Elosál hatte sich viel Zeit für ihn genommen. Die fajía wusste, wie schwer es ihrem Sohn fiel, zu akzeptieren, dass Pataghíu ihm keine Magie zugestanden hatte. Dass er es immer und immer wieder versuchte, rührte sie, dass er dabei immer wieder aufs Neue enttäuscht wurde, machte sie traurig. Advon ahnte das und hatte das Thema vermieden, als sie am Abend zu ihm in sein Gemach kam, um ihn mit einer Geschichte abzulenken.

Aber diesmal wollte der Junge kein Märchen hören. Seine Gedanken hatten den ganzen Tag um etwas ganz anderes gekreist.

„Mama”, fragte Advon, „was ist das für Zeug, das Siledaú aus ihrem Zimmer schaffen soll?”

Sie zögerte. „Nichts Besonderes”, behauptete sie dann. „Alter Kram, der hier nichts zu suchen hat.”

„Das Buch war magisch, nicht wahr?”

Die fajía setzt sich auf seine Bettkante. Advon lag dort zwischen lauter weichen, bunten Kissen auf dem Bauch und hatte den Kopf auf die Hände gestützt. Es war bereits spät, über der Wüste schimmerten die Sterne auf tiefstem Schwarz, aber die Fenster des Kindergemachs standen weit offen. Es war ein heißer Tag gewesen, und Noktáma schenkte ihnen wohltuende Kühle, die von Süden heran strich.

„Ja”, sagte die fajía.

„Aber Siledaú ist nicht magisch, oder?”

Sie lachte. „Nein, Advon. Siledaú ist eine gelehrte alte Frau, die sich sicherlich in ihrem Leben viel mit Magie beschäftigt hat. Aber sie ist auf gar keinen Fall eine jora. Pataghíu gibt Unkundigen keine Magie an die Hand. Das wäre viel zu gefährlich.”

„Sie hat sich mit Magie beschäftigt?” Der Junge setzte sich auf. „Was heißt das?”

„Nun, wenn dich etwas interessiert, versuchst du dann nicht, alles darüber herauszufinden?”

Doch, dachte Advon. Aber es ist schwer. „Ich denke schon.”

„Was interessiert dich?”, erkundigte Elosál sich.

„Einhörner”, antwortete er unschuldig. „Ich will alles über sie wissen.”

Elosál lachte, beinahe erleichtert klang das. „Warum nur wundert mich das nicht?”

„Aber wenn ich etwas über die Einhörner wissen will, dann frage ich einfach den alten Stallmeister. Oder Papa. Oder die Ritter. Die wissen alle Bescheid. Wen fragt Siledaú, wenn sie etwas über Magie wissen will?”

„Wahrscheinlich hat sie in all der Zeit mit vielen Menschen geredet, die einmal mit Magiern zu tun hatten.”

„Mit Regenbogenrittern.”

„Auch das.”

„Aber das Buch hat kein arcaval’ay geschrieben, stimmt’s? Sonst hätte ich darin lesen können. Es war keine gute Magie.”

„Nein”, sagte Elosál knapp. „Und deshalb soll sie es fortschaffen. Weit, weit fort.”

„Wer hat es geschrieben?”

„Willst du nicht lieber eine schöne Geschichte hören? Das alte Buch muss dich nicht kümmern. Sie hat es weggebracht, und während sie und der Gelbe den Kram entfernt haben, war ich in ihrem Gemach. Da ist jetzt keine alte Magie mehr drinnen. Nur noch harmlose Schriften der Unkundigen und von unseresgleichen.”

„Aber wer hat es denn nun geschrieben? Und wo hatte sie es her?”

Elosál seufzte. Nachsichtig strich sie dem Knaben über das Haar.

„Advon … du weißt, das hier um den Cielástel und um Aurópéa herum einmal sehr, sehr schlimme Dinge geschehen sind.”

Er nickte. „Ja. Die Regenbogenritter haben tapfer gekämpft und die bösen Magier besiegt.” Er begriff und seine Augen weiteten sich. „War das Buch etwa von den Dunklen Magiern? Denen, die Pataghíus Glanz verachten?”

