
Als Galéon wieder zu sich kam, hatte er jegliches Zeitgefühl verloren. Womit auch immer man ihn betäubt hatte, es machte ihn immer noch benommen und hatte einen dumpfen, drückenden Schmerz in seinem Kopf hinterlassen. Sein ganzer Mund war erfüllt von einem metallischen Geschmack. Er verspürte instinktiv den Drang, auszuspucken, aber es lag ein Knebel zwischen seinen Zähnen, mit etwas spitzem daran, das seine Zunge niederdrückte. Galéon seufzte innerlich. Er hasste diese widerlichen Dinger. Mancherorts pflegte man damit báchorkoray zurechtzuweisen, die ein wenig zu viel erzählt hatten.
Aber was hatte er falsch gemacht? An das, was gerade – oder vor Tagen – geschehen war, hatte er keine Erinnerung. Er entsann sich nur noch an das feuchte, stinkende Tuch vor seinem Gesicht, und dann hatte die Zeit ausgesetzt.
Er war nicht allein. Ein paar Schritte von ihm entfernt hörte er Männerstimmen, gedämpft, aber nicht allzu sehr um Ruhe bemüht. Das Gespräch, das sie führten, ergab erst einen Sinn als er begriff, dass sie offenbar in ein sehr einfaches Spiel vertieft waren. Wahrscheinlich vertrieben sie sich die Zeit, während sie ihn bewachten.
Galéon blieb reglos liegen. Dass er wieder bei Bewusstsein war, mussten sie nicht zu früh bemerken. Zuerst wollte er wissen, was mit ihm geschehen war, wohin man ihn gebracht hatte.
Der báchorkor lauschte an dem halb gelangweilten, halb aufmerksamen Gemurmel der beiden Männer, sehr wahrscheinlich den Handlangern des sinor Úldaise, vorbei und probierte, ob er etwas erspüren konnte. Hinter den Stimmen nahm er zum einen gedämpfte Ruhe wahr, aber es war nicht lautlos. Eine stetige, aber sparsame Geräuschkulisse war vorhanden, noch dumpfere, entferntere Stimmen, Schritte irgendwo über ihm, ab und an war es, als würden Türen geöffnet oder geschlossen. Einmal hörte er, ganz leise und weit weg, den Gong, der die Zeit einteilte. Und das fast unhörbare Geräusch von tröpfelndem und murmelndem Wasser, gar nicht zu weit entfernt.
Seine Hände lagen in metallenen Bändern auf seinem Rücken, aber seine Füße waren frei. Unter Fingerspitzen, Knöcheln und seiner Wange spürte er einen hölzernen Untergrund. Die Luft war trocken und roch nach Holz und Stein, aber auch frisch und unverbraucht. Das passte nicht recht zu dem Wasser und nicht zu seinen Erfahrungen. Galéon war in seinem Leben oft genug in Verliesen gelandet, um zu dem Schluss zu gelangen, dass dies hier höchstwahrscheinlich kein offizieller Kerker war. Das war nicht unbedingt ein Anlass zu Erleichterung.
Galéon wagte es, ein Augenlid halb zu öffnen. Dämmriges, natürliches Licht erhellte einen runden, blitzsauberen Raum mit weiß verputzten Wänden. Es drang durch kreisförmige Fensterchen, die etwa den Durchmesser von Esstellern hatten und sich direkt unterhalb der Decke wie eine Perlenkette aneinanderreihten. Die Decke selbst war plan, aus hellen Holzplanken gefertigt und, wurde von speichenförmig angeordneten Streben gestützt. Sie befand sich nicht allzu hoch über ihm, etwa zweieinhalb Mannshöhen nur.
Galéon öffnete auch das andere Auge. Er lag auf einer hölzernen, ebenfalls kreisförmigen Plattform in der Mitte des Raumes, etwa in Hüfthöhe oberhalb des Fußbodens. Ringsum ragten einige metallene Streben auf, die über ihm in spitzem Winkel zusammenliefen. Eine Umlenkrolle baumelte dort, mit einem lockeren Seil, dessen Enden am Boden lagen.
Der báchorkor runzelte misstrauisch die Stirn. Was war das? Ein Brunnen? Wo war er hier gelandet?
Ganz an der Peripherie seines Blickfeldes sah er die beiden schrankformatigen Begleiter des alten Úldaise sitzen. Die Männer hatten sich neben einer unauffälligen Tür auf dem Boden niedergelassen. Sie vertrieben sich die Zeit damit, eine Münze zu werfen und zu raten, auf welcher Seite sie aufkommen würde. Besonders anspruchsvoll schien diese Beschäftigung nicht zu sein, aber möglicherweise waren ihnen die Gesprächsthemen ausgegangen und sie hatten nichts anderes bei sich, um sich zu zerstreuen.
