Meister Askýn erwartete die drei Rückkehrer vor dem Heiligtum, dem Etaímalon. Der alte Mann saß auf der steinernen Bank neben der Eingangstür und ließ sich die Sonne ins Gesicht scheinen. Als Meister Gíonar sich mit den Kindern näherte, blickte er sich nicht einmal zu ihnen um.

„Ich bringe euch den Ausreißer, Meister. Sie waren tatsächlich am nördlichen Waldrand.”

„Ich weiß”, sagte der Alte. „Genau deshalb empfahl ich Euch, dort nachzuschauen.”

Meister Gíonar nickte, sagte aber nichts.

„Ich danke Euch, dass Ihr Euch die Mühe gemacht habt, Meister Gíonar. Meine alten Knochen bewegen sich nicht mehr gerne so weit fort, und leider werden sie auch nicht jünger, wenn sie zu Rabenknochen werden. Und für einen alten Gaul ist der Boden zu uneben.”

„Es war mir keine Mühe, im Gegenteil. Auf diesem Weg habe ich gleich meine eigene entsprungene Schülerin einsammeln können.”

„Hast du etwas gelernt, Arámaú?”, fragte der Alte freundlich, ohne das Mädchen anzusehen.

„Ich weiß jetzt, wie Aranzien schmecken”, erklärte das Mädchen zutraulich. Vor dem Großmeister fürchtete sie sich nicht. Meister Askýn schimpfte niemals.

Meister Gíonar blickte vorwurfsvoll zu den Olivenzwiegen über sich auf und seufzte lautlos.

„Es sind Kinder, Meister Gíonar”, sagte der Alte. „Ihr wart auch einst jung und … neugierig. Ich entsinne mich gut an jene Tage.”

„Das mag ja sein, aber ich hätte es nie gewagt, gegen das Gebot der Großmeisterin allein durch den Wald zu spazieren. Nach allem, was geschehen ist…”

„Was wolltest du am Waldrand, Yalomiro?”, unterbrach der Alte den jüngeren Meister.

„Ich hatte Euch von dem fremden Baum erzählt, Meister. Und heute war mir, als seien Unkundige in der Nähe. Ich wollte wissen, was sie vorhaben.”

„Und?”

Yalomiro zögerte.

„Ich habe sie wissen lassen, dass wir sie bemerkt haben. Mehr nicht. Sie wollten ihre Geschäfte in den Wald bringen.”

Um die Mundwinkel des Alten zuckte es, ganz flüchtig.

„Meister Gíonar… es wird wohl gut sein, wenn einer von unseresgleichen zu den Unkundigen geht und sie bittet, Heimlichkeiten dieser Art zu unterlassen. Wenn sie etwas wollen, sollen sie uns fragen.”

„Ich werde jemanden auswählen, der dazu geeignet ist. Aber…”

„Ja?”

Meister Gíonar kam näher an die Bank heran und neigte sich zu Meister Askýn hinab.

„Meister, es macht mir Sorgen, dass ein Knabe in seinem dreizehnten Sommer mutwillig den Pflanzen gebietet.”

„Er ist ausgesprochen talentiert, Meister Gíonar. Manchen gelingt es früher, anderen später.”

„Ihr wisst genau, wie ich das meine. Haltet Ihr es für richtig, ihn in seinen Eitelkeiten zu bestärken? Entsinnt Ihr Euch nicht, wo das enden kann?”

Meister Askýn richtete sich unvermittelt heftig auf und öffnete die Lider. Seine Augen funkelten in leuchtendem Silber.

Der jüngere Meister wich zurück, und auch über seine Augen flammte das Leuchten.

Yalomiro und Arámaú schauten fasziniert zu. Es war ungewöhnlich, dass der Großmeister den anderen auf diese Weise zurechtwies.

„Nicht vor den Kindern”, sagte der Alte dann.

Meister Gíonars Blick klarte wieder auf und seine Augen nahmen wieder ihre gewöhnliche Farbe an. Er verneigte sich. „Ihr habt ja Recht”, räumte er ein. „Vergebt mir.”

„Dann geht nun und sucht einen Unterhändler, der sich mit den Unkundigen bespricht. Lasst die kleine Arámaú nur hier bei mir, dann müsst Ihr später nicht lange suchen. Ich achte wohl darauf, dass die beiden sich nicht wieder davonstehlen.”

Meister Gíonar warf dem Mädchen einen mahnenden Blick zu und entfernte sich dann ohne ein weiteres Wort. Als er zwischen den Bäumen verschwunden war, atmeten die Kinder auf.

„Wenn ihr das nächste Mal auf Erkundungen ausgeht”, sagte Meister Askýn, „tut es bitte nicht heimlich oder, wie in diesem Fall, sorglos. Yalomiro, du bist deinem Alter weit voraus, aber das befreit dich nicht von der Notwendigkeit, den Regeln zu gehorchen.”

„Ich wollte nicht ungehorsam sein. Ich dachte, Unkundige sind harmlos. Ich wollte sie beobachten.”

„Du hast in ihrer Gegenwart Magie gewirkt.”

„Nur ein bisschen. Der Baum war lange vor seiner Zeit, das hat der Wald selbst gemacht.”

„Meinst du das wirklich? Ist dir in all der Zeit jemals ein Baum in diesem Wald begegnet, der so schnell gewachsen wäre?”

Arámaú begriff, klatschte in die Hände und presste sie vor die Brust. „Jemand anders hat den Baum auch beschworen?”

„Möglicherweise.” Meister Askýn lehnte sich wieder zurück.

Yalomiro lächelte zaghaft. „Warum? Ich meine… Warum habt Ihr das getan?”

„Weil es meine Botschaft an die Unkundigen sein sollte. Ich dachte mir, es wäre ihnen Hinweis genug, ihren Baum in einem Sommer und Winter Frist sprießen, wachsen und welken zu sehen. Um ihnen zu zeigen, dass der Boden des Boscargén nicht gemacht ist für Menschenwerk.”

„Hat Meister Gíonar davon gewusst?”, fragte Arámaú gespannt.

„Das, mein Kind, fragst du ihn selbst.”

„Wenn er es gewusst hätte, dann wäre er nicht wegen meines Streiches so verstimmt gewesen.”

„Er war hauptsächlich deswegen verstimmt, weil ihr euch allein in Gefahr begeben habt, Yalomiro. Und ich muss ihm zustimmen – das war gefährlicher Leichtsinn von euch beiden.”

Das kleine Mädchen kam näher.

„Aber es waren doch nur Unkundige”, sagte sie treuherzig. „Unkundige können uns doch nichts anhaben.”

„Woher hast du diese Weisheit, mein Kind?”

„Von Yalomiro.”

Meister Askýn musterte den Knaben mit nun tadelnd schimmerndem Blick.

„Wenn es gefährlich wird”, verteidigte Yalomiro sich, „verwandeln wir uns eben und bringen uns in Sicherheit.”

„Es beruhigt mich”, entgegnete der Alte amüsiert, „dass du noch nicht so vermessen bist, den Kampf zu suchen.”

Yalomiro errötete.

„Aber, Yalomiro, wenn wir uns nur um die Unkundigen sorgten, die es wagen, in den Wald einzudringen, dann würde es ebenso gut ein Zaun tun, um sie fernzuhalten. Es gibt mehr Gefahren draußen im Weltenspiel, auch solche, denen mit ein wenig kindlicher Magie nicht beizukommen ist.”

„Aber selbst Meister Gíonar ist unwohl angesichts meiner Kindermagie”, sagte Yalomiro selbstsicher.

Das Schimmern in den Augen des Alten wurde heller. Der Junge erwiderte den Blick des Großmeisters nervös, aber ohne zu zucken.

Eitelkeit, Yalomiro?”, fragte Meister Askýn streng.

„Nein. Aber ich will wissen, was so schlimm daran ist, dass es einen Meister beunruhigt.”

Der Greis erhob sich und bückte sich nach seinem Stab, der neben ihm an der Wand lehnte. Der Junge kam ihm zuvor und war ihm beim Aufstehen behilflich.

„Später, Yalomiro. Deine Antwort bekommst du, wenn alle beisammen sind.”

Der Knabe verneigte sich. Meister Askýn nickte ihm zu und humpelte dann in den Palast hinein. Die Tür ließ er hinter sich offen stehen.

Arámaú spähte hinter ihm her in den langen Korridor mit den vielen Türen hinein, der sich hinter der schwarzen, hölzernen Hüttentür erstreckte. Doch der Großmeister war bereits im Schatten verschwunden.