Elosál zögerte. „Ja”, sagte sie dann.

„Toll!”, rief Advon begeistert aus und setzte sich kerzengrade auf. „Das ist ja spannend! Aber wo hat Siledaú das Buch hergehabt? Sag doch, Mama!”

„Du hast es doch gehört. Sie hat es gekauft.”

„Aber die schrecklichen Magier werden doch keine Zauberbücher an Menschen verkauft haben.”

„Nein, das nicht. Aber … Advon, wenn irgendwo gekämpft wird, gehen immer Menschen hinter die Träume, auf dem einen oder dem anderen Weg. Auch Magier. Und wenn es sich so trifft, dass Unkundige die Habe eines Toten finden … was sie selbst nicht brauchen können, das versuchen sie, zu verkaufen, um etwas Geld dafür zu bekommen. Auf diese Weise mag so manches Artefakt in die Hände der Menschen von Aurópéa gekommen sein.”

„Es sind also Dunkle Magier hinter die Träume gegangen?”, fragte Advon mit klopfendem Herzen.

„Ja, selbstverständlich. Der Kampf um Aurópéa und den Cielástel dauerte viele, viele Monde. Es sind viele Schattensänger vernichtet worden und ebenso tapfere arcaval’ay gefallen.”

„Ist es denn nicht … also, ich würde nicht etwas verkaufen, das ich bei einem Toten gefunden hätte”, überlegte der Junge. „Das gehört mir doch nicht. Selbst wenn es vorher einem Schattensänger gehört hat.”

Die fajía lächelte. „Du bist ein braver Junge, Advon. Aber Unkundige denken darüber etwas anders als du.”

„Aber ist es denn nicht gefährlich, wenn Unkundige Sachen von Magiern finden? Wer weiß, was für schlimme Geheimnisse zum Beispiel in so einem Buch stehen, und …”

„Nein. Für Unkundige sind magische Dinge allerhöchstens so wertvoll wie das Material, aus dem sie bestehen. Unkundige können Artefakte nicht benutzen und magische Schriften nicht lesen. Das verhindert Pataghíu. Und Noktáma sicherlich auch.”

„Natürlich”, sagte er. „Deshalb habe ich auch die Worte nicht entziffern können, obwohl es unsere Schrift war.”

„Der Schattensänger, dem das Buch einmal gehört haben mag, hat sicher ebenfalls Sorge dafür getragen, dass kein vorwitziger Mensch darin liest.”

„Und was will Siledaú dann damit? So ein benutztes Buch nützt ihr doch erst recht nichts. Sie kann ja nicht einmal mehr eigene Notizen hineinschreiben. Die Seiten waren alle voll.”

„Advon, ich weiß es wirklich nicht. Ich könnte mir aber gut vorstellen, dass es ihr einfach Freude bereitet, zu versuchen die Schrift zu entschlüsseln. So, wie es dir Freude macht, den armen geduldigen Stallmeister nach den Einhörnern auszufragen. Menschen interessieren sich für Dinge, auch wenn sie sie nicht verstehen. Menschen sind neugierig.”

Der Junge dachte nach. „Waren da noch mehr Schattensängerdinge in Siledaús Gemach?”

Elosál seufzte unbehaglich. Advon entging das nicht. „Nicht viele. Und nun sind sie alle weg. Es war sehr taktlos, dass sie die Sachen ausgerechnet hierher gebracht hat. Wir hätten es ihr nie erlaubt. Dein Vater wird sie dafür rügen, wenn er zurück ist.”

Advon legte sich auf den Rücken und betrachtete nachdenklich seinen Betthimmel. In den Gläsern im Zimmer loderten nur kleine Flammen, die angenehm gedimmtes Licht spendeten, ihr Flackern bewirkte jedoch, dass die schönen Stickereien auf dem seidenen Tuch sich ein wenig zu bewegen schienen, lebendig aussahen. Es war eine kunstvolle Arbeit, kleine Windninchen [kaninchenartige Tiere] und Vöglein, die unter einem Beerenstrauch spielten. Advon sah sich dieses Bild über seiner Matratze an, seit er es bewusst wahrnehmen konnte. Eigentlich war er bereits viel zu alt für ein solches Motiv, aber er mochte sich nicht davon trennen. Es war so friedlich.

