Das Wasser war so gut …

Als Galéon wieder zu sich kam, lag er im sandigen Schlick am Grund des Brunnens, genau so, wie der es ihm versprochen hatte. Er schmiegte sich in den feuchten Sand und genoss es, wie seine Schmerzen langsam verblassten, nun, da seine Arme nicht mehr unerträglich verdreht und endlich entlastet waren. Es kümmerte ihn nicht, dass er dabei klatschnass wurde. Das rinnende Wasser am Grunde des Brunnens, der nasse feine Sand war wie ein angenehm weiches Bett. Dazu war es hier unten herrlich kühl. Auch das betäubte den Schmerz.

Er wartete, bis er sich wieder halbwegs bewegen konnte und befreite sich dann von dem Metallknebel. Der Dorn darauf hatte sich beim Sturz tief in seine Zunge gebohrt; er schmeckte das Blut, aber das war nicht schlimm. Das würde heilen, und er würde in der nächsten Zeit ohnehin nicht sprechen.

Der báchorkor überlegte kurz, ob er sich den Spaß erlauben sollte, den Knebel an den nun nutzlosen Handschellen zu befestigen, aber diese Frechheit erübrigte sich. Das Ende des Seils befand sich über ihm weit außerhalb seiner Reichweite. Außerdem war es albern, Úldaise zu provozieren. Viel dringlicher war es, dass er sich so schnell wie möglich von diesem Ort entfernte.

Gleich. Nur noch einen Moment ausruhen …

Tatsächlich fiel er für eine Weile in einen tiefen Schlaf, während das Wasser ihn umspülte und auch den Rest der Schmerzen wegwusch. Als der báchorkor wieder zu sich kam, wusste er nicht zu sagen, wie viel Zeit vergangen war. Sicherlich mehr, als er sich erlauben konnte.

Galéon dachte nach. Wenn er hier wartete, bis Úldaise oder seine Schergen die Abdeckung vom Brunnen nahmen und ihn hier unten erblickten, fanden sie vielleicht doch eine Möglichkeit, ihn wieder heraufzuholen. Hier am Grund des Brunnens zu bleiben, war also leichtsinnig. Er musste heraus, ins Freie. Nicht zu weit fort, denn nun musste er erst recht herausfinden, was es mit den Dingen in der Wüste auf sich hatte und davon den Regenbogenrittern berichten. Aber sicher konnte nicht zurück in die Stadt.

Galéon setzte sich auf und dachte nach. Nach links oder nach rechts? Welche Richtung konnte er einschlagen? Nur der Umstand, dass das Wasser floss, bedeutete nicht, dass der Zufluss groß genug war, um ihn hindurch zu lassen. Es konnte sich um eine Quelle handeln, die irgendwo in der Tiefe und weiter Ferne entsprang und der Wüste zustrebte, ohne mit dem Fluss verbunden zu sein. Das war sogar wahrscheinlicher, als dass es sich um einen Abzweig des großen Stromes handelte. Der floss abseits der Stadt gen Wüste und versickerte in unbekannte Tiefen, möglicherweise in ein unterirdisches Meer, tief unterhalb von Soldesér.

Er hielt seine Hand ins Wasser, ertastete, in welche Richtung es sich bewegte. Wenn auch er in die Wüste wollte, dann musste er nach Süden, also entlang der Strömung. Dabei würde sich zeigen, ob dieser kleine Bach hier in der Finsternis doch ein Wasserlauf war, der sich vom Fluss getrennt hatte oder ein eigenständiges Gewässer.

Galéons Augen waren zwar nicht nachtsichtig, aber das hatte ihn noch nie behindert. Seit er ein Kind gewesen war, verfügte er über außergewöhnlich scharfe Sinne, sodass er sich selbst im Finstern sicher bewegen konnte. Der báchorkor erhob sich und begann, südwärts dem Wasserlauf hinterher zu stapfen, weg von dem Brunnenschacht, hinein in die Kaverne, die das Wasser in uralten Zeiten und über tausende von Sommern hinweg in den Stein geschliffen hatte, noch bevor im Weltenspiel Magier oder Menschen gewandelt waren.