Galéon überlegte. Wenn man ihn hier auf Sicht bewachen ließ, dann war dieser Ort nicht so ausbruchsicher wie es zum Beispiel die Zellen unten in der Stadt an den Marktplätzen waren. Demnach war er vermutlich ein inoffizieller Gefangener des Ratsältesten, auch wenn er sich nicht zusammenreinem konnte, welches Interesse Úldaise daran haben konnte. Schiere Antipathie rechtfertigte weder den Aufwand noch die Neugier, die sein plötzliches Verschwinden aus der Villa von sinor Saháalír wecken würde. Immerhin hätte er heute Termine mit den anderen Alten gehabt, an die sich möglicherweise noch einige von ihnen erinnern mochten. Auch dass ein báchorkor fortging, bevor man ihm seinen Lohn ausgehändigt hatte, musste dem Ratsobersten verdächtig vorkommen.
Nun, es führte kein Weg daran vorbei. Er musste herausfinden, was vor sich ging. Galéon regte sich und probierte, sich aufzusetzen, so gut es mit den gefesselten Händen ging. Dabei versuchte er, auf sich aufmerksam zu machen, was abgesehen von ein paar erstickten Lauten natürlich nicht möglich war.
Die beiden Männer warfen ihm einen wenig interessierten Blick zu. Dann warfen sie ein letztes Mal ihre Münze. Einer stand auf, vermutlich der Verlierer der Runde, und ging durch die Tür fort. Der andere wartete einen Moment und stieg dann seinerseits auf die Plattform, um den báchorkor unsanft auf die Füße zu stellen und dann mit verschränkten Armen Wache neben ihm zu beziehen.
Es dauerte nicht lange und sein Kamerad kehrte zurück, in Begleitung von Úldaise. Der sinor konnte sich nicht weit entfernt aufgehalten haben. Galéon folgerte daraus, dass man ihn innerhalb der Oberstadt verschleppt hatte, was auch die moderaten Geräusche von draußen erklärte. Unten in der geschäftigen Stadt hätte es viel mehr Lärm vor den Fenstern gegeben.
Der alte Mann trug andere Gewänder als zuvor, hatte also wohl Zeit in seinem privaten Räumen verbracht. Und er schien Beschwerden beim Laufen zu haben, humpelte etwas und musste von seinem Diener gestützt werden. Einen kurzen Moment überlegte Galéon, ob er hier wohl in Úldaises Villa war, aber dann entsann er sich, dass die Küchenmagd davon gesprochen hatte, dass der Alte irgendwo zur Miete wohnte. Er würde wohl kaum einen Gefangenen im Keller seines Hauswirtes verstecken.
Úldaise musterte Galéon mit seinem dunklen Blick. Der báchorkor hielt dem einen Augenblick stand, dann überkam ihn wieder dieses unerklärliche und sinnlose Schaudern. Es gab keinen Grund, sich vor alten Leuten zu fürchten.
„Du hast sicherlich Fragen”, brach der sinor schließlich das Schweigen. „Wahrscheinlich willst du wissen, warum du hier bist. Nun, ich wollte vermeiden, dass du verschwindest, bevor ich deine Geschichte gehört habe.”
Galéon versuchte, zu antworten. Ùldaise schnaubte abfällig, dann nickte er dem anderen Leibwächter zu, damit der den Knebel löste.
„Wenn du redest, dann nur in angemessene Lautstärke. Wenn du versuchst, zu schreien oder sonstwie laut wirst, machst du es unangenehmer für dich”, warnte der Alte. „Ich will mit dir sprechen, nichts weiter. Noch nicht.”
Galéon nickte und versuchte, seinen Kiefer soweit zu lockern, dass er wieder reden konnte.
„Wozu der Aufwand?”, fragte er dann. „Ich wäre schon nicht so schnell aus Aurópéa verschwunden.”
„Glaub mir, du hättest nichts Eiligeres zu tun gehabt, als zu verschwinden, bevor Saháalír bemerkt, dass seine kostbaren Edelsteinfiguren aus Ivaál fort sind.”
„Welche Edelsteinfiguren?”
Úldaise nickte seinem Diener zu, und der förderte aus seiner Tasche eine zierliche, fingerlange Spielfigur hervor, die aus so klarem Bergkristall gefertigt war, dass sie fast durchsichtig war. Ein Lichtstrahl reflektierte darauf. Galéon erkannte, dass das kleine Kunstwerk den jor, einen Magier darstellte.
„Diese Edelsteinfiguren. Ich schätze, du hättest in der Unterstadt einen guten Preis dafür bekommen.”
Galéon war gekränkt. In seinem ganzen Leben hatte er auch in der größten Not niemals etwas gestohlen. Dass Úldaise seine Redlichkeit beschädigte, war ein billiger und schmutziger Zug. Aber damit konnte er sich nicht aufhalten.
„Es ist nicht nötig, mich zu verschleppen, edler Herr. Ich erzähle jedem das, was er zu hören wünscht, ganz freiwillig.”
„Gut. Dann will ich wissen, was du bist.”
„Ich bin ein báchorkor. Ich heiße Galéon.”