„Wenn Siledaú sich so sehr für Magie interessiert”, sagte er, „dann verstehe ich, wieso sie hier im Cielástel ist. So kann sie den arcaval’ay und dir ganz nahe sein. Vielleicht hofft sie, etwas zu lernen.”

„Vielleicht ist das wirklich so. Aber wir haben Siledaú damals aufgenommen, weil sie uns einen großen Dienst erwiesen hat.”

„Die Vision, nicht wahr? Die Gefahr im Norden?”

„Manchmal, Advon, geben die Mächte Unkundigen Gedanken ein, große, wichtige Gedanken. Visionen sind nicht nur für Magier. Manchmal geben die Mächte auch Unkundigen mit reinem Herzen ein Zeichen. Und die kommen damit vertrauensvoll zu Magiern. Zu uns.”

Advon zog flüchtig eine Schnute. Das mit dem reinen Herzen wollte er in Bezug auf die Alte nicht glauben. Elosál bemerkte es.

„Sie ist vielleicht nicht besonders freundlich”, rügte sie. „Aber Pataghíu hat sie uns geschickt, um uns zu warnen. Ich sehe ein, dass du sie nicht magst, aber du solltest sie nicht verachten.”

„Vielleicht hat Pataghíu gedacht, er kann ihr besonders gut Dinge eingeben, wo sie doch so viel über Magie weiß und die Bösen studiert hat.”

„Möglich ist das. Ich weiß es nicht.”

Er seufzte. „Muss ich morgen wieder bei ihr lernen?”

„Ja. Es … Advon, es ist einfach besser für dich, wenn du bei einem unkundigen Menschen lernst. Davon hast du mehr, wenn du einmal … wenn … Advon, du wirst einmal mehr mit Unkundigen zu tun haben als mit uns.”

Er wandte sich von dem Kinderbild ab und ihr zu. Wie traurig sie aussah, obwohl sie es nicht aussprach.

„Ich werde brav sein, Mama. Du sollt dich nicht über mich ärgern. Und sie soll keinen Grund haben, mich zu schimpfen. Wenn das böse Buch und die Wachstafel weg sind, kann es nur besser werden.”

Elosál nickte. „Du bist so ein kluger Junge, mein Schatz. Ich werde ein Auge darauf halten, dass sie dich nicht plagt.”

„Ja”, sagte er. „Ich will lernen, ein guter Unkundiger zu sein.”

Sie gab einen seltsamen Laut von sich, eine Mischung zwischen Erschrecken und Dankbarkeit. Er tastete nach ihrer schlanken weißen Hand.

„Wann kommt Papa wieder?”

„Ich denke, er dürfte sich bereits auf dem Rückweg befinden. Das … was er tun muss, kann nicht lange gedauert haben. Er ist bald wieder hier.”

„Erzählst du mir ein Märchen, Mama? Vielleicht das von dem Jungen, der die riesige Feba [bohnenähnliche Pflanze] bis in die Wolken heraufgeklettert ist?”

„Das ist eine Geschichte von deinem Vater”, sagte sie belustigt. „So albern und drollig.”

„Ich will sie von dir hören, Mama. Du erzählst so schön”, schmeichelte er.

Sie neigte sich zu ihm vor und berührte seine Stirn mit der ihren. Dann legte sie sich zu ihm in die weichen Kissen und nahm ihn in den Arm. Advon kuschelte sich an sie und lauschte den ungeheuerlichen Abenteuern des habgierigen Burschen, der auf wunderlichem Weg in das Haus eines sehr großen Mannes eingedrungen war, um dort Dinge zu rauben.

Er wusste, dass die Sache gut ausging, denn wenn die Mutter erzählte, musste der Halunke am Ende immer flüchten und verlor in der Eile sein Diebesgut. Der Bestohlene musste es nur wieder einsammeln und am Ende die Pflanze ausreißen, damit der dreiste Kerl ihn nie wieder in seinem Wolkenschloss stören konnte. Die Version, die Elosál erzählte, gefiel ihm besser als die des Vaters, der der Geschichte immer ein anderes, fragwürdigeres Ende gab. Er hatte den Vater einmal darauf angesprochen und ihn offenbar damit verwirrt. Und nachdenklich gemacht.

