
Galéons Geist flackerte. Er war ein Gefühl, das ihm nicht unbekannt war, aber jedes Mal aufs Neue war es unangenehm, so als brächen Welt und Wirklichkeit um ihn herum weg und er löse sich in Fetzen auf. Es war, als wäre sein ganzes Sein eine Schnur, die langsam an einer rauen Kante aufscheuerte und sich zerfaserte, bis auf einen allerletzten Strang, fein wie ein Spinnenfaden und härter als Stahl. Ein unzertrennbarer Faden, der ihn ans Leben fesselte, selbst wenn alles andere um ihn herum verging.
Der báchorkor wimmerte stimmlos. Er war sich bewusst, dass er um einen hohen Preis dorthin gegangen war, von wo es kein Zurück mehr gab, nicht für Unkundige. Eine Zwischenwelt, in der er nichts zu suchen hatte, und was es umso verstörender und qualvoller machte, diese Gefilde zu betreten und nicht dort bleiben zu dürfen.
Allerdings – auch wenn Galéon nicht wirklich verstand, wo er war, hatte er gelernt, diesen Weg einzuschlagen. Immer, wenn es geschehen war, war es gewesen, als stürze sein Bewusstsein aus großer Tiefe hinab in einen Schacht, einen bizarren Korridor, an dessen Ende nicht war als eine verschlossene Tür. Heute war das erste Mal, dass Galéon willentlich an diese Tür anklopfen wollte.
Wenn nicht am Ende dieses Weges, hinter der Tür … wo sollte das Phantom sonst sein, das ihn in seinen Träumen beobachtete, von außerhalb des Zaunes, von hinter-den-Träumen?
Das Flimmern wurde unerträglich. Der junge Mann spürte, wie sein Bewusstsein sich auflöste, bis auf diesen einen, letzten Gedanken, den er um jeden Preis mit durch die Tür hindurch nehmen wollte. Das Traumphantom musste davon erfahren. Es konnte nicht sein, es durfte nicht angehen, dass …. Ja, was eigentlich? Galéon hatte es vergessen, so wie er seinen Namen vergessen hatte und dass er sterbend und lebendig zugleich in einem Brunnenschacht hing, damit er niemandem von dem Dingen in der Wüste berichtete und nicht die Geschichten von …
Die letzte Faser seines Verstandes verwehte in der Unwirklichkeit, und die Tür öffnete sich, einen Spalt weit nur. Und das Licht … das Licht …. es war nicht für ihn. Er musste draußen bleiben, als stünde er in einem dunklen Hausflur, ein Bittsteller, der ignoriert wurde. Aber diesmal hatte man ihn bemerkt. Galéon spürte Erleichterung. Sein Verstand fand wieder zusammen, betäubt, aber ohne Schmerzen. Wie in einem Traum.
Was willst du hier?
Nein, es konnte nicht sei. Das Licht hatte keine Sprache. Das Licht brauchte keine Worte. Das hier war jemand anderes. Er erkannte die Stimme, die ihm zugesprochen, die ihn beschworen hatte, reglos und mucksmäuschenstill zu sein, damals, als er noch klein und wehrlos war.
Wieso wählst du einen so gefährlichen Weg hierher?
„Gibt es denn einen anderen?”, dachte Galéon benommen.
Die Stimme lachte amüsiert und formte sich, nahm Klang und Substanz an. Natürlich. Aber nicht für dich. Nicht so. Noch nicht.
„Ich kenne dich!”, wisperte Galéon lautlos. „Ich bin dir einmal begegnet.”
Ich weiß.
„Wir waren miteinander verbunden, nicht wahr? Die Mächte hätten es so gewollt.”
Ja.
„Warum war es nicht so?”
Ich hatte dich aus den Augen verloren und war anderen Dingen gefolgt.
„Aber du bist manchmal in meinen Träumen, nicht wahr?”
Ja. Ich habe dich dort gesucht, sobald ich konnte.
„Warum?”
Weil du nun mich finden musst. Das ist wichtig, sehr wichtig.
„Habe ich dich nicht gerade gefunden?”
Nein. Nicht hier. Hier bin ich nicht.
„Wer bist du?”
Die Stimme war dicht bei ihm, und er spürte, dass sich etwas veränderte. Es fühlte sich an, als baue sich um ihn herum so etwas Ähnliches wie ein Köper auf, substanzlos und ätherisch, aber so beschaffen, dass die Fetzen seines Geistes dorthin strebten wie ein Magnet. Das war unheimlich, aber es tat gut. Es war wie ein Vorgeschmack auf etwas, das einmal möglich sein würde.