Yalomiro seufzte. Dass sein Ungehorsam vor allen anderen zur Sprache kommen sollte, war ihm nicht recht, und bis zur Nacht war es noch ein halber Tag. Eine lange Zeit für ein Kind, um zu warten.

***

Als der Mond und die Sterne endlich am Himmel standen, versammelten die Schattensänger sich, um gemeinsam im Etaímalon, um Noktáma zu ehren. Aus allen Richtungen kamen sie herbei, die Meister in Begleitung ihrer Schüler. Alle strebten zu jenen weißen Häuschen in der Mitte des Waldes, nahe des Ufers des Schwarzen Sees zu, das der Zugang zum Zentrum ihres Reiches war.

Arámaú gesellte sich zu Yalomiro, der von ihnen allen den kürzesten Weg hatte, da er mit Meister Askýn im Heiligtum wohnte. Der Junge hatte auf der Wiese vor dem Haus auf sie gewartet. Meister Gíonar achtete nicht auf das kleine Mädchen, das jüngste Kind unter den Schattensängern. Er unterhielt sich mit einer älteren Frau, einer Meisterin, die wiederum und Begleitung ihres Schülers erschien. Der war mehrere Sommer älter als Yalomiro und genoss die Überlegenheit, die das Alter ihm bot.

„He, Yalomiro”, rief er, als er näher kam, „man hört, ihr seid ausgerissen?”

„Wir sind nicht ausgerissen, Falgrèd”, gab Yalomiro ruhig zurück. „Wir haben uns nur … umgeschaut.”

„In so einer gefährlichen Gegend, ihr Kleinen, ganz allein.” Falgrèd klopfte Yalomiro gönnerhaft auf die Schulter. „Ganz schön verwegen!”

Yalomiro zuckte die Achseln. Eigentlich wollte er nicht weiter über sein unerlaubtes Abenteuer sprechen.

„Hattet ihr denn gar keine Angst?”

„Angst? Wovor?”

Falgrèd grinste breit. „Nun, dass die Lichtwächter euch holen kommen.”

„Red keinen Unsinn. Die Rotgewandeten kommen nicht so nahe an den Wald heran.”

„Da hab ich aber ganz andere Dinge gehört. Die goala’ay [~ Lichtwächter] kommen vielleicht nicht in den Wald hinein, aber sie verbergen sich am äußeren Waldrand und lauern kleinen Schattensängerkindern auf.” Er neigte sich abrupt zu Arámaú hinab und schnitt eine Fratze. „Um sie… aufzufressen!”

Arámaú glitt hinter Yalomiros Rücken.

„Hör auf damit!”, rief sie. „Yalomiro, er soll sowas nicht sagen!”

Falgrèd tanzte um Yalomiro herum und hinter ihren Rücken. „Ja, sie kommen bei helllichtem Tag, wenn keiner mit ihnen rechnet, und wenn sie kleine unartige Schattensängermädchen zu packen bekommen, dann reißen sie ihnen das Herz heraus!”

„Falgrèd, lass das!”

Aber der ältere Junge lachte nur.

„Ihr Atem stinkt nach faulen Eiern, und sie haben riesige Hände mit Klauen, wie die Zinken einer Mistgabel, und zwar aus purem Gold! Und am liebsten verspeisen sie kleine zarte Kinder, die zu weit von ihren Meistern weggelaufen sind, und…”

„Ich hab Angst!” Die kleine Arámaú drückte sich wimmernd an Yalomiros Rücken. Der Junge wandte sich zu ihr um und nahm sie in den Arm.

„Hör auf, ihr Angst zu machen!”, sagte Yalomiro ruhig. „Was du da redest ist Unsinn.”

„Ich sage nur, wie es ist. Vorgestern hat man sogar ein Dutzend von diesen rotgewandeten Monstern gesehen, ganz nahe dem Pfad zu den Dörfern der ujoray, der Geifer triefte nur so aus ihren Mäulern, und…”

„Sei still!”

Falgrèd verstummte und wich einen Schritt zurück. Yalomiros Augen hatten kurz, nur einen Lidschlag lang, geradezu gegleißt. Nun verdunkelten sie sich wieder.