Einige Dutzend Schritte gelang das, aber dann senkte sich die Decke der Höhle ab, sodass er erst gebückt gehen musste und dann nicht mehr aufrecht voran kam. Schließlich ließ er sich auf alle Viere nieder und kroch dem Bachbett folgend voran. Hatte es einen Sinn, was er hier anstellte? Wenn der Gang immer niedriger würde, wäre bald ein Punkt erreicht, an dem er nicht mehr hindurch passte.

Möglich, dachte Galéon. Das Wasser hatte einst Kraft gehabt, die große Höhle zu formen, indem es sich gestaut hatte und dabei den Brunnen schuf. Kein Felsen war im Weltenspiel, der auf Dauer dem Wasser standhalten konnte, aber Gestein war keine gleichförmige Masse. Vielleicht war das Wasser auf Widerstand gestoßen. Das Wasser musste sich in der Kaverne lange Zeit mit großem Druck gesammelt und sich dann seinen Weg durch mürberes Gestein gewaschen haben, bevor es den Hügel zersprengen konnte. Dazu hatte es genug Zeit gehabt. Wenn er nun jedoch Pech hatte, gelangte er an eine Stelle, in der das Wasser in kleinen Gängen abfloss, wie durch ein Sieb.

Eine Weile jedoch blieb der Gang so bemessen, dass er sich zuerst krabbelnd, dann auf dem Bauch kriechend voran bewegen konnte. Der báchorkor versuchte abzuschätzen, welche Entfernung er zwischenzeitlich zurückgelegt hatte. Wenn der Brunnenschacht senkrecht vom zentralen Hügel herabteufte, dann mochte es so sein, dass er die Oberstadt bereits hinter sich gelassen hatte und sich nun irgendwo unterhalb des südlichen Bereichs der Unterstadt befand, aber sicherlich noch nicht jenseits der äußeren Stadtmauer. Längst war der Gang so eng, dass das murmelnde, immer noch erstaunlich schnell fließende Wasser auf dem sandigen Boden nicht mehr schallte und echote.

Galéon streckte sich für einen Moment lang aus und trank im Liegen. Das Wasser war so süß, so köstlich und klar, eine Wohltat für seine zerstochene, Zunge, die ihm schwer und lahm im Mund lag. Er ignorierte das. Wunden benötigten ihre Zeit, um zu heilen, das war nichts Neues.

Sicher war es eine machtvolle Quelle irgendwo nördlich von Aurópéa, die den Bach speiste. Eine Weile lag er in völliger Finsternis und genoss Noktámas Frischung in der Finsternis, denn Wasser gehörte zur Nacht. Im Augenblick war es also die Dunkelheit, die ihn behütete, und er vertraute sich ihr an und dachte dabei weiter nach.

Was, wenn sie seine Flucht schon bemerkt hatten? Was, wenn sie, so absurd es sein mochte, ihn verfolgen würden? Wenn Úldaise so wahnsinnig war, dass er ihm einen seiner tumben Knechte hinterher schickte? Galéon schauderte. Der Gang war so eng, dass er sich nicht darin hätte umdrehen können. Man würde ihn bei den Füßen packen und herausziehen müssen.

Er beschwichtigte sich selbst mit dem Wissen, dass die Handlanger des sinor große Männer mit breitem Rücken und beeindruckenden Muskeln waren. Die würden ihm nicht weit folgen können. Allerdings: Wenn es nicht mehr weiter ging in dieser Richtung, würde er die ganze Strecke rückwärts kriechen müssen, Úldaise hin oder her.

Wie tief mochte er unter der Erde sein? Welche gigantische Last von Gestein mochte um ihn herum liegen? Der junge Mann schauderte. Für einen winzigen Moment drohte unversehens Panik in ihm aufzuwallen. Wie erschreckend, wie unnatürlich und beängstigend war es, in der Enge, in der Erde eingezwängt zu sein.