Es ist zu früh, dass du das erfährst.
„Und wer …. was bin ich?”
Auch das wirst du zu gegebener Zeit erkennen.
„Ich werde keine Zeit mehr haben, zu warten.”
Das ist schade, für jemanden, der neben der Zeit steht wie du es tust.
„Aber ich werde dich nicht finden, wenn du mir jetzt nicht hilfst.”
Keine Antwort. Aber er, obschon ohne Körper, fühlte sich bemerkenswert real, so wie er in dem schmalen Streif des Leuchtens stand, das er nicht betreten konnte,
Wie kann ich dir helfen, bevor wir einander gefunden haben?
„Ich brauche einen Zauber, den ich nicht beherrsche.”
Und wie kommst du darauf, dass ich dir damit helfen kann?
„Wenn du derjenige bist, von dem ich es denke, dann weiß ich es.”
Ich kann nicht zaubern. Nicht mehr. Nicht hier. Es ist vorbei.
„Ich fragte mich, ob du mir nicht wenigstens erklären kannst, wie man es macht.”
Was will ein Unkundiger mit einem Zauber?
„Ich bin kein Unkundiger. Ich … weiß Dinge.”
Was glaubst du, was du bist?
„Ich weiß nicht, nicht genau. Aber ich will es selbst herausfinden, bevor ein anderer es tut.”
Ahnst du es denn?
„Ja. Genau deswegen bin ich hier. Deshalb habe ich dich hier gesucht. Ich glaube zu wissen, wer du bist. Was du bist. Dass ich vielleicht tatsächlich deinesgleichen bin.”
Und?
„Wenn ich mich nicht irre, vielleicht kann ich … nun, etwas bewirken.”
Sehr gut. Aber …wenn ich dir helfe, was bist du bereit, mir dafür zu geben?
Nun war Galéon verblüfft. „Du willst mit mir handeln?”
Ist es nicht dreist, mich hier aufzusuchen, mich zu beschwören und dann noch ein Geschenk zu fordern?
„Was ist es, das ich dir anbieten könnte? Ich bin ein armer báchorkor. Und du, du bist … ein Phantom, das manchmal durch meine Träume geistert.”
Es hätte anders sein sollen. Es war mein Versäumnis, mein Versagen, dass es kam, wie es ist. Und doch, vielleicht war es besser, wie es gekommen ist. Es eröffnet … Möglichkeiten.
„Das hilft mir gerade nicht wirklich aus meiner Lage”, sagte Galéon. Das Licht war so schön, so warm, so … wie sehr sehnte er sich danach.
Wenn ich dir helfe, was wirst du tun?
„Weißt du, was in der Wüste ist, oder muss ich es dir erklären?”
Ich weiß es. Aber ich darf es dir nicht sagen. Es ist deine Aufgabe.
„Sollten … andere davon erfahren?”
Natürlich. Die richtigen Leute. Redest du zu viel am falschen Ort, wird es dich mehr kosten als ein wenig Schmerz und Tränen.
„Dann hilf mir, nur dieses eine Mal. Hilf mir, damit ich mir selbst helfen kann.”
Die Stimme schwieg, beängstigend lang.
„Wenn ich deinesgleichen bin”, versuchte Galéon es listig, „wäre es dann nicht eine furchtbare Schande für unseresgleichen, wenn ich mich nicht selbst befreie?”
Was kann ich dazu tun?
„Lehre mich nur einen winzigen Zauber. Nichts Arkanes, das ich ohnehin nicht vollbringen könnte. Es würde genügen, wenn ich Materie manipulieren könnte, nur ganz wenig, nur für kurze Zeit.”
Du bittest mich um einen läppischen Zaubertrick? Die Stimme klang fast gekränkt.
„Ja. Ich bin nicht so anmaßend, um ein Wunder zu bitten. Ich weiß bereits, was ich tun will und ich hoffe, dass ich die Fähigkeit dazu in mir trage. Vielleicht kann ich die richtigen Leute … warnen.”
Du weißt, was es bedeutet, meinesgleichen um Wissen zu bitten? Welchen Preis du dafür zahlen wirst?
„Ich denke, ich bin ohnehin schon lange hoch verschuldet bei dir.”
