
Dýamirée sagte nichts. Dazu war sie zu einfühlsam. Sie stand an der Tür zum Saal und warf einen betrübten Blick auf das Gewirr von Licht um mich herum, wie ein glitzerndes Wollknäuel, mit dem eine überdimensionale Katze sich vergnügt hatte.
Ich war vom Thron des Großmeisters aufgestanden und versuchte, Anfang oder Ende zu finden. Auch ich schwieg, aber nur, weil ich es nicht wagte, in Noktámas Heiligtum zu fluchen und entnervt herumzubrüllen. Stattdessen schluchzte ich frustriert vor mich hin.
Das alles war allein meine Schuld. Ich hatte mir so viel Mühe gegeben und mich schon fast am Ziel meines Tuns gewähnt. Wackelig und unbeholfen war das Gewebe gewesen, aber es hatte gehalten. Alle wichtigen Punkte hatte ich mit der Nacht über dem Saal verknüpft. Stolz war ich auf mich gewesen, auf meine Beharrlichkeit, auf meinen Fleiß, auf das Talent, das möglicherweise endlich in mir zutage trat.
Ungefähr fünf Minuten lang hatte der Zauber gehalten und war dann lautlos zusammengestürzt, wie ein Kartenhaus. Verloschen war es nur deshalb nicht, weil ich geistesgegenwärtig an meine dünne maghiscal gerafft hatte, was ich noch von dem Schutzzauber zu packen bekam. Dýamirée, die draußen gewesen war und vor dem Etaímalon in der Abenddämmerung gespielt hatte, hatte meinen entsetzten Wutschrei gehört und war herbeigeeilt.
Ich versuchte, ihrem teilnahmsvollen Blick auszuweichen. Es war mir so unsagbar peinlich, dass sie Abend für Abend mein Scheitern miterlebt hatte, seit Yalomiro aufgebrochen war. Was sollte sie von mir denken? Wie anschaulich führte ich ihr meine Unfähigkeit vor Augen, für den Schutz unseres Zuhauses zu sorgen. Dabei hätte ich ihr ein Vorbild sein sollen. Und eine Stütze. Jemand, dem sie vertrauen konnte. Stattdessen war sie nun wieder einmal Zeugin meiner Inkompetenz.
„Sei nicht traurig, Mama”, hörte ich sie schließlich. „Nicht zaubern zu können ist gar nicht so schlimm.”
Ich setzte zu einer Antwort an und unterbrach mich gerade noch rechtzeitig. Dass die Unfähigkeit, Magie zu wirken keine Schande sei, damit trösteten Yalomiro und ich sie beinahe täglich. Es wäre nicht besonders schlau, ihr nun zu widersprechen.
Ich biss mir auf die Lippen. Vor zehn Jahren hatte es mich selbst nicht gestört, dass ich keinerlei Zauberkräfte besaß. Es war mir später ganz logisch erschienen, dass ich die Magie, die Arámaú mir vor ihrem Tod zur Bewahrung gegeben hatte, nur dilettantisch benutzen konnte. Etwa so, wie man noch lange nicht zum geschickten Handwerker wird, nur weil man einen Werkzeugkasten besitzt.
Solange Yalomiro bei mir war, machte es mir nichts aus, dass meine Fertigkeiten so bescheiden waren. Ich brauchte sie nicht, und auch wenn er immer wieder versuchte, mir nützliche Alltagszaubereien beizubringen, hatte ich nie den Ehrgeiz zu großen Leistungen gehabt. Nun, da es darauf ankam, einmal etwas richtig zu machen, zeigte sich, wie unzulänglich all das war, und das, obwohl gerade dieser Zauber selbst so simpel war.
Ich begann, das Licht wieder aufzuwickeln und fühlte mich auf eine Weise dumm und unzulänglich, die ich gehofft hatte, in meiner alten Welt zurückgelassen zu haben.
Zu meinem Entsetzen verspürte ich sogar einen Hauch von Groll gegen Yalomiro. Was hatte er sich dabei gedacht, mir etwas aufzutragen, wovon er wusste, dass ich daran scheitern würde? Waren die teiranda, all die Unkundigen nördlich des Montazíel dieses Risiko wert?
