
Ich ließ mich auf dem Thron des Großmeisters nieder und kam mir umgehend unglaublich dumm vor. Gerade eben war ich noch voller Euphorie gewesen, hatte die Hoffnung gehabt, dass meine Kräfte sich regenerieren würden, wenn ich ihnen nur ein klein wenig Zeit dazu gab. Vielleicht hatte ich im Stillen erwartet, ein klein wenig mehr zu spüren, wenn ich mit diesem guten Vorsatz Noktámas Halle betrat. Aber da war nichts. Noch nicht einmal die mystische, sanft-dunkle Atmosphäre, die den Saal zwischen Sonnenuntergang und Morgendämmerung erfüllte, war zu spüren. Natürlich nicht. Draußen war es zwischenzeitlich helllichter Tag. Noktáma hatte ihre Wacht über das Weltenspiel an Pataghíu weitergegeben, und der Etaímalon beherbergte für die nächste Zeit nichts anderes als einen riesigen, abgesehen von dem Thron auf der Estrade völlig leeren Kuppelsaal. Durch die Fensteröffnung über meinem Kopf, die einen asymmetrisch gezackten Stern bildete und durch die stets nur das Licht von Sonne und Mond, aber auf wundersame Weise nie Regen oder Schnee fiel, drang unschuldiges Vogelgezwitscher zu mir hinab.
Sogar die Weihestätte fühlte sich tagsüber erschreckend unmagisch an.
Ich legte die Spule mit den Geigensaiten auf der Armlehne des steinernen Sessels ab und versuchte verstohlen, wenigstens ein kleines Licht zu wirken, natürlich ohne Erfolg. Kurz dachte ich darüber nach, was wohl sein würde, wenn Noktáma es mir nie wieder erlaubte. Das geschähe mir recht, nachdem ich aus Bequemlichkeit vom Schutzzauber abgelassen und damit den Boscargén zugänglich für Eindringlinge gemacht hatte.
Doch das wäre mir egal. Den größten Teil meines Lebens hatte ich nicht zaubern können und sicher würde ich es verschmerzen, wenn die Magie nicht zurückkehrte. Aber nun, nun benötigte ich sie, nur noch ein einziges Mal. Ich musste irgendwie Kontakt zu Yalomiro aufnehmen, ihn herbeirufen, ihm zu verstehen geben, dass ich in Not war. Dass Dýamirée Hilfe brauchte. Dass ich versagt hatte und sie nicht hatte beschützen können. Ich konnte nicht darauf warten, dass er von sich aus nach meinen Träumen suchte, denn das würde er sicherlich zu dieser Stunde nicht tun. Er hatte keine Veranlassung dazu, solange er annahm, dass ich mit Dýamirée im Wald unterwegs war, den kleinen Garten pflegte oder sie sich von mir Märchen erzählen ließ und alles in bester Ordnung war. Sicher, er würde bald bemerken, dass er mich nicht erreichte und sich ganz bestimmt Sorgen machen. Aber das ging nicht schnell genug.
Ich rief mir in Erinnerung, was Yalomiro mich so geduldig gelehrt hatte, wie er immer wieder versucht hatte, mich anzuleiten, die Magie zu verwenden. Ganz zu Anfang war das gewesen, als ich begriffen hatte, dass ich mich nicht in einem wirren Traum befand und niemand mich mehr von seiner Seite wegreißen würde. Damals, als ich die Welt gefunden hatte, in der ich sicher war.
Nun ja … sicher, solange Yalomiro bei mir war und ich mich sorglos und ganz selbstverständlich darauf verlassen konnte, dass er alle Probleme lösen würde, die uns begegnen konnten.
Wie bequem. Wie selbstsüchtig und träge!
Ich seufzte und schämte mich. Er hatte sich so viel Mühe gewesen und immer wieder ermuntert, mit der Magie zu spielen, mich auszuprobieren, neugierig und kreativ zu sein. Ich aber hatte mich geziert.
Ich werde mir all die Lieder nie merken können, hatte ich behauptet.
Du brauchst keine Lieder, hatte er beteuert. Nicht für die kleinen Dinge, nicht für dich selbst.
Was brauche ich dann?, hatte ich gefragt.
Intuition, hatte er gesagt. Phantasie. Vertrauen.
Ich dachte nach und ließ meinen Blick über den Boden der Halle gleiten. Je genauer ich hinschaute, desto deutlicher waren die Schriftzeichen und Symbole zu sehen, die viele, viele Generationen von Schattensängern in die schwarzen Steinfliesen hineingewirkt hatten. Ein paar davon konnte ich zwar lesen, aber der größte Teil davon erschloss sich mir immer noch nicht. Ich hatte diese Zeichen eine ganze Weile für dekorative Bilder gehalten, bis Yalomiro mir erklärt hatte, dass es sich um etwas Ähnliches wie Noten, wie komplette Partituren handelte. Die Zeichen beschrieben keine Zahlen oder Buchstaben, sondern Töne, die unabhängig von Notenlinien bestanden und eindeutig waren. Im Nachhinein erschien mir das einleuchtend. Camat’ay wirkten aufwändigere Zauber mit ihrem Gesang. Wichtige Magie, große Zauber hatten sie symbolisch hier im Saal verewigt. Ich hatte das damals sehr interessant gefunden, dem aber keine Bedeutung beigemessen, so fremd und abstrakt war es mir erschienen. Nun war das anders.
Ich griff nach den Saiten. Klänge. Musik. Magie.
Yalomiro hatte seine Geige bei sich, das magische Werkzeug, mit dem er verblüffende Zauber wirken konnte. Aber das war nur ein unwesentlicher Teil dessen, was das Instrument vermochte und bedeutete. Wir waren miteinander über die Geige in einer ganz besonderen Weise verbunden. Eine lange und komplizierte Geschichte steckte hinter der Magie des Instruments, das er nie vergaß, wenn er den Etaímalon verließ.
Ich suchte den Anfang und wickelte ganz vorsichtig einen Strang von der Spule ab. Tatsächlich waren es fünf separate Saiten, ein kompletter Satz. Ich konnte beim besten Willen nicht sagen, woraus Yalomiro sie angefertigt hatte, aber mit Sicherheit waren sie nicht dazu bestimmt, auf eine gewöhnliche Geige aufgezogen zu werden. Warum hatte er sie also so offensichtlich bei seinen Sachen liegengelassen? Besaß er noch mehr davon oder hatte er in seiner Eile und Unordnung vergessen, sie einzustecken?
Ich ließ eine der Saiten sacht durch meine Finger gleiten. Intuition … das sagte sich so leicht.
Ich war mein Leben lang vollkommen unmusikalisch gewesen und hatte nie gelernt, ein Instrument zu spielen, nicht einmal etwas Simples wie ein Weihnachtslied auf der Blockflöte. Natürlich, ich liebte und genoss Musik, aber selbst welche erschaffen konnte ich nicht. Und das brachte mich nun auch nicht weiter. Ich konnte mit Yalomiros magischen Geigensaiten überhaupt nichts anfangen, zumal ich kein Instrument zur Hand hatte. Und selbst dann hätte ich nicht gewusst, wie man Saiten richtig aufzog. Ich hatte Yalomiro gelegentlich dabei zugeschaut, wenn er seine Geige bespannte und stimmte, aber ich hatte nie richtig begriffen, wie er es machte. Vielleicht waren die Saiten doch nicht hilfreich, um Yalomiro zu alarmieren. Vielleicht …
Ich blickte auf. Da war eine Idee, ein Einfall. Eine Erkenntnis. Eine Intuition!
Ein Feuermelder braucht keine Melodie, dachte ich. Eine Alarmsirene muss laut sein, mehr nicht.
War das mein eigener Gedanke gewesen? Wahrscheinlich. Es war ja niemand hier, der zu mir sprach. Noktáma war am hellen Tag nicht in ihrer Weihestätte.
Ich spielte nachdenklich mit der Geigensaite in meiner Hand. Die Idee war da. Aber was sollte ich damit anfangen?
Sei kreativ, erinnerte ich mich an Yalomiros Ratschläge. Denk nicht nach. Mach, was dir einfällt. Lass dich treiben. Entdecke es!
Ich ließ die Saite zwischen meinen Fingern gleiten. Dann wickelte ich ihre Enden um meinen Daumen und Zeigefinger, versuchte, etwas Spannung auf das kleine Stück Strang zu bringen. Und dann riss ich das kurze stramme Stück Saite dazwischen mit der anderen Hand an.
Ein Geräusch gab es, ein jämmerliches kleines Ploppen. Es war sehr leise, aber der Saal, der Schall unter der Kuppel nahm es auf und verstärkte es. Allerdings verhallte der Klang, ohne dass etwas geschah.
Hörst du mich?, dachte ich in die Weite des Etaímalon. Hörst du, dass ich deinen Zauber berühre?
Nun, wahrscheinlich hörte er es nicht. Noch nicht. Es war zu leise, zu weit weg.
Aber ein matter Silberschimmer blitzte auf der Saite auf, nicht deutlicher als ein Glühwürmchen im Nebel. Winzig. Sacht.
Ein Hoffnungsschimmer. Alles, was mir fehlte, war die Nacht.
***
Siledaú hatte es eilig. So geschwind ihre alten Beine sie trugen – und das war bemerkenswert schnell für eine Greisin – hastete sie auf den Cielástel zu. Das Zugangstor ins Innere der Mauern erreichte man, indem man einen Hang mit mäßiger Steigung erklomm, der wenige Mannslängen vor den kristallenen Mauern in eine steile Tiefe abstürzte. Angreifern zu Fuß und Pferd war es so unmöglich, die Burg zu erstürmen, aber eine breite Zugbrücke mit goldenen Beschlägen und an goldenen Ketten stand immer offen. Die Regenbogenritter hatten den Einwohnern von Aurópéa einst zugesichert, dass sie niemals unaufgefordert die Stadt betreten würden. Umgekehrt legten sie Wert darauf, dass gutwillige Unkundige jederzeit Zugang zum Cielástel hatten. Sollte jemand in Not sein, sollte er nicht vor verschlossenen Türen stehen.
Und so kam es, dass Siledaú und die wenigen Menschen, die ihre Geschäfte herführten, die einzigen waren, die diesen Weg regelmäßig gingen.
Siledaú keuchte den Hang hinauf und über die Brücke durch das eindeutig zu einladend geöffnete Tor hindurch.
Der blaue Regenbogenritter, dem es zu dieser Zeit oblag, den Eingang zu bewachen, blickte fragend auf. Er hatte ein Brett auf den Knien und verzierte es gerade mit einem aufwendigen Ornament. Werkzeug oder Farbe benötigte er nicht dazu. Unter seinen Fingern brannte sich magisches Feuer fein in das glatte Holz. Alle arcaval’ay geboten dem Feuer.
„Wo kommst du her?”, fragte er, als die Alte grußlos an ihm vorbei hastete.
„Aus der Stadt. Ich habe mich verspätet”, antwortete sie unwirsch. „Halt du mich nicht auch noch auf.”
„Kein Grund zur Eile. Advon ist mit dem Gelben auf einem Ausritt. Die Meisterin hat wohl nicht mehr damit gerechnet, dass du heute überhaupt noch auftauchst.”
„Advon? Ach ja.” Siledaú schüttelte ärgerlich den Kopf. „Und wo ist die Meisterin?”
„Wo wird sie um diese Zeit wohl sein? In Pataghíus Saal sitzt sie und wirkt den Schutz.” Der arcaval’ay stellte sein Kunstwerk beiseite und erhob sich. „Du bist ja ganz durcheinander: Kann ich dir irgendwie helfen?”
„Natürlich bin ich durcheinander! Erst wirft man mich regelrecht hier heraus …”
„Na! Nicht dich. Das verfluchte Zeug sollte weg. Wir haben uns gefragt, wie du all den Kram überhaupt an uns vorbei hierher gebracht hast.”
„Wie die Ameisen es tun. Stück für Stück und über die Sommer”, schnaufte sie abfällig. „Hast du eine Ahnung, wie schwer es ist, solche Dinge unten in der Stadt zu lagern, ohne dass sie prompt wieder gestohlen werden?”
Er erlaubte sich ein Lächeln, das sie zur Weißglut trieb. Schwer zu ertragen war es, wenn die arcaval’ay so selbstzufrieden dreinschauten, mit diesem wissenden, entrückten Lächeln in ihren sonderbaren Gesichtern ohne Alter und Geschlecht. Nur die fajía übertraf ihre Krieger darin noch. Siledaú musste sich wieder einmal eingestehen, dass es tatsächlich Cýelú Irísolor war, dem sie längere Zeit ins Gesicht blicken konnte, ohne dabei von Unruhe gepackt zu werden. Der Anführer der Regenbogenritter war der Harmloseste von allen.
„Vielleicht hättest du den Meister und die Meisterin einfach offen darauf ansprechen sollen. Sicher hätten sie einen sicheren Platz für deine absonderlichen Kostbarkeiten gefunden.”
„Elosál ist also im Heiligtum, ja? Und der … Junge treibt sich draußen herum?”
„Soll ich nachschauen gehen, ob die Meisterin zu sprechen ist?”
„Nicht nötig. Ich komme allein zurecht. Und nun, da ich hier bin, muss ich wohl auch nicht mehr rennen.”
„Wie du willst.” Er wartete noch einen Moment, ob sie es sich anders überlegte, und wandte sich dann wieder seinem Kunstwerk zu. Siledaú schlurfte auf den Hof und das Wohngebäude zu, nun so bedächtig, wie es dem Ort und ihrem Alter angemessen war.
Aber die Greisin passierte die Tür, die zu den Unterkünften der Regenbogenritter und den anderen Zimmern und Sälen führte. Dort wollte sie nichts. Das, weshalb sie den Weg zum Cielástel auf sich genommen hatte, befand sich ganz woanders.
Im Stall war es angenehm kühl und dämmrig, wie üblich. Zu beiden Seiten des Mittelgangs befanden sich die Verschläge, in denen die Einhörner üblicherweise untergebracht waren, eher große, goldene Tierkäfige denn Stallboxen für Rösser, denn Holz und Stein hätte ein Einhorn, das der Bewegungsdrang überkam, augenblicklich zertrümmert wie aufgespanntes Papier. Doch im Augenblick war keines der mächtigen Tiere hier untergebracht. Bei so anhaltend schönem Wetter tummelten die Einhörner sich auf der Weide bei den Gärten, wenn sie nicht gerade mit ihren Reitern sinnlos durch die Wüste jagten.
Im hinteren Bereich des Ganges stand ein leichter Leiterwagen, etwa zu einem Drittel mit Stroh beladen. Eine Heugabel steckte schief darin, und in einem der Käfigverschläge pfiff der alte unkundige Stalldiener unmelodisch vor sich hin und hantierte mit Schaufel und Besen. Offenbar bereitete er neue Einstreu vor, sodass die Tiere das nächste Mal, wenn sie aufgestallt wurden, gleich weich und bequem lagen. Futter hatte er wohl schon für den Abend verteilt. Bei der Tür lagen einige leere Hafersäcke auf einem Haufen. Die Alte griff zu. Genau das, was sie brauchte!
Siledaú schaute sich nach dem Torwächter um, aber der war wieder in seiner Kunst versunken. Der Strohwagen versperrte dem Stallmeister den Blick. Lautlos drückte die alte Frau sich um die Ecke und schlüpfte in die Sattelkammer.
Hier war der Geruch von Lederseife und Metall überwältigend. All das Gold an den Beschlägen, Steigbügeln und Schnallen glänzte tadellos, Sättel, Zäume und Geschirre waren blitzsauber. Der einfältige, wortkarge Mensch, der hier im Stall herrschte, hatte in den vergangenen Tagen die Muße gehabt, perfekte Arbeit zu verrichten, solange er sich nicht um die Tiere kümmern musste. Siledaú zählte die Sättel. Zwei fehlten, der des gelben Ritters und natürlich der, auf dem Cýelú Irísolor hoffentlich gerade saß und ihr brachte, wonach sie ihn ausgeschickt hatte. Für das Einhorn des Knaben gab es noch kein Sattelzeug. Das musste eigens angefertigt werden, und es war fraglich, ob sich das noch lohnen würde. Immerhin war es nicht gesagt, dass Advon Irísolor jemals mit den Regenbogenrittern ausreiten würde. Ach was … ausgeschlossen war es.
Die Alte schaute sich unter dem Lederzeug um. Neben dem, was zum Aufsatteln für jeweils ein Einhorn benötigt wurde, gab es natürlich für jedes Stück eine Menge Ersatzteile. Im Freien, im hellen Tageslicht, war es nicht zu erkennen. Aber natürlich wusste sie, dass es nicht allein der samtige Schimmer der Sauberkeit war, der das Reitzeug erstrahlen ließ. Leise und sorgfältig darauf bedacht, kein klimperndes Metall anzurühren, pflückte Siledaú von Wandhaken und Regalen, was sie benötigte. Geschickt wählte sie aus, was ihr nützlich erschien und nahm hier und dort etwas weg, so dass auf den flüchtigen Blick nicht sofort auffallen würde, dass etwas fehlte. Dass der Stalldiener das Zeug durchzählen würde, war unwahrscheinlich, schließlich hatte er das wohl eben erst getan. Und solange keiner der Ritter gerade jetzt irgendetwas an seinem Zaum reparieren wollte, wäre ihr die Zeit lang genug.
Eilig, aber ohne übertriebene Hast stopfte Siledaú alles in den Hafersack, was sie brauchen konnte, knüllte den Beutel dann auf ein handliches Format zusammen und lugte vorsichtig um die Ecke. Der Mensch pfiff immer noch misstönend vor sich hin und schob seinen Strohwagen ein Stück in Richtung Tür. Dann widmete er sich dem nächsten Einhornverschlag.
Siledaú wartete noch, bis sie ihn wieder mit der Heugabel klappern hörte. Dann klemmte sie sich ihre Beute unter den Arm und schlüpfte wieder auf den Hof hinaus. In ihrem Gemach konnte sie abwarten, ohne dass dieses lästige Kind sie störte.
***
Andriér Altabete wurde erst auf die beiden Mädchen aufmerksam, als sie schon eine ganze Weile am Fenster standen. Hätte die teiranda nicht ihre Krone getragen, einen schmalen Bronzereif, in den eine Menge hübsch funkelnde, aber unechte Glassteine eingepasst waren, hätte er sie vermutlich gar nicht bemerkt. So aber hatte er immer wieder einen irritierenden Lichtblitz im Augenwinkel wahrgenommen, seit die Sonne über die Mauerkrone gestiegen war.
„Strengt euch an”, ermahnte der Ritter Láas und Jándris, die nassgeschwitzt und außer Atem mit den ungewohnten Stangen übten. „Eure Herrin schaut zu.”
„Bitte, Vater”, keuchte Jándris. „Können wir nicht ein wenig zu Atem kommen?”
„Nimm dich zusammen!” Láas, der sich gerade noch selbst darüber beschwert hatte, dass sein Vater ihn ärger plagte als sein Kampflehrer, nahm all seine verbliebenen Kräfte zusammen. „Doch nicht gerade jetzt, wenn sie guckt!”
Aber er war nicht aufmerksam genug. Unvermittelt traf ihn eine Parade seines Vaters und beförderte das Holz aus seiner Hand und hinein ins hohe Gras.
„Aufpassen, Junge!”, tadelte der Ritter. Das Gesicht hinter seinem ergrauten Schnauzbart war rot vor Anstrengung, aber dennoch war Daap Grootplen ganz in seinem Element. „Nicht unachtsam werden!”
„Ja”, stimmte Altabete zu. „Wenn das hier eine Klinge hätte, dann wärest du jetzt am Ende.”
„Ich kann nicht mehr!”, begehrte Jándris auf und ließ demonstrativ seine Stange fallen. „Das ist umständlich.”
„Du bist es nur nicht gewohnt, Sohn!”, tadelte Altabete. „Es kann euch beiden nicht schaden, gelegentlich von Eurem höfischen Schwertgeplänkel abzulassen und euch in Abwechslung zu üben.”
„Wenn der Lümmel heute Nacht auch ein Schwert gehabt hätte”, wandte Láas ein, „dann …”
„Das mögen die Mächte verhüten”, sagte Grootplen. „Dann wäret ihr heute beide entzwei.”
Andriér Altabete runzelte die Stirn und stützte sich auf seiner Stange ab. „Je mehr ich darüber nachdenke – ein wenig unheimlich war das schon, bedenkt man, wie jung der Knabe noch ist. Und wenn Waýreth sagt, das er es ihm nicht beigebracht hat …”
„Was denkst du? Dass es mit übernatürlichen Dingen zu sich geht? Vielleicht mit Zauberei?”
Altabete zuckte die Achseln. Grootplen grinste und schlug spielerisch provozierend gegen den Stab seines Standesgefährten. „Der Knabe wird sich angeschaut haben, wie sich irgendwelche Knechte oder Bauernjungs gemessen haben und hat einfach sehr viel Talent. Ich wette, in Althopian und wahrscheinlich auch in Emberbey sind die Schutzbefohlenen auch recht gut dabei, anderen aufs Haupt zu schlagen. Immerhin könnte ja was von den Nachbarn rüberschwappen.”
„Was heißt das?”, fragte Jándris.
„Na ja.” Grootplen tat einen Ausfallschritt und schwang seine Stange, so langsam, als versuche er sich an einen bestimmten Bewegungsablauf zu erinnern. „Althopian sagt, ab und zu entwischen mal Leute über seine Grenzen.”
„Und die schlagen die Bauernjungs dann mit ihren Sensen und Dreschflegeln zurück?”, erkundigte sich Láas ungläubig.
„Die natürlich nicht. Aber möglicherweise kommen mal welche nach, die die Abgängigen zurückholen wollen.” Nun hatte Grootplen wieder im Sinn, wie der Schlag funktionierte. Andriér Altabete konnte gerade noch rechtzeitig zugreifen, bevor auch sein Stab davon flog. Unwillig parierte er.
Die Jungen überlegten. „Das gefällt mir nicht”, sagte Láas, der ältere von beiden. „Kein Schutzbefohlener sollte vor seinem Herrn davon laufen. Und wenn er es doch tut, dann wird er seinen Grund haben.”
„Und deshalb”, antwortete Altabete und drang, die Herausforderung annehmend, mit neuem Elan auf Grootplen ein, „ist es so wichtig, dass ihr zwei euch nicht nur im Kampf übt. Mir ist jedenfalls noch kein Schutzbefohlener davongelaufen.”
„Keiner, von dem du weißt”, stichelte Grootplen gutmütig. Altabete nahm das mit einem grimmigen Lachen. und kurz darauf waren nun die beiden Ritter in einem spielerischen Gefecht.
Láas seufzte, holte sich seine Stange zurück und ließ sich neben Jándris ins Gras fallen. Einen Moment klang um sie herum nur das Gezwitscher der Vögel, das atemlose Schnaufen der Erwachsenen und das Klackern der Hölzer.
„Ich wünschte, dein Vater hätte das nicht gesagt”, meinte der ältere Junge dann nachdenklich.
„Was? Dass Althopians Leute auf der Hut sind?”
„Wenn du mal das Sagen in deinem yarlmálon hast”, fragte Láas, „was machst du dann?”
„Wie meinst du das?”
„So wie ich es sage.”
Jándris schaute hinüber zu dem Fenster unterhalb des Wehrganges, wo die beiden Mädchen standen. „Na ja. Wahrscheinlich genau das, was mein und dein Vater und der von Tíjnje jetzt auch machen. Die halbe Zeit daheim nach dem rechten schauen, die andere Hälfte Hofdienst bei Manjév und die dritte rumreisen und für sie Turniere bestreiten und repräsentieren.”
„Die dritte Hälfte“, schnaubte Láas. „Der mestar wird begeistert sein!”
„Wo wir gerade vom mestar sprechen …” Jándris deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf die kämpfenden Väter, „ob die beiden einsehen, dass wir auch für unseren Geist ein bisschen Gelehrsamkeit brauchen? Der alte mestar soll doch heute nicht umsonst aufgestanden sein”
Láas grinste. „Das aus deinem Mund?”
„Mir ist alles recht, um von den beiden wegzukommen, ohne mich faul oder feige schimpfen zu lassen. Außerdem will ich von der teirandanja hören, was gestern noch alles geschehen ist.”
Die Jungen nickten einander zu. Als sie sich anschickten, die Wiese zu verlassen, bemerkte Grooplen das erst, als sie bereits in einiger Entfernung waren. Er hielt inne und stützte sich auf seine Stange.
„Jungs! Wohin?”
„Zum Unterricht, Vater. Wir sind zu spät damit!”
„Freiwillig?”
„Ein Buch ist besser als jeder Schild”, rezitierte Jándris. „Hat so ein weiser Poet aus Forétern mal geschrieben, sagt der mestar.”
„Vielleicht können wir den jungen Althopian wenigstens an Wissen und Weisheit überflügeln”, setzte Láas noch ein Argument darauf.
„Lauft nur!” Andriér Altabete schmunzelte. „Aber wascht Euch und wechselt die Hemden, bevor ihr der teirandanja unter die Augen kommt!”
„Ja”, rief Grootplen hinterher. „Wehrhaftigkeit, Bildung und Manieren! Das ist es, was die Damen von euch erwarten!”
Altabete hebelte Grootplens Stab neben dessen Fuß weg. Der ältere Ritter stolperte, fing sich aber gerade noch ab. Er protestierte nicht. Die beiden blickten ihren Söhnen ernst nach, und jeder machte sich schwere Gedanken.
Hinterlasse einen Kommentar