Nun gut, ich werde dir eingeben, wie du es bewirkst, denn die Kraft dazu besitzt du tatsächlich.
„Was willst du dafür haben?”
Dich.
Galéon schauderte. Aber er hatte fast damit gerechnet, je länger er mit der Stimme im Licht geredet hatte. Nun, vielleicht … war das gar nicht so schlecht.
„Wo kann ich dich finden, um es einzulösen? Kann mir jemand den Weg weisen?”
Wenn du den Dingen in der Wüste entgegentreten willst, benötigst du Verbündete. Wenn dir der Zauber gelingt, tue, was du dir ausgedacht hast und finde dann jemanden namens Yalomiro Lagoscyre. Mehr darf ich dir nicht sagen. Es ist deine Reise, dein Werden. Dein Zug im Weltenspiel. Aber sei auf der Hut.
„Ich verstehe. Ich werde dich finden und dein sein, wenn dies hier ausgestanden ist. So, wie die Mächte es wollen.”
Die Stimme lächelte. Galéon ahnte, wie zufrieden sie mit diesem Zugeständnis war.
Dann explodierte eine Idee in seinem Selbst und riss ihn zurück ins Bewusstsein. Alles fuhr in ihn zurück, wie eine zurückschnellende Bogensehne, und er war wieder in seinem gemarterten Menschenkörper, allein in der Finsternis, und im Brunne echote tropfendes und fließendes Wasser.
Galéon keuchte erschöpft, bis er wieder bei Atem war. Dann schloss er die Augen und konzentrierte sich, so fest und flehentlich, dass es ihn nun auch im Kopf schmerzte. Der báchorkor malte sich aus, was er haben wollte und beschwor die Wirklichkeit unter seinen Willen. Er zauberte.
Es dauerte eine Weile, bis es gelang. Galéon stellte sich vor, wie das Gold weich wurde wie zähes Wachs, das in der Sonne aufweichte, nicht gänzlich schmolz wie unter einer Flamme, aber nachgab, vorsichtig, langsam, sorgfältig. Atemzug um Atemzug weiteten sich die goldenen Spangen um seine Gelenke um Winzigkeiten. Er durfte es nicht zu hastig tun. Sobald er den Gedanken vertrieb, zu viel Kraft auf einmal hinein leitete, würde ihm die Magie entgleiten und entwischen. Es war anstrengend und kostete den jungen Mann den allerletzten Rest seiner Kraft.
Als der Gong von den Stadtmauern zur Mitte der Nacht ertönte, waren die Metallschellen weit genug, dass Galéons malträtierte Hände herausschlüpfen konnten. Erleichtert ließ der báchorkor sich in die Dunkelheit fallen, diesmal bei vollem Bewusstsein. Der Schlick des halb versiegten Quells fing ihn sanft auf, wie versprochen.
***
Der See war kalt. Wirklich eiskalt. Aber ich fühlte es erst, als mein Körper zu frösteln begann. Ich konnte nicht sagen, wie lange ich im Wasser gehockt und in den Himmel gestarrt hatte. Mein Geist war blank, vollkommen leer. Ich weigerte mich zu verstehen, was da gerade passiert war.
Ein wildfremder Mann, ein fremder Magier, hatte Dýamirée geraubt. Einfach so. Ohne Grund. Und was hatte ich getan? Hysterisch herum geschrien hatte ich, nicht mehr. Ich hatte mich überrumpeln und festbannen lassen wie … wie eine Unkundige.
Versagt hatte ich, als Mutter, als Magierin, als Mensch. Ich allein war schuld daran, dass das alles hatte passieren können. Der Regenbogenritter hatte den Wald nur betreten können, weil mein dilettantischer Schutzzauber nicht gehalten hatte. Nein, nicht nur nicht gehalten – weil ich ihn willentlich aufgegeben hatte. Weil ich nicht in der Lage gewesen war, es richtig zu machen und mir eingeredet hatte, dann könne ich es auch gleich bleiben lassen.
„Dýamirée”, schluchzte ich. Mir klapperten die Zähne, aber es war nicht allein die Kälte. Es war allgewaltiges Entsetzen, Fassungslosigkeit. Etwas, das ich nicht einmal als Verzweiflung identifizieren konnte, denn es fühlte sich derart irreal, so absurd an, das es gar nicht wirklich an mich heran kam. Ich stand unter Schock.
Mein Kind war fort. Der fremde Mann hatte sie mitgenommen. Einfach so. Er hatte sie gestohlen. Bei den Mächten! Wenn er ihr nun etwas antat?