Ich erschrak, als ich spürte, wie das Licht in meiner Hand zu flackern begann, als habe es einen Wackelkontakt. Selbstmitleid? Selbstsucht? Was war nur los mit mir?
„Du sollst nicht wütend sein”, sagte Dýamirée bedächtig. „Wenn du wütend bist, machst du dich schwächer.”
Ich schaute sie an. Hätte sie nicht mit ihrer hellen Kinderstimme geredet, diese Worte hätten von Yalomiro kommen können. Da stand sie, betrachtete mich mitfühlend mit ihren sanften Augen und hatte so viel Ähnlichkeit mit ihm, dass es fast unheimlich war.
„Ich will alles richtig machen, aber es ist zu schwer.”
„Aber du gibst dir doch so viel Mühe.”
„Das reicht nicht! Ich darf keinen Fehler damit machen.”
Sie neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. „Darf man denn nie Fehler machen, Mama?”
„Nein. Nicht bei so wichtigen Dingen. Das hier ist kein Spiel, Dýamirée. Das hier muss tadellos sein, so wie dein Vater es macht.”
„Papa hat bestimmt viel, viel mehr Zeit gehabt, um es zu lernen.”
„Die Zeit hätte ich auch gehabt. Ich hätte ihn nur rechtzeitig darum bitten sollen, es mir beizubringen!”
„Und warum hast du nicht?”
Ich ballte meine Faust um den Strang aus zusammengewundenem Licht. Warum? Nun … ich hatte mich wohl zu sehr darauf verlassen, dass er immer da sein und die Verantwortung übernehmen würde. Die Erkenntnis, dass einmal ein Tag kommen würde, an dem ich mich selbst um etwas hier im Etaímalon kümmern musste, war hart und bitter. Und dabei war er gerade nur für wenige Tage unterwegs. Was, wenn er einmal dauerhaft … nicht da sein würde?
Wenn es etwas gab, was uns bedrohen wollte, dann hatte es nun die perfekte Gelegenheit.
Obwohl … was hätte das Widerwesen, wenn es tatsächlich der Weltenspielverderber war, der wieder aufgewacht war und sich zeigen wollte, davon, ein unkundiges Kind und dessen unfähige Mutter zu bedrohen? War es nicht geradezu lächerlich, wie verbissen ich mich angesichts der Unwichtigkeit, die Dýamirée und ich im Weltenspiel innehatten, so auf den Gedanken versteifte, dass eine Katastrophe passieren könnte, wenn mir der Zauber misslang?
Konnte das Widerwesen nicht mit Leichtigkeit diesen Zauber brechen, selbst wenn es Yalomiro selbst wäre, der ihn wirkte? Ich hatte das Widerwesen gesehen, seine entsetzliche Macht gespürt. Wäre das Weltenspiel ein Sandkasten, sterbliche Menschen, auch Magier, waren gegen den Weltenspielverderber nicht mehr als verirrte Ameisen, die einem Kind beim Buddeln im Weg waren.
Und wenn nicht das Widerwesen selbst – wer sonst hätte ein Interesse daran, gerade jetzt Unfrieden mit den camat’ay zu suchen? Die Leute aus dem nahegelegenen Bergbaudorf konnten nicht wissen, dass der Schattensänger abwesend war, den sie aus unerfindlichen Gründen so sehr fürchteten, Und wer sonst sollte überhaupt von uns wissen und uns etwas Böses wollen? Schließlich gab es keine Lichtwächter mehr, keine rotgewandeten Magier, die besessen von dem Verlangen waren, Schattensänger umzubringen.
Dýamirée und ich, wir waren unsichtbar, hier in unserem Wald.
„Versuch es noch einmal, Mama”, spornte sie mich an. „Du hast es doch jetzt schon so oft getan. Es fällt dir gewiss immer leichter.”
„Du traust mir eine Menge zu”, sagte ich zerstreut, wog für und wider und alles ab, was mir in den Sinn kam.
„Papa wird sich freuen und stolz auf dich sein, wenn er zurückkehrt und du es ihm zeigst”, redete sie weiter. „Er glaubt ganz fest, dass du es schaffst.”