Aber diesmal hörte Advon nur mit einem Ohr hin. Der Rest seiner Gedanken kreiste um Siledaú, ihre Faszination für das Magische … und die Frage, was die schrecklichen Schattenmagier in den schlimmen Tagen wohl noch an magischen Artefakten zurückgelassen hatten.

**

Das kleine Mädchen war in einer Schockstarre. Es bewegte sich nicht und sagte auch nichts mehr, als sie über den Wolken gen Süden preschten, auf die Sonne, auf Pataghíus Erwachen zu. Während sie die Nacht hinter sich ließen und in der Dämmerung langsam mehr und mehr zu erkennen war, starrte sie geradeaus und warf nicht einen einzigen staunenden Blick nach unten, auf die Baumwipfel und weiten Felder unter ihnen, und nicht auf den Wolkennebel.

Es war ihm recht, solange sie nicht in Panik geriet und zu zappeln begann. Auf diese Weise konnte er sie auch eine Weile etwas weniger fest halten. Advon hatte ihm damals, bei seinem ersten Flug, weitaus mehr Mühe gemacht, denn er hatte den Anblick der winzigen Welt am Boden gierig in sich aufgesogen und sich so oft staunend nach links und rechts geneigt, dass Cýelú sich kaum darauf konzentrieren konnte, das Einhorn zu lenken. Zugegeben, Advon war damals einige Sommer jünger gewesen. Aber dieses kleine Mädchen … es war, als nähme es kaum wahr, dass es in der Luft war und das Einhorn am Himmel galoppierte. Cýelú bedauerte, dass sie sich nicht an diesem einmaligen Anblick, diesem besonderen Moment erfreute.

Perlenglanz schlug kraftvoll und bedacht mit seinen Schwanenschwingen. Etwas zerzaust sah er aus und er schien ein klein wenig Schlagseite zu haben, aber das bemerkte nur ein sehr erfahrener Reiter. Alles war in Ordnung.

Nein. Nun belog er sich selbst. Gar nichts war in Ordnung! Bei den Mächten, alles war ihm missglückt, die ganze Geschichte so schief gelaufen, wie es nur möglich war.

Siledaú hatte ihm aufgetragen, die Schattensänger herauszufordern, ein für allemal zu vernichten und dann das verfluchte Ding zu …entfernen, es zu erbeuten. Stattdessen hatte er nun ein Kind in seiner Obhut, mit dessen Existenz niemand hatte rechnen könne. Und er …

„Du hast den freundlichen Ritter totgeschlagen, nicht wahr?”, fragte das Kind plötzlich.

„Aber nein”, log er rasch, erstaunt und zugleich erleichtert, dass sie nicht die Sprache verloren hatte. „Ich … ich wollte ihn doch nicht töten.”

Das war nicht gelogen. Er war nicht in den Boscargén gereist, um dort einen unkundigen Mann hinter die Träume zu bringen. Aber was hätte er machen sollen? Der unglückliche Ritter hatte offensichtlich unter der Kontrolle der Schattensänger gestanden und hätte sicherlich nicht gezögert, bis zum Äußersten zu gehen. Eine Torheit. Der Unkundige hätte wissen müssen, dass er gegen ein magisches goldenes Schwert mit seinem lächerlichen Eisenzeug keine Chance gehabt hätte.

Sie schaute über ihre Schulter. Sie hatte getrocknetes Blut auf ihrer Wange und glaubte ihm nicht.

„Er hat ein kleines Mädchen in seiner Burg”, berichtete sie anklagend. „Das ist sogar noch jünger als ich. Er wollte ihr ein feines Spielzeug mitbringen.”

Cýelú schloss die Augen und biss sich auf die Unterlippe. Bei den Mächten. Er hatte also einen Vater auf dem Gewissen.

„Und seine hýardora wartet auch auf ihn. Ich hatte ihm die Blumensamen gegeben, damit er ihr eine Freude machen und sie in den Garten pflanzen kann, weil er doch die Blumen so schön fand, dass er darüber geweint hat. Er hat sie so lieb, seine hýardora und das kleine Mädchen. Die warten jetzt auf ihn und er kommt nie mehr nach Hause.”

„Hör auf”, flüsterte er. „Bitte, sei still.”

Sie blickte wieder nach vorn. „Du bist ein böser Mann”, sagte sie. „Wie in den Geschichten von Mama.”

Dann war wieder eine Weile außer dem Flügelschlag des Einhorns nichts zu hören. Cýelú kämpfte mit sich. Er verspürte den unbändigen Wunsch, sich vor ihr zu rechtfertigen.

„Ich bin kein böser Mann”, verteidigte er sich kleinlaut.

„Dann bring mich nach Hause! Ich will zu meiner Mama!”

„Das geht nicht, Kind! Ich kann dich jetzt nicht mehr zurück bringen.”

„Gut”, sagte sie, erschreckend gefasst. „Dann muss ich eben warten, bis mein Papa mich holen kommt.”

„Das mögen die Mächte verhüten”, murmelte er. Laut sagte er: „Wo war er denn, dein Papa? Was hat er deine Mutter allein an diesem verfluchten Ort gelassen?”

„Die Unkundigen jenseits der Berge haben ihn gerufen. Er soll ihnen helfen.”

Aha. Dann begannen die Unkundigen im Norden also tatsächlich, mit den Schwarzmänteln zu paktieren. Siledaú hatte wohl Recht. Es braute sich Gefahr zusammen. Die Menschen hatten üble Pläne … und der Schattensänger verstand es, sie aufzustacheln. Aber … warum?

„Helfen”, schnaufte er verächtlich.

„Ja, helfen. Papa hilft immer, wenn jemand um Hilfe fragt. Mein Papa ist nämlich ein guter Mann. Und er holt mich ganz schnell wieder weg von dir. Du wirst schon sehen!”

„Soll er es doch versuchen”, sagte Cýelú düster. „Wir werden dich beschützen.”

„Wovor? Vor meinem Papa?”, fragte das Mädchen wütend.

„Kind, sei vernünftig! Deine Mama wird sich wohl auch noch besinnen, aber Schattensänger dürfen keine Kinder in ihrer Gewalt haben! Danke den Mächten, dass ich dich rechtzeitig gefunden habe!”

Sie schüttelte bekümmert den Kopf. „Er wird kommen. Und er besiegt dich. Er besiegt alles, was uns bedroht.”

„So? Kämpfen will er mit mir, denkst du?”

„Er hat mir versprochen, dass er alles besiegt! Er ist nämlich sehr, sehr mächtig.”

„Dann hat er dich wohl angelogen. Er hat euch im Stich gelassen, dich und deine Mutter.” Cýelú unterbrach sich selbst. Was redete er da? Er tat ja fast so, als sei er der Schurke!

„Wenn mein Papa im Wald gewesen wäre, dann … „ Sie zögerte und begann unvermittelt wieder zu schluchzen. „Ich will zu meiner Mama!”

Er verbiss sich eine Bemerkung. Was hätte er sagen können? Die Kleine war vollkommen arglos. Sie hatte keine Ahnung, in welcher Gefahr sie geschwebt hatte. Schattensänger hatten niemals abgestritten, was mit den Kindern geschah, die sie in ihren düsteren Kult aufnahmen. Schon von Anbeginn hatten Elosál und ihre Schwestern darüber diskutiert, warum das so war, warum Noktáma ihre abtrünnigen Diener nicht so eingerichtet hatte wie die Regenbogenritter, warum ihre Magier sterblich und vergänglich waren und sich umständlich von Generation zu Generation erhalten mussten.

Wie er es auch betrachtete – er hatte das kleine Mädchen vor einem schrecklichen Schicksal bewahrt, verhindert, dass auch sie bald zu einem schwarzgewandeten Monster mit einer verstümmelten Seele geworden wäre. Ob sie ihm das nun dankte oder nicht.