Ich rappelte mich auf. Es hatte keinen Sinn, dass ich im Wasser hockte und den Nachthimmel anstarrte. Er war fort. Er war einfach so weggeflogen. Mit Dýamirée im Arm, die weinte und nach mir gerufen hatte. Und ich? Ich konnte ihr nicht folgen.
Kaum stand ich, wurde mir wieder schwindelig und ich sank in den See zurück. Noch machte ich mir keine Gedanken darüber, erst später wurde mir klar, dass ich so schwach und konfus war, weil ich mit einem Schlag, instinktiv und völlig sinnlos, all meine magische Energie verbraucht hatte. Ich spürte den Nachhall der Entladung, die es dabei gegeben hatte. Die Haut überall an meinem Körper fühlte sich sonderbar an, es brannte, wie aufgeschürft und mit Nesseln bestrichen. Was immer ich da gemacht hatte, ohne darüber nachzudenken, vielleicht hätte es den Regenbogenritter aus dem Sattel geworfen, wenn es ihn überrascht hatte.
Schließlich krabbelte ich auf allen Vieren zurück ans Ufer. Nachdenken konnte ich immer noch nicht. All meine Gedanken kreisten vorwurfsvoll um die Tatsache, dass ich mich nun nicht einmal in einen Vogel verwandeln und den Entführer so zumindest hätte verfolgen können. Nicht, dass meine magischen Fähigkeiten dazu jemals ausgereicht hätten. Yalomiro hatte mir nie beigebracht, einen anderen Körper anzulegen. Wieso auch? Wie sollte ich mich in einen Vogel verwandeln, wenn ich es nicht einmal fertig brachte, diesen verfluchten Schutzzauber um den Etaímalon aufrecht zu erhalten?
Wo brachte der Magier sie hin? Was hatte er mit meinem Kind vor? Was für ein Irrsinn war das?
Warum hatte ich zugelassen, dass sie allein im Wald herum lief?
Warum entführte ein Regenbogenritter ein Kind? Und … was wollte er von Yalomiro?
Ich schleppte mich auf den Kiesstrand und blieb dort einen Augenblick liegen. Yalomiro … wie sollte ich ihm erklären, was passiert war? Wie konnte ich ihm überhaupt mitteilen, was sich in dieser Nacht zugetragen hatte? Er war fort, weit fort, auf der anderen Seite des Montazíel.
Er war … fort. Ich drehte mich auf den Rücken und starrte zu den Sternen auf.
Das erste Mal in zehn Sommern hatte er den Boscargén länger als ein paar Stunden verlassen. Ausgerechnet jetzt tauchte der Regenbogenritter auf.
Warum gerade jetzt? Was sollte das?
Ich schloss die Augen und rief nach Yalomiro, aber ich bemerkte schnell, dass das gar keinen Zweck hatte. Ich war leer, die Magie verpulvert für einen albernen Versuch, einen mächtigen Magier niederzuschlagen. Ich lachte auf und begann zugleich, hemmungslos zu heulen. Selbst wenn er just in diesem Moment seinerseits nach mir riefe, nur um sich zu vergewissern, dass es mir gut ging, ich konnte ihn nicht erreichen. Zumindest vorerst nicht, möglicherweise nie wieder, falls ich es geschafft haben sollte, die Magie komplett fortzuwerfen und meine maghiscal selbst auszulöschen.
„Yalomiro”, wimmerte ich. „Yalomiro … was habe ich getan? Was habe ich zugelassen!”
Was mochte Dýamirée nur jetzt ausstehen! Was immer der Regenbogenritter ursprünglich vorgehabt hatte, ganz offensichtlich hatte er spontan seine Pläne geändert. Dýamirée war so arglos, so unschuldig, sicherlich hatte sie sich ihm ohne jede Angst genähert. Vielleicht hatte er sie mit dem schönen Einhorn angelockt. Wenn sie nur nicht in Panik geriet, sich freistrampelte und aus der Luft hinab stürzte!
Wo brachte er sie hin? Nach Aurópéa, ganz in den Süden? Was würde er mit einem Kind, einem kleinen Mädchen tun? War Dýamirée in Gefahr? Oder würde er darauf achtgeben, dass ihr nichts zustieß – falls er sie als Geisel genommen hatte? Seine Worte hatten sich fast danach angehört. Er wollte Dýamirée gegen etwas tauschen. Aber gegen was?