„Ich habe nicht gefragt, wer du bist, sondern was du bist. Stell dich nicht dumm, Bursche!”
„Was ich bin?”
„Denkst du denn, mir wäre entgangen, dass du nicht das bist, was du zu sein vorgibst? Die senilen Greise des konsej kannst du leicht einlullen, aber ich bin noch lange nicht so wirr im Kopf, dass du mich so billig täuschen könntest.”
„Aber was bringt Euch dazu, mir zu unterstellen, dass ich jemanden täuschen wolle?”
„Du hast dich selbst verraten.”
„Ich verstehe nicht.”
„Wie alt bist du, Bursche? Zwanzig Sommer? Fünfundzwanzig? Sicherlich nicht mehr, nicht wahr?”
„Ich habe nie gezählt, Herr. Ihr mögt Recht haben.”
„Wie konntest du dann so getreu von dem alten Bücherpalast von Iváal wissen, von dem du dem alten Saháalír gestern Nacht so eindringlich erzählt hast? Dieses Gebäude steht seit gut siebzig Wintern nicht mehr. Sie haben die Bücher längst in ein neues, besseres Haus gelagert und das alte Gemäuer geschliffen, als der Boden darunter absank.”
„Möglich. Aber der ehrenwerte sinor wird sicherlich das alte Gebäude gekannt haben, wenn er in seiner Jugend ein maedlor in Ivaál war. Es war mir ein Anliegen, ihm für seine Großzügigkeit mit einer schönen Erinnerung zu danken.”
„Rede keinen Unfug. So bunt und anschaulich, wie du geredet hast, musst du den Palast mit eigenen Augen gesehen haben. Ich war nämlich auch eine Weile in Iváal. Vor fünfundsiebzig Sommern.”
„Das ist Unsinn, Herr, mit Verlaub. Denkt Ihr denn, ich hätte in Ivaál nicht mit Alten über die Schönheit und Ruhm ihres yarlmalón gesprochen und alte Bilder gesehen?”
„Denkst du denn, ich könnte nicht spüren, dass du mich dreist anlügst?”
„Wie, ehrenwerter Herr, sollte denn die Wahrheit aussehen? Welches Interesse sollte ich haben, jemanden über ein altes Gemäuer anzulügen?”
„Ich weiß nicht Möglicherweise willst du dir das Vertrauen von Saháalír und seinen Freunden erschleichen.”
„Was sollte mir das Vertrauen des konsej nützen, Herr? Ich bin ein heimatloser armer báchorkor. Ich habe von einer Mahlzeit und einem sicheren Schlafplatz weit mehr Nutzen als vom Vertrauen alter Leute.”
Úldaises Blick verdüsterte sich. Galéon erschien es für einen Lidschlag, als nähmen seine Augen die Farbe von flüssigem Blei an, aber sicher war das nur ein Effekt des schwindenden Abendlichtes.
„Vielleicht bist du ein Spion?”
„Ein Spion?” Nun war der bárchorkor, ungeachtet seiner Lage, amüsiert. „Für wen sollte ich spionieren?”
„Vielleicht für die, die dich für deine Dienste mit einem Unmaß an Lebenszeit belohnen?”
Galéon hob fragend die Brauen. „Wie soll das zugehen? Und wen verdächtigt ihr einer solchen Unmöglichkeit?”
„Willst du dich über mich lustig machen?”, zischte Úldaise.
„Ihr beiden”, wandte Galéon sich an die beiden Leibwächter, die schweigend dabeistanden und zuhörten, „wer von uns mag der größere Märchenerzähler sein? Ich, der ich zuweilen von Berufs wegen mit alten Menschen über die Vergangenheit rede oder Euer Herr, der mir langwährende Jugend unterstellt?”
„Na ja”, ließ sich einer der beiden hören, aber sein Partner knuffte ihn tadelnd in die Seite. Offenbar durften die zwei nicht allzu viel reden.
Úldaise beachtete seine Gehilfen nicht weiter. „Dir soll die Frechheit schon noch vergehen”, drohte er gelassen.
„Herr”, beharrte Galéon, „was immer Euch eine so wunderliche Idee eingibt, und wie sehr Ihr auch überzeugt davon sein mögt und falls etwas daran sein sollte – was habt Ihr mit mir vor? Stellt Eure Fragen und lasst mich dann meiner Wege gehen.”
„Dann leugnest du, dass die Regenbogenritter dich geschickt haben?”
Nun starrte Galéon den Ratsältesten verblüfft an. „Die Regenbogenritter?”
„Wer sonst? Hast du nicht ihren Ruhm genug gepriesen, in deiner abgeschmackten Geschichte über die Chaoskriege? Hast du nicht selbst den großen Schwur, den sie den Menschen von Aurópéa geleistet haben, infrage gestellt?”
„Macht mich meine unmaßgebliche, bescheidene und möglicherweise vorlaute Meinung gleich zum Spion der Magier?”
Der Ratsherr ächzