherte, fand er den Regenbogenritter im Gespräch mit mehreren Bewaffneten. Stadtwächter waren es, ganz offensichtlich, in ihren weiß-goldenen Dienstgewändern. Der Anführer des fünfköpfigen Trupps schien ungehalten zu sein. Die Miene des Ritters war unter seinem Helm verborgen, aber seine Haltung zeugte von kühler Verachtung.
„Fünfundsiebzig?”, fragte er gerade, als habe er nicht richtig gehört. „In nur drei Monden? Und alle wegen Mordes?”
„Ein paar Raubtaten waren dabei. Und ein ganz gerissener Betrüger.”
„Mir scheint, die Stadt läuft Euch etwas aus dem Ruder.”
„Wir kommen zurecht”, sagte der Wachanführer. „Und Euch geht es nichts an. Eigentlich hätte ich Euch Eure Frage gar nicht beantworten müssen.”
„Ich danke Euch, dass ihr es dennoch getan habt. Die Großmeisterin ist … besorgt.”
„Ihr habt Euch nicht in die Geschäfte Aurópéas einzumischen.”
„Wir mischen uns nicht ein. Aber ihr treibt es so, dass wir nicht umhin kommen, es zu bemerken und darüber nachzudenken. Ihr … da kommt er.”
Advon hatte sich zögerlich genähert und blickte fragend von einem zum nächsten. Die Stadtwächter schauten ihn an. Bemerkenswert war, wie sie alle es fertig brachten, einen harmlosen Ausdruck auf ihre Gesichter zu zwingen.
„Stimmt etwas nicht?”, erkundigte er sich.
„Es ist alles in Ordnung, Advon. Steig auf. Wir reiten weiter.”
„Komm, Farbenspiel. Lass mich rauf.” Advon reichte dem Einhorn einen der Kekse und hielt den anderen dem Reittier des Ritters hin, der so abgelenkt von den Menschen war, dass er es nicht verbot.
Farbenspiel wusste, was von ihm erwartet wurde. Er legte sich nieder, damit Advon aufsitzen konnte und wuchtete sich wieder empor, kaum, dass der Junge saß. Ohne ein weiteres Wort oder einen Gruß trabte der Regenbogenritter davon und ließ die Stadtwachen stehen. Farbenspiel folgte ihm am Zügel und kaute glücklich.
„Was war da los?”, wollte Advon wissen, einerseits froh darüber, dass der Ritter keine Fragen über seinen Einkaufsausflug stellte.
„Nichts weiter.”
„Du hast dich nach den Leuten erkundigt, die sie in die Wüste schicken, nicht wahr?”
„Die Gelegenheit ergab sich. Sie fragten mich, was ich vor Aurópéa zu suchen hatte. Ich fragte sie, was sie hier treiben.”
„Und?”
„Darüber, Advon Irísolor, möchte ich zuerst mit deinem Vater sprechen. Es wird Zeit, dass er heimkehrt.”
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