Aber wie passte die Frau, die Mutter ins Bild? Was hatte der Großmeister der Schwarzgewandeten vor, das er sich offensichtlich erfolgreich an fleischlicher Nachkommenschaft versucht hatte? Wo kam die seltsame Frau her, die ihn mit ihrem Bann in Fetzen geschlagen hätte, hätte er nicht noch seinen Schutzbann um sich getragen? Die Energie, mit der sie ihn attackiert hatte, war unglaublich gewesen. Das Kind behauptete, die Mutter wurde nur schlecht zaubern? Ha! Das war lachhaft! Diese Frau hatte Kräfte wie ein tobendes Feuer in einem Hagelsturm!

Vielleicht würde Siledaú mit der neuen Information mehr beginnen können. Die Alte hatte lange genug die Wege und Untaten der Schwarzgewandeten studiert, eine forscora [Forscherin, Wissenschaftlerin], die ihr unkundiges Leben dem Vorsatz gewidmet hatte, zu verstehen, was damals geschehen war. Damit es beim nächsten Mal zeitig zu verhindern sei.

Immerhin … dieses Kind hier, das war jetzt gerettet. Die Kleine war vielleicht tatsächlich Blut von dem des Dunklen Großmeisters, aber so, wie er sie hier dicht an seiner maghiscal spürte, war die Kleine unmagisch wie ein Stück Holz. Offenbar war das Experiment des Schattensängers gescheitert, Noktáma sei dafür gepriesen.

„Wohin fliegst du eigentlich?”, fragte sie, als ihre Tränen wieder einmal für einen Moment versiegten.

„Nach Aurópéa. In den Cielástel, unser Heiligtum am Rand der Wüste.”

„Wüste”, sagte sie nachdenklich. „Das ist da, wo die fünfzig Räuber wohnen, oder? Da wo viel Sand und wenig Bäume sind?”

Fünfzig Räuber? Wohl eher eine ganze Stadt voll davon, dachte Cýelú bitter beim Gedanken an Aurópéa und wies sich gleich zurecht. Arcaval’ay ließen Aurópéa in Ruhe und die Menschen kümmerten sich nicht um die Magier. So war es abgesprochen. Nie mehr sollten Menschen in magische Angelegenheiten hineingezogen werden.

„Die Wüste ist wunderschön”, versprach er. „Weit und still und großartig. Aber Bäume haben wir auch. Meine hýardora hat herrliche Gärten am Rande der Wüste, mit lauter Blumen und schönen bunten Vögeln.”

Du hast eine hýardora?”

„Natürlich. Die gütigste und freundlichste hýardora, die man sich nur vorstellen kann.”

„Ist deine hýardora eine unkundige Frau?”

„Sie ist eine fajía.”

Das schien dem Kind nicht wirklich etwas zu sagen. Seltsam. Ein Schattensänger hätte wohl in irgendeiner Weise darauf reagiert, vielleicht Abscheu geäußert.

„Mein Sohn wird sich bestimmt freuen, dich kennen zu lernen”, kam ihm in den Sinn.

„Dein Sohn?”

„Ja, einen Sohn habe ich auch. Er heißt Advon und ist ungefähr so alt wie du. Vielleicht ein klein wenig älter.”

Wieder schaute sie über die Schulter. Nun, da es heller wurde, konnte er erst richtig erkennen, was für schöne hellgrüne Augen sie hatte, mit so viel Traurigkeit und Verachtung darin, dass er es nicht ertrug.

„Ich bringe dich zu ihm. Ich bin sicher, dass ihr euch gut vertragen werdet. Es ist nicht gut, wenn Kinder ganz allein sind.”

„Ich will nicht zu deinem dummen Sohn.”

„Du musst keine Angst haben! Er ist ein lieber Junge, gut erzogen und sanft. Er ist nicht wie andere Knaben, die kleine Mädchen ärgern würden.”

„Aber ich will zu meiner Mama. Papa wird doch bald wieder zurück kommen, und …”

„Bei den Mächten, Kind! Verstehst du nicht? Ich habe dich doch nicht ohne Grund aus dem Boscargén weggeholt! Ich habe dafür sogar meine eigenen Pläne geändert!”