Galéon erkannte den unguten Gedanken, stieß ihn beiseite und schalt sich für seine Verzagtheit. Es gab genug Orte im Weltenspiel, an denen Menschen dies freiwillig erduldeten, unter der Wüste ebenso wie beiderseits am Fuß des Montazíel, wo sie nach Erz und Kohle gruben. Was unkundige Bergleute willentlich bewältigten, das sollte ihn nicht schrecken. Außerdem machte es, so weit, wie er bereits gekommen war, nun auch keinen Unterschied mehr, ob er noch weiter voran kroch. Solange ihn keine ungeschlachten Menschenfinger und keine glitschigen Gliedmaßen am Knöchel fassten, war es egal.

Die Mächte waren mit ihm. Das Traumphantom war auf irgendeine Weise in seiner Nähe und gab auf ihn acht. Oder nein … es beobachtete ihn. Auch, wenn er seine Präsenz nicht spüren konnte, war Galéon sich sicher, dass jede seiner Regungen, jeder Gedanke verfolgt und bewertet wurde. So, wie ein Meister sich prüfend das Treiben seines Lehrlings anschaute, um dessen Fertigkeiten zu beurteilen.

Nein, das Phantom im Licht wollte er nicht enttäuschen. Alles, was er zu tun hatte, war, dem Wasser zu folgen, nunmehr so tief auf dem Bauch robbend, dass er sich vorkam wie ein Maulwurf, der sich vorwärts kämpfte, indem er sich halb in den sandigen Schlick halb eingrub und ihn hinter sich warf.

So ging es, bis Galéon der Gedanke kam, ob er womöglich während seiner Tortur im Brunnenschacht den Verstand verloren hatte. Die meisten Menschen, wie sie Aurópéa bewohnten, hatten sich längst unrettbar in der harten, feuchten Finsternis verkeilt. Galéon fragte sich, ob er mit seinem schlanken Leib sein Glück noch länger herausfordern sollte, da stießen seine Hände an ein Hindernis. Felsgestein, das ihm den Weg blockierte.

Er wollte verärgert fluchen, da bemerkte er, dass das Gestein sich unter seiner tastenden Hand bewegte. Schutt? Größere Steintrümmer, hier, tief unter dem Erdboden? Ein verschütteter Durchgang?

Galéon hielt überrascht inne, schloss die Augen, obwohl er ohnehin nichts sehen konnte und ließ seine Sinne treiben. Die Luft hier in dieser engen natürlichen Wasserröhre, die war überraschend gut, natürlich feucht und kalt, aber durchaus zu atmen. Es gab also Frischluft, die von irgendwo dort vor ihm durch den Stollen, den das Wasser sich begraben hatte, mindestens bis zum Brunnen, vielleicht noch weiter strömte.

Er tastete über und um sich und dann wieder nach vorn. Ringsum war das Gestein glatt und eben, fast so gleichmäßig vom Wasser geschliffen wie Glas oder Edelstein. Das Geröll vor ihm war rau, eckig und an einigen Stellen sogar scharf. Stein, der nicht hierher gehörte, nicht zum Fels des Tunnels passte.

Hatte jemand einen Durchgang verschlossen? Warum? Wann? Und … was lag dahinter?

Galéon griff nach dem Schutt und hob einen Stein an. Unhandlich, sperrig, aber kaum schwerer als ein Mauerziegel. Wenn es mehr von diesem Format gab, dann wäre es möglich, ihn umzuschichten. Anstrengend, ja. Umständlich. Zeitraubend. Andererseits … gelang es ihm, unter dem Geröll hindurch zu schlüpfen, indem er es Stein für Stein über seinen Körper hinweg verfrachtete, so lange, bis er diese Barriere überwinden konnte … dann würde es Úldaise aufhalten, sollte der über irgendeine Möglichkeit verfügen, ihn zu verfolgen.