Da war er schon wieder, dieser unfaire, dieser absurde Leistungsdruck. In meiner Erinnerung flammten ungute Erinnerungen auf, an Szenen von früher, von Situationen in meiner Schulzeit. Ich war insgesamt gesehen keine allzu gute Schülerin gewesen, aber meine ungleich gewichteten Talente hatten mich immerhin bis zum Abitur gerettet. Mit meinem Verständnis für Sprachen hatte ich permanente Fehlschläge ausgleichen können, die alles betrafen, das irgendwie mit Zahlen zu tun hatte. So manche Mathematikklausur hätte ich nicht lösen können, wenn mein Leben davon abgehangen hätte. So ähnlich fühlte ich mich auch nun, nur dass es jetzt kein ungnädiger Dozent war, sondern meine eigene Tochter, die da vor mir stand, und sie zeigte keine unrealistischen Erwartungen an mich, sondern bedingungsloses Vertrauen.
„Geh spielen, Dýamirée”, bat ich. „Ich kann nicht üben, wenn mir jemand dabei zuschaut.”
„Ich stör dich nicht weiter”, sagte sie arglos. „Ich gehe raus und suche weiter nach meinem Bötchen. Vielleicht wissen die Glühwürmchen, wo es ist. Erzählst du mir nachher noch eine Geschichte? Schläfst du wieder bei mir im Zimmer?”
„Wenn du magst?”
„Wenn ich dafür noch einmal die Geschichte von dem albernen teirand bekomme, der dachte, eine Unkundige könne mit einem Spinnrad Stroh zu Gold zaubern?”
„Wenn ich diesmal zu Ende erzählen kann?” Beim letzten Mal war ich gar nicht erst bis zu Rumpelstilzchens erstem Auftritt gekommen. Dýamirée hatte zuvor begonnen, mit mir darüber zu diskutieren, wieso der teirand statt dem nützlichen Stroh noch mehr dummes Gold haben wollte. Damit, gab sie zu bedenken, könne man doch weder ein Dach decken noch eine Matratze stopfen. Darüber war sie eingeschlafen.
„Versprochen”, sagte ich. Sie lächelte, winkte mir zu und lief dann unbekümmert hinaus in die Abenddämmerung, um sich am See und den duftenden Nachtblumen zu erfreuen.
Ich wartete, bis ich sie nicht mehr hören konnte und setzte mich wieder auf den steinernen Sessel im Zentrum von Noktámas Heiligtum. Einen Moment zögerte ich.
Dann lehnte ich mich seufzend zurück, schloss die Augen und ließ das Licht aus meiner Hand gleiten.
***
Tíjnje konnte ihren Blick kaum von dem dünnen Jungen abwenden, der mit unbewegtem Gesicht an der Seite des gestrengen Herrn Alsgör saß. Das kleine Mädchen war fasziniert von der Brille, die der Knabe auf der Nase trug. Sie fand, das sah wunderlich aus.
Jándris und Láas interessierten sich mehr für den blonden Jungen, der mit Waýreth Althopian gekommen war, und bedachten ihn verstohlen mit abschätzenden Blicken. Der Knabe war zwar jünger als sie, aber nach allem, was sie über ihn gehört hatten, sollte er bereits ungewöhnliches Talent bewiesen haben. Beide Väter, sowohl Andríer Altabete als auch Daap Grootplen, hatten sie ermahnt, nicht überheblich gegenüber dem Knaben zu sein.
Im Augenblick machte der Junge allerdings nicht den Eindruck, ein respektabler Kämpfer zu sein. Er saß artig da, aß manierlich von seinem Teller und blickte nur auf, wenn einer der Ritter das Wort an ihn richtete. Wenn er redete, dann leise und wohlerzogen.
„Was für ein langweiliger Tugendbold”, sagte Láas schließlich.
„Ich weiß nicht. Immerhin sitzt er bei den teiranday am Tisch. Da muss er auf Manieren achten.” Jándris grinste und schlürfte von seinem Löffel, nicht anstößig, aber doch herausfordernd. Láas feixte und tat es ihm nach. Tíjnje schaute die beiden rügend an und schüttelte dann tugendsam den Kopf.