Warum das alles? Waren die Regenbogenritter nicht geehrte und geachtete Magier? Hieß es nicht, sie hätten damals die Chaosgeister besiegt und sich Ruhm und Ehre bei den Unkundigen verdient?
Yalomiro hatte nie viele Worte über die Regenbogenritter verloren. Aber ich wusste, dass Schattensänger den Hellen Magiern verübelten, dass diese sich in Zeiten, in denen ihre Hilfe bitter nötig gewesen wäre, aus unerfindlichen Gründen aus allem herausgehalten hatten. Allem Anschein nach waren Schattensänger und Regenbogenritter irgendwann einmal zu der Übereinkunft gekommen, die Angelegenheiten der jeweils anderen zu ignorieren und sich nicht einzumischen. Da ich wusste, dass Yalomiro das Thema nicht ansprechen mochte und es uns hier im Boscargén nicht betraf, so weit fort war und all die Jahrhunderte nie eine Rolle gespielt hatte, hatte ich ihn nie darüber ausgefragt. Ich hatte mich mit den Andeutungen begnügt, die er bei seltenen Gelegenheiten darüber fallen ließ. Irgendwann, hatte ich mir gedacht, würde sich schon die Gelegenheit ergeben, Unkundige danach auszufragen.
Aber auch wenn Yalomiro die Regenbogenritter nicht schätzte, er hatte nie auch nur angedeutet, dass sie … Feinde wären. Ich war mir ziemlich sicher, dass es feindseliger Regenbogenritter das Letzte gewesen wäre, was er als Gefahr im Boscargén befürchtet hätte.
Das ergab also alles gar keinen Sinn!
Ich weinte. Die Tränen wuschen jeden Gedanken fort, der sich in meinem Verstand festsetzen wollte. Das Geschehene war so unbegreiflich, dass ich es nicht fassen konnte. Ich wisperte nach Dýamirée, nach Yalomiro, und am Ende sogar nach Noktáma. Niemand konnte mir helfen, niemand konnte Dýamirée helfen. Nicht einmal yarl Moréaval hatte etwas ausrichten können. Er ….
Bei den Mächten! Moréaval!
Endlich hatte wenigstens dieser Gedanke, dieser Ansatz von Realitätsbezug meinen aufgewirbelten Versand erreicht. Irgendwie schaffte ich es, auf die Füße zu kommen. Wie betrunken, gebückt taumelte ich die Böschung hinauf, musste teils die Hände am Boden zur Hilfe nehmen. Als ich schließlich den Hang hinauf gekrabbelt war, sah ich ihn unter den Ölbäumen am Boden. Die Nachtblumen lumineszierten um ihn herum.
„Herr Jóndere!”, rief ich mit aufwallender Panik. Ich war mir fast sicher, dass er nicht mehr antworten würde. „Hört Ihr mich?”
Ich schleppte mich heran und stolperte zu seinem reglosen Leib hinüber. Ich war so schwer, so erschöpft, aber ich durfte nicht aufgeben. Wo immer der Ritter so plötzlich hergekommen sein mochte, er hatte versucht, Dýamirée zu retten. Fast wäre es ihm gelungen.
Obwohl … nein. Sicher hätte der Regenbogenritter nicht aufgegeben, hätte sich Dýamirée um jeden Preis zurückholen wollen, was er schließlich ja auch getan hatte.
Aber wenn es uns allen dreien gelungen wäre, in den Etaímalon zu flüchten? Wenn … ach, was nützte jetzt noch ein wenn?
Ich kroch zu ihm hinüber. Er bewegte sich nicht mehr, natürlich nicht. Cýelú Irísolor hatte nach seiner Schulter geschlagen und den Hals getroffen. Jóndere Moréaval hatte sein Leben für Dýamirée gegeben. Ich schluchzte auf. Seine hýardora, das kleine Mädchen, seine eigene Tochter …
Ich schauderte unwillkürlich. Der Brief der teiranda, Yalomiros Überlegungen fielen mir ein. Ob es …weiter ging? Ob das kleine Mädchen in Wijdlant das nächste Kind war, das einen Elternteil verloren hatte, das nächste in einer Serie von vielen? Ob …
Ich stutzte, als ich ihn erreicht hatte. Die Blumen, die weißen Blütenranken auf Arámaús Grab, sie hatten sich nach dem Ritter ausgestreckt. Sein Körper war bedeckt von einem losen Netz aus kriechenden Stängeln, samtigen Blättern und mondweißen Blütenknospen. Jene, die ihm auf Schulter und Brust lagen, die glänzten nass und rot. Die Wunde von dem sicherlich magischen Schwert, die ihm tief in Schulter und den Hals hinein geschlagen war, die blutete nicht mehr. Die Blumen stillten das Blut.
Hatten die Pflanzen, deren Wurzeln, die Arámaús Leichnam berührt hatten, etwa heilende Kräfte? Womöglich eine Art Bewusstsein?
Einen Moment schaute ich sprachlos auf das Wunder. Dann griff ich zaghaft zu und nahm ihm vorsichtig seinen Helm ab. Das kostete Überwindung, denn ich befürchtete, es schlimmer zu machen, wenn ich seinen Kopf, seinen verwundeten Hals anrührte.
„Herr Jóndere?”, flüsterte ich. „Herr Jóndere! Könnt Ihr mich hören?”
Er war bewusstlos, aber nun sah ich, dass er schwach und flach atmete. Mit fiel ein Stein vom Herzen. Er lebte.
Natürlich lebte er! Wie durcheinander war ich, dass ich das vergessen hatte! Jóndere Moréaval war unsterblich, so wie Yalomiro, Kíaná von Wijdlant und ich selbst. Wir konnten nicht sterben, solange das Schwert des Rotgewandeten in dessen Grab versiegelt lag. Allerdings gab es den kleinen, aber bedeutsamen Unterschied, dass Jóndere Moréaval der einzige von uns war, der um sein Schicksal nicht wusste, ahnungslos war. Er hatte den Regenbogenritter nicht tollkühn in dem Bewusstsein attackiert, dass er dabei nicht sein Leben verlieren konnte. Er war bereit gewesen, für Dýamirée zu sterben, für ein aus seiner Sicht fremdes Kind. Bei den Mächten, er hatte mehr riskiert, mehr Tapferkeit und Selbstlosigkeit bewiesen, als ich es für meine eigene Tochter hatte vollbringen können!
Die Unsterblichkeit machte ihn allerdings nicht unverwundbar, das sah ich mit eigenen Augen. Er benötigte dringend Hilfe. Wenn der Schock und der Blutverlust ihn nun in eine Art Koma versetzt hatten, wer wusste schon, ob er jemals wieder zu sich kommen würde, wenn niemand ihn fachkundig versorgte? Ich schaute schaudernd auf die Wunde und fragte mich, ob hier nicht selbst Isan am Ende ihrer Fähigkeiten gewesen wäre. Wahrscheinlich. Aber mit Magie … Magie, die ich nicht zur Verfügung hatte und selbst wenn, nicht nutzen konnte. Yalomiro hätte das gekonnt. Es hätte ihn nur ein Lied und ein wenig bedachtsam eingesetzte Kraft gekostet. Schattensänger konnten Verletzungen heilen. Salghíara Lagoscyre konnte es nicht.
Ich setzte mich neben dem bewusstlosen Ritter nieder und verbarg müde mein Gesicht in den Händen.
„Noktáma,” wisperte ich, „Noktáma, bitte verlass mich nicht. Was soll ich denn jetzt nur tun?”
Ich hatte nicht erwartet, dass Noktáma zu mir reden würde. Warum sollte sie? Warum sollte irgendjemand in dieser Welt mich in diesem Moment trösten?
Dýamirée hatte ich im Stich gelassen. Yalomiros Vertrauen hatte ich nicht verdient. Den mutigen Ritter hier konnte ich nicht retten.
Würde Yalomiro mir jemals vergeben können, was ich zugelassen hatte?
„Yalomiro”, flüsterte ich rau. „Bitte, Yalomiro … ich weiß nicht weiter …”
Etwas berührte meinen Knöchel. Ich zuckte zusammen und sah, dass eine der Blumenranken an meinem Bein entlang strich.
Die Nachtblumen umarmten den Ritter.
„Kannst du ihm denn beistehen, bis Yalomiro wieder hier ist?”, flüsterte ich der Pflanze zu. „Falls meine Magie zerstört ist?”
Die Blumen antworteten mir nicht. Wie auch, sie hatten weder Mund noch Zunge. Aber auf seltsame Weise fühlte ich mich ein klein wenig getröstet. Ein geisterhafter Hauch, ein Widerhall von Arámaú war hier. Ich war nicht verlassen.
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