„Aber was wolltest du denn da überhaupt?”

Er setzte an, aber brachte sich gleichzeitig hastig wieder zum Schweigen. Sollte er nach dem Drama, nach dem völlig unnötigen Blutvergießen, dem Entsetzen, das der Kleinen wohl noch in den Knochen saß, ihr nun ernsthaft erklären, dass er ursprünglich gekommen war, um ihren Vater aus dem Weltenspiel zu tilgen und das Heiligtum zu plündern, wie einer der fünfzig ehrlosen Räuber?

„Das sind Erwachsenendinge“, beschied er. „Ich bringe dich zu meiner Familie. Sie werden dich freundlich aufnehmen. Dann reite ich einfach noch einmal los und … bringe meine Angelegenheiten zum Ende.”

Sie schaute nachdenklich hinab. Der Schatten des Einhorns zog über weite goldene Felder und fruchtende Obstgärten hinweg. Die Dämmerung war vorbei. Pataghíus Glanz erhellte den Tag.

„Du kommst gar nicht in den Wald zurück. Meine Mama macht das Netz jetzt ganz, ganz fest zu. Wie einen Zaun. Du kannst da nicht mehr hindurch schlüpfen.”

„Wir werden sehen.”

„Und wenn mein Papa wieder zurück ist”, setzte sie hinzu, „dann wird er mit dir kämpfen. Er wird ganz furchtbar wütend auf dich sein. Er erlaubt nicht, dass jemand böse zu Mama und mir ist.”

Cýelú schnaubte. „Ein einziger Schattensänger? Ich muss mich nicht vor so etwas fürchten. Du weißt nicht, wer ich bin, Kleines, nicht wahr?”

„Doch. Du bist ein böser Mann.”

Das tat so weh, viel mehr als ein direkter Treffer im Kampf. „Hör auf damit, Kleines! Du hast ja keine Vorstellung davon, warum ich das alles tue!”

„Warum denn?”

„Weil ich meinen Sohn lieb habe! Versteh das oder lass es bleiben, aber hör auf damit, mich anzuklagen, Kind! Ich mache das alles, damit mein Sohn … meine hýardora … weil ich Pataghíu diene und den Mächten gefällig bin.”

Sie schien eine Weile darüber nachzudenken. Dann sagte sie: „Und trotzdem wird mein Papa dich bestrafen, weil du mich weggeholt hast. Mein Papa hat mich nämlich auch lieb. Mama und Papa wollen nicht, dass mir jemand etwas tut.”

„Dein Vater hat dich nicht lieb”, behauptete er, wie im Reflex. „Schattensänger können nicht lieben. Überall sonst hast du es besser als in den Händen von Schattensängern.”

„Das ist nicht wahr!”

Sie schwieg wieder. Er ahnte, dass sie ihm vehement wiedersprechen wollte, aber sie hielt sich zurück.

Er fühlte sich elend. Zumindest der Mutter gegenüber er verspürte er Reue. Er hatte wohl gespürt, dass an der Frau etwas Seltsames war, etwas, das von dem, was er über Schattensänger wusste, abwich. Sie war ernsthaft besorgt um das Kind gewesen. Mutterinstinkte wohl, etwas, das er als Mann möglicherweise nicht gänzlich nachvollziehen konnte.

„Ist es noch weit?”, fragte sie nach einiger Zeit, als sie über ein weites Flusstal hinweg flogen. Perlenglanz hatte es nicht allzu eilig. Er segelte nun entspannt auf den Winden. Einhörner waren in der Lage, in solchen Momenten etwas zu dösen, auszuruhen von dem anstrengenden Ritt. Cýelú hatte nichts dagegen. Sie waren so zwar etwas langsamer unterwegs, aber er wollte es vermeiden, allzu oft am Boden zu rasten.

„Zwei Tage in diesem Tempo.”

Einen Moment blieb sie still. Dann sagte das Mädchen etwas vollkommen unerwartetes, was seine Pläne erneut ins Wanken brachte.

„Ich muss mal.”