Auch der andere Junge schien zu schüchtern, um zu reden. Allerdings sprach ihn außer der teiranda und der yarlara von Moréaval auch kaum jemand an. Die beiden yarlay aus Spagor saßen beim Essen zu Seiten ihres Herrn, sodass er mit beiden zugleich reden konnte, ihre Söhne waren also durch drei Erwachsene voneinander getrennt. Grootplen und Altabete hatten ihre Plätze an der anderen Seite der Tafel, und alle saßen so, dass sie in den Saal blickten, wo die übrigen Burgbewohner saßen. Der Junge mit der Brille war nahe bei den Damen und der opayra. Er durfte sich dort erst recht keine Patzer leisten.
Láas, Jándris und Tíjnje hatten ihre angestammten Plätze bei den Eltern den Gästen aus Spagor überlassen und saßen beieinander an der vorderen Ecke der Gesindetafel, wo es etwas legerer zuging.
Auch die teirandanja war bei ihnen. Manjév war, unter dem Vorwand, sich einen anderen Apfel aus der Schale am Gesindetisch holen zu wollen, aufgestanden und hatte sich dann, wie gedankenlos, einfach bei Tíjnje niedergelassen, unter dem tadelnden Blick der opayra. Die teirandanja ignorierte das. Im Augenblick gab es nichts so wichtiges, dass jemand sie zurückholen und dafür die hochedlen Gäste verlassen würde.
„Hör auf, den jungen Emberbey anzustarren”, schalt Manjév das kleine Mädchen. „Man soll Leute nicht angaffen, wenn sie seltsam aussehen.”
„Na, vor dem müssen wir uns jedenfalls nicht in Acht nehmen”, sagte Láas zwischen zwei Löffeln Mus. „Den hol ich mit dem kleinen Finger von den Füßen.”
„Er wird nicht mit euch Raubeinen kämpfen.”
„Nicht?”
„Sei nicht albern. Mein Papa hat gesagt, der Junge soll später gar kein Ritter werden. Also muss er auch nicht mit euch fechten.”
„Was macht er dann hier?”
„Keine Ahnung. Ich denke, meine Eltern wollten ihn einfach mal mit eigenen Augen sehen. Herr Alsgör erzählt ja so wenig von ihm, dass mein Papa vielleicht schon überlegt hat, ob es ihn wirklich gibt.”
Jándris schnaubte abfällig. Manjév warf ihm einen unwilligen Blick zu. „Ich will aber nicht, dass ihr euch über Herrn Alsgörs Sohn lustig macht. Wenn ich dessen gewahr werde, dann … dann sag ich’s Euren Vätern.”
„Mein Vater sagte vorhin selbst, der Junge sei ein Schwächling”, verteidigte Jándris Altabete sich.
„Er ist ein yarlandor [minderjähriger Sohn eines yarl], wie ihr auch. Vergesst das nicht. Ich will, dass ihr euch vertragt.”
„Na”, brummte Láas, „erst mal schauen, wie er sich anstellt.”
„Ihr werdet ihn schon noch früh genug zu sprechen bekommen. Ihr werdet alle mal meine yarlay sein. Ich will …”, sie zögerte, „… Frieden zwischen meinen Dienstleuten.”
„Was ist von dem anderen zu halten, Majestät?”, fragte Láas mit gutmütigem Spott. „Dem Heldensohn?”
Manjév von Wijdlant betrachtete geistesabwesend den roten Apfel in ihrer Hand. „Er redet nicht viel.”
„Wie langweilig”, sagte Tíjnje.
„Vielleicht weiß er einfach nicht, was er einer Dame erzählen könnte.”
Die teirandanja schaute über die Schulter zum Tisch hinüber, wo die Eltern, die Ritter mit den Söhnen und Tíjnjes Mutter saßen. Just in diesem Moment hatte auch der Knabe in der blauen Tunika zu den anderen Kindern hingesehen. Sein heller Blick traf für einen Lidschlag den der teirandanja.
Hastig wandte Manjév sich in eine andere Richtung.
„Schaut mal”, kicherte Tíjnje. „Der bekommt ganz rote Ohren.”
„Ein albernes Gänschen bist du!” Die teirandanja schaute angestrengt den Brotkorb an. Eine Weile sprachen sie nicht.
„Ob der freundliche Magier noch da ist?”, fragte Tíjnje, die die Tadel ihrer Herrin nur selten für böse nahm.
„Mama sagt, er sei in der Nähe geblieben, aber ich weiß nicht, ob er sich noch einmal zeigt. Also, ob er sich uns zeigt. Er hat sicher besseres zu tun, als sich mit Kindern abzugeben.”
„Schade. Ich hätte den Magier so gern auch gesehen.” Jándris brach von seinem Brot ab, um den Rest seiner Schale auszustreichen.
„Hat er sich wirklich in einen Vogel verwandelt?” Láas war sich wohl unsicher, was er der Wahrheit und was der kindlichen Phantasie seiner Nichte entsprang.
„Manjév, er glaubt mir das einfach nicht!”
„Wir haben es mit eigenen Augen gesehen.”
„Wenn ein Magier hier ist, um mit dem teirand und seinen yarlay zu reden”, überlegte Jándris, „dann müssen wir doch nur achtgeben, wo und wann die Herren zusammentreffen.”
Die beiden Jungen wechselten verschwörerische Blicke miteinander. Manjév spähte erneut vorsichtig um sich, wieder mitten hinein in diese forschenden hellen Augen. Hatte er etwa die ganze Zeit in ihre Richtung gestarrt? Sie gab einen ärgerlichen Seufzer von sich und griff selbst nach einer Scheibe Brot.
„Er guckt immer noch”, berichtete Tíjnje kichernd.
„Sicher überlegt er, wie er Euch ansprechen soll, Majestät.”
„Ich will nicht mit ihm sprechen!”
Das überraschte die Jungen und das kleine Mädchen gleichermaßen. Nun fühlte Manjév sich in die Enge getrieben zwischen dem interessierten Blick des jungen Althopian und den fragenden ihrer künftigen Gefolgsleute.
„Warum nicht?”, fragte Láas schließlich verwirrt.
„Weil … ich will eben nicht.”
„Aber bestimmt ist er ganz nett”, wandte Tíjnje ein. „Und er hat ein schönes Pferd.”
Manjév zerriss nervös ihre Brotscheibe. „Ich kann mich ja mit seinem Pferd unterhalten. Ich …”
„Manjév?”
Die teiranda rief. Die Stimme der Mutter konnte Manjév nicht ignorieren. Das Mädchen tat einen Stoßseufzer, erhob sich und ging unter den fragenden Blicken der anderen, wieder zurück zur Tafel der Hausherren. Dort war man mit dem Essen zum Ende gekommen. Die Herren und Damen erhoben sich bereits. Asgaý von Spagor ging um den Tisch herum, nahm seine Tochter bei der Hand und führte sie geradewegs auf Althopian und Emberbey zu.
„Die Herren ziehen sich für die Nacht zurück”, raunte er dem Kind zu. „Sie haben eine anstrengende Reise hinter sich. Sei artig und wünsche ihnen eine gute Nacht.”
Manjév nickte gehorsam. Sie gab sich einen Ruck, trat vor die Herren hin und neigte den Kopf. „Mögen die Mächte Euch in angenehme Träume führen und darin über euch wachen, edle Herren”, sagte sie artig.
„Mögen die Mächte desgleichen Euch gewähren, Herrin”, entgegnete Waýreth Althopian freundlich. Alsgör Emberbey schloss sich wortlos mit einem demütigen Nicken an.
Nun gab es kein Ausweichen. Die beiden Jungen standen an der Seite ihrer Väter, jeder für sich. Manjév hatte nicht beobachten können, dass sie den Abend über miteinander geredet hätten. Sie hätten dazu über den Tisch hinweg rufen müssen.
„Und ihr beiden …” Sie zögerte. Die Jungen warteten, die Köpfe demütig vor ihr geneigt.