„Ist ja schon gut!”, sagte der ältere Junge und hob beschwichtigend die Hände. „War ja nur ein Scherz.”

„Für Arámaú nicht. Sie ist doch noch so klein – wie kannst du nur einen solchen Unfug erzählen?”

Der große Junge zögerte.

„Hast du denn schon mal einen gesehen?”, fragte er dann. „Einen Rotgewandeten?”

„Nein”, sagte Yalomiro. „Natürlich nicht. Und ich danke den Mächten dafür.”

„Falgrèd”, mischte sich die Meisterin ein, die den Vorfall beobachtet hatte, „manche Chaosgeister ähneln dem, was du dir da gerade vorstellst. Du bringst Dinge durcheinander.”

„Chaosgeister?”, fragte Arámaú verängstigt. „Habt Ihr denn schon Chaosgeister gesehen?”

„Sicherlich”, nickte die Meisterin. „Aber das ist lange her.”

„Können die Chaosgeister in den Boscargén hinein?” Arámaú fühlte sich sichtlich unwohl, so unvermittelt umgeben von monströsen Lichtwächtern und Ungeheuern aus dem Chaos.

„Chaosgeister kommen nur, wenn jemand sie beschwört”, tröstete Meister Gíonar. „Und es ist kein Magier im Weltenspiel, der dazu die Macht hat.”

„Nein?”

„Nein. Denn Meister Askýn hat den Stab und das ay’cha’ree in Verwahrung. Solange wir das Artefakt vor den Rotgewandeten verbergen, so lange wird niemand die Macht haben, die Chaosgeister zu rufen.”

Das Mädchen war noch nicht restlos überzeugt.

„Es ist alles in Ordnung, Arámaú”, sagte Falgrèd, dem es nun doch Leid tat, das kleine Mädchen verulkt zu haben. „Hier im Wald sind nur wir Schattensänger. Hier kommt niemand her. Keine Chaosgeister, keine Unkundigen und keine goala’ay.”

„Lasst uns hinein gehen”, sagte die Meisterin. „Es ist kalt hier im Freien.”

Sie nahm Arámaú bei der Hand und schubste mit der anderen Falgrèd an, damit er voran ginge. Sicherlich würde der große Junge sich noch einen scharfen Tadel von ihr anhören müssen.

Yalomiro wollte ihnen folgen, aber er fühlte sich zurückgehalten. Meister Gíonar hatte ihn bei der Schulter gefasst.

„Junge”, raunte der Magier, „du bist unbeherrscht.”

Yalomiro schaute ihm verwirrt ins Gesicht. „Wieso?”

Meister Gíonar wollte etwas entgegnen, überlegte es sich dann aber anders und ließ von dem Knaben ab, der verständnislos stehen blieb.

„Bitte”, wisperte der Meister. „Bitte gedenke, dass du ein Schattensänger bist. Bewahre dir deine Unschuld, Yalomiro, was immer geschieht.”

Yalomiro begrifft, was der Meister meinte. „Das war doch nicht böse gemeint, Meister Gíonar. Aber er hat Arámaú geärgert, und…”

„Du hast zu früh viel zu viel Macht. Mögen die Mächte wissen, warum sie die Magie in solcher Reinheit und Kraft dir zugeteilt haben. Gehe weise damit um, Yalomiro. Mach wenigstens du es richtig.”

Der Knabe senkte den Blick. „Ja, Meister Gíonar.”

Der Erwachsene nickte. Etwas versöhnlicher sagte er: „Wir sind alle ein wenig nervös, dieser Tage, mein Junge.”

„Ist es denn wahr, dass… dass goala’ay in der Nähe sind?”

„Ich für meinen Teil habe lange keinen mehr gesehen”, sagte Meister Gíonar. „Aber Falgrèd hat nicht ganz Unrecht. Sie haben zwar keine Klauen aus Gold, aber sie lassen sich keine Gelegenheit entgehen, Schattensängerherzen zu erbeuten. Du weißt, wieso.”

„Ja. Weil wir das ay’cha’ree vor ihnen versteckt haben. Weil sie uns ausrotten wollen.”

„Mögen die Mächte geben, dass du nie in deiner Lebenszeit einem der Rotgewandeten begegnest”, sagte Meister Gíonar. „Und nun komm. Wir sollten deinen Meister nicht zu lange warten lassen.”