Der báchorkor wog das Für und wider ab. Wenn jemand die Steine von anderswo herbeigeschafft hatte, dann von der anderen Seite, und sicher nicht durch körperenge, halbgeflutete Wasseradern hindurch.

Er hatte zu trinken. Er hatte Atemluft. Und vielleicht hatte er genug Zeit.

***

Osse Emberbey beobachtete schweigend, wie sein Vater sich ankleidete, bereit machte für das heikle Gespräch, dass er nun mit dem teirand führen würde und mit dem er sein Schicksal besiegeln würde. Herr Alsgör hatte bescheidene Gewänder gewählt, in den Farben des yarlmalón, dem warmen Ton von Bernstein und Honig, aber er verzichtete auf sein formales Alltagsrüstzeug. Zwar erwartete niemand mehr ernsthaft von dem alten Ritter, dass der sich ohne Not mit Leder und Metall belastete. Doch der yarl hatte es sich nie nehmen lassen, zumindest eine Andeutung von Eisenzeug zu tragen, die ihn an seinen Stand gemahnte.

Der Junge warf ihm verstohlen betrübte Blicke zu. In diesem Aufzug sah Alsgör Emberbey nun kaum anders aus als ein wohlhabender Greis. Er schien sich sogar geschwächter zu bewegen als mit seiner Rüstung. Osse begriff, dass der Vater dem teirand auf diese Weise seine Beschämung zu demonstrieren versuchte, fragte sich aber, ob Asgaý von Spagor diese subtile Selbstdemütigung verstehen würde. Lediglich sein Schwert gürtete Herr Alsgör um. Das war er seinem teirand schuldig.

„Ich werde versuchen, die Unterredung mit unserem Herrn so knapp wie möglich zu halten”, sagte er dabei. „Ich werde ihn über meine Pläne für die nächste Zukunft informieren und mir anhören, warum er mich und Althopian zu sprechen wünschte. Danach kehren wir umgehend zurück.”

„Ja, Vater.”

„Er hatte ausdrücklich darum gebeten, dass ich dich hierher mitbringen sollte. Er hat dich gesehen, konnte sich gestern einen vorzüglichen Eindruck von dir machen und sollte damit zufrieden und im Bilde sein. Es ist nicht nötig, dass du dieses Gemach verlässt. Ich werde dich abholen, sobald alles getan ist.”

Osse Emberbey nickte. Dann fragte er: „Was war das in der Nacht für ein Lärm auf dem Hof?” Selbst nachzuschauen hatte er nicht gewagt. Dazu hätte er neben seinen Vater ans Fenster treten müssen, etwas, das der yarl in diesem Moment sicherlich nicht geschätzt hätte.

„Nichts von Bedeutung. Althopians Sohn hat mit einer unfassbaren Ungezogenheit für Aufruhr gesorgt.” Der alte Ritter warf seinem Sohn einen ganz seltsamen Blick zu, eine unentwirrbare Mischung aus Genugtuung, Abgunst und Enttäuschung. „Es sieht so aus, dass du nicht der einzige bist, der es darauf anlegt, sein Haus zu blamieren.”

„Ich wollte nicht …”

„Was?” Nun trat wieder der gewohnte, scharfe Blick in Herrn Alsgörs Augen zurück.

„Nichts”, sagte der Junge müde.

Herr Alsgör rückte seinen Schwertgürtel zurecht und öffnete die Tür. „Es wird nicht lange dauern. Es gibt nicht viel zu sagen.”

Mit diesen Worten verschwand er, und das Kind war wieder sich selbst überlassen. Seufzend ließ der Junge sich am Tisch nieder und schaute müde auf das Muster im Holz.

Er hatte sich damit abgefunden, dass der Vater den teirand davon überzeugen würde, es sei nicht der Mühe wert, sich mit ihm, Osse Emberbey abzugeben. Mit einem, der sich vielleicht einmal irgendwo als maedlor unterbringen ließ, aber ganz sicher nicht als würdiger Nachfolger von Helden wie Thorgar Emberbey und loyalen Dienstleuten wie Herrn Alsgör selbst.

Womit mochte der andere, der hochgeschätzte Sohn von Herrn Waýreth es sich verscherzt haben? Was musste ein Junge, dem bereits jetzt ein Ruf als famoser Kämpfer vorauseilte, verbrochen haben?

Osse setzte seine Brille ab. Um die Tischplatte zu betrachten, benötigte er sie nicht, und etwas anderes gab es hier im Raum nicht. Eine Weile blieb er so sitzen, aber dabei wurde er unruhig. Also ging er hinüber ans Fenster und blickte hinaus. Das geschäftige Treiben auf dem Hof unterschied sich nicht großartig von dem daheim. Die Schutzbefohlenen begannen ihr Tagwerk, das in einem großen Haushalt eben anfiel. Jeder hatte seine Aufgabe, und so wie es schien, waren die Leute am Hof von Wijdlant guter Dinge dabei. Einmal sah er die beiden Ritter der teiranda den Hof überqueren und zum Tor hinausgehen. Ihre Söhne trotteten missmutig hinter ihnen her und schleppten jeder ein paar schlanke Holzstangen mit sich. Vielleicht bauten sie draußen auf der Planwiese vor dem Tor eine Gestechbahn auf.

Ob der andere Junge auch Stubenarrest hatte?

Osse Emberbey dachte nach. Der Vater war auf dem Weg zum teirand. Bei der Besprechung, um die es ursprünglich gehen sollte, wäre auch der andere Vater, der yarl Althopian dabei. Der Junge, den alle ganz selbstverständlich als künftigen yarl seines Hauses sahen, wäre doch sicher mit den anderen yarlandoray gegangen, wenn man es ihm erlaubt hätte.

Je länger Osse darüber nachsann, desto mehr wuchs seine Überzeugung. Es konnte nicht anders sein: Irgendwo hier in der Burg saß ein anderes Kind, war möglicherweise auch ausgeschimpft worden und wartete zerknirscht auf die Rückkehr seines Vaters. Beide Väter waren beieinander – und für eine Weile beschäftigt.

Der Junge setzte energisch seine Brille wieder auf und schritt entschlossen hinüber zur Tür. Mit Sicherheit würde er bestraft werden. Aber das war es wert, bevor er die vielleicht einzige Gelegenheit versäumte, den anderen zu finden. Es kam einfach nicht mehr darauf an. Der Vater hatte ihn ohnehin aufgegeben. Kurz erschrak Osse vor seiner eigenen Verwegenheit. Dann trat er hinaus auf den Flur.

Ein Halbdutzend Stuben lag hier auf der einen Seite nebeneinander, kleine Gästequartiere für wichtige Besucher, aber wohl auch einige private Räume der Familie. Neben einer davon saß ein kleines Mädchen in vornehmem Kleidchen, an die Wand gelehnt und ein abgegriffenes Kuscheltier in der Hand. Das Kind schaute gelangweilt auf die Fensterreihe gegenüber, in der Außenmauer. Dass die Kleine hier saß, war wohl nicht weiter ungewöhnlich, denn zwei Mägde, die den Boden putzten und ein maedlor mit einem Arm voller Pergamentrollen, der vorbei eilte, störten sich nicht an ihr.

Der Junge lächelte unwillkürlich. Das Mädchen mit den braunen Locken und dem niedlichen runden Gesicht erinnerte ihn an Truda und war sicher ähnlichen Alters. Neugierig ging er zu ihr. Als sie ihn bemerkte, begann sie, unwillkürlich zu kichern.

„Warum lachst du?”, fragte er irritiert und hockte sich neben sie. „Was ist so lustig?”

„Na, du”, sagte sie. „Die Fenster auf deiner Nase.”

„Ach, das!” Er nahm die Augengläser ab. „Stört dich das?”

„Nein, lass es. Und entschuldige, dass ich gelacht habe. Manjév sagt, man soll nicht starren oder lachen, wenn Leute komisch aussehen.”

Das überhörte er würdevoll. Es war ihm tatsächlich lieber, wenn jemand über die verfluchte Brille lachte, als ihn deswegen zu bemitleiden. „Manjév? Die teirandanja?”

„Die schläft heute ganz schön lange. Mir ist langweilig. Ich will mir endlich meinen Wecken und meine Milch holen und dann endlich wieder mit der schönen Puppenburg spielen. Mama sagt, ich soll hier einfach warten. Sie ist schon zur teiranda vorgegangen.”

„Schläft sie da drin?”, wunderte Osse sich. „Die teirandanja? Hier, und nicht bei den Eltern?”

Das kleine Mädchen nickte. „Sie hat ein eigenes Zimmer nur für sich! Stell dir das vor! Ich muss immer bei meiner Mama schlafen, wenn wir hier sind. Aber wenn wir wieder zuhause sind, dann soll Papa mir auch ein Zimmerchen machen. Ich weiß schon genau, wo.”

„Wer bist du denn überhaupt?” Osse war belustigt. Die Kleine plauderte genauso wild drauflos wie Truda.

„Tíjnje Moréaval. Und ich bin die Freundin von Manjév.”, sagte das kleine Mädchen stolz. „Und wenn ich groß bin, werde ich ihre Hofdame. Dann haben wir beide schöne Kleider und Geschmeide und alles wird ganz toll. Ich will ein Schoßhündchen, ein eigenes. Glaubst du, ich bekomme eines?”

„Ich wünsche dir, dass das alles so wird, wie du es dir vorstellst”, sagte er. „Aber warum hat die teirandanja hier ihr Zimmer und nicht bei der Familie?”

„Soll ich dir was verraten?” Tíjnje spähte sich verschwörerisch um und flüsterte dann: „Wenn keine Gäste da sind, dann sind wir hier ganz ungestört. Manchmal machen die Jungs mit. Dann treffen wir uns nachts hier bei Manjév und erzählen Geschichten. Aber die von Láas mag ich nicht. Die sind schauerlich.”

Osse staunte, ließ es sich aber nicht anmerken. Es erschien ihm ungeheuerlich, das die teirandanja insgeheim einen so informellen Umgang mit ihren engen Vertrauten pflegte.

„Du bist der Sohn von Herrn Alsgör, nicht wahr?”

„Ja. Ich bin Osse Emberbey.”

„Das ist aber ein ulkiger Name.”

„Ich weiß. Der Urgroßvater meiner … meiner Mutter hieß so. – Sag, Tíjnje … du weißt nicht zufällig, wo ich den Sohn von Herrn Waýreth finde?”

„Nein”, sagte sie schlicht. „Ist mir auch egal, Manjév mag nicht mit ihm sprechen, sagt sie. Ich glaube, sie findet ihn blöd. Aber sie hat von Herrn Waýreth ein schönes Pferd geschenkt bekommen, und …”

„Nun gut. Aber du kannst mir doch sicher sagen wo … wo das Audienzzimmer der teiranday ist?”

„Natürlich. Im Geschoss unter diesem, an der Westecke des Gebäudes. Gleich neben dem Gemach der teiranda.”

„Danke, Tíjnje.” Er erhob sich. „Ich hoffe, du musst nicht mehr allzu lange auf deine Herrin warten.”

Er verneigte sich und wollte sich entfernen.

„Das ist aber die falsche Richtung”, rief sie ihm hinterher. „Die Treppe runter und dann der linke Korridor. Da um die Ecke geht es nicht weiter!”

„Ich werde es mir merken.”

Sie schüttelte der Kopf und schaute ihm hinterher, als er den Gang bis zum Ende weiter lief, wo der Korridor auf gleicher Höhe eine Biegung machte.

Dort, so war er sich sicher, würde er den Erwachsenen also nicht in die Arme laufen.