„Seid auch mir willkommen, wie Eure Väter es sind. Ruht Euch aus. Morgen stelle ich Euch den anderen Eures Alters vor. Bis dahin …”
„Herrin”, sagte da plötzlich der dünne Junge mit der Brille und kniete vor ihr nieder. Bescheiden streckte er ihr seine linke Hand entgegen.
Waýreth Althopian stutzte sichtlich. Dann lächelte er, ganz flüchtig, und stupste seinen Sohn an, bedeutete ihm, es dem anderen nachzutun. Der blau gewandete Junge gehorchte.
Die teirandanja aber stand verwirrt da und wusste nicht, was von ihr erwartet wurde. Kíaná von Wijdlant kam hinzu und legte ihr die Hände auf die Schultern.
„Herr Alsgör, wie entzückend!”, lobte sie. „Unsere Tochter erweist sich den Jungen gewogen und dankbar. Aber woher kennt er in seinem Alter diese alte Sitte?”
„Er ist … ich lege viel Wert darauf, dass er viel lernt, Majestät”, sagte Emberbey tonlos und konsterniert, denn das Verhalten seines Sohnes schien ihn verlegen zu stimmen. Tatsächlich sah er von einem Moment zum nächsten aus, als wolle er vor Scham im Boden versinken.
Asgaý von Spagor ließ sich neben Manjév auf ein Knie nieder. „Eine schöne Geste, Kind”, lobte er. „Das hat dir der mestar bereits erklärt, nicht wahr? Nun gib es ihnen auch.”
Erklärt? Der mestar? Manjév schaute hilfesuchend zur opayra hinüber, aber die ältliche Edeldame wirkte nur gerührt. Die teirandanja war verwirrt. Bei welcher Gelegenheit hatte sie beim Unterricht dem mestar nicht zugehört und etwas Wichtiges versäumt?
„Geben?” Die teirandanja war nun völlig verwirrt. „Papa, ich weiß nicht …”
Asgaý von Spagor lächelte unbewegt „Das Brot”, raunte er ihr zu. Manjév nickte dankbar.
Bitte, ihr Mächte, flehte sie. Macht, dass ich mich nicht lächerlich mache.
Schweigend legte sie den beiden Jungen die beiden Hälften der Brotscheibe in die Hand.
Genau das schien das richtige zu sein. Alle, ausnahmslos alle Umstehenden, bis auf Alsgör Emberbey, schienen erfreut. Dann knieten sie nieder, alle yarlay, mit Ausnahme von Kíaná von Wijdlant und Asgaý von Spagor. Das Gesinde im Saal wurden auf die Szene aufmerksam und plötzlich waren um Manjév herum noch mehr gebeugte Knie und gesenkte Häupter. Sogar Láas, Jándris und Tíjnje hatten sich den Erwachsenen angeschlossen, Der teirandanja wurde es unheimlich.
Auch Merrit Alpthopian schien nicht so recht zu wissen, was vor sich ging. Fragend blickte er die teirandanja an, fand dort keine Hilfe. Aber der bebrillte Junge tat es ihm vor: Er brach ein kleines Stück Brot ab und aß davon. Dann gab er den Rest der teirandanja zurück. Der andere folgte seinem Beispiel.
Applaus erhob sich im Saal, ebenso höflich wie herzlich. Manjév war verstört. Sie wusste nicht zu sagen, was geschah, begriff nicht, was für ein Schauspiel sie den Erwachsenen, den yarlay und den Schutzbefohlenen geboten hatte. Sicher schien es, als habe sie im Spiel ein ehrwürdiges altes Zeremoniell abgehalten, ohne davon zu wissen. Und das alles nur, weil sie zufällig Brot in der Hand gehabt und der Junge mit der Brille das offenbar irgendwie als Aufforderung zu einem seltsamen Ritual missdeutet hatte.
Die Leute wirkten …. milde amüsiert. Aus irgendeinem Grund machte ihr das Angst.
Manjév von Wijdlant errötete, drückte dem Vater das angebrochene Brot in die Hand, verneigte sich und eilte dann so schnell, dass die opayra ihr nicht folgen konnte, aus der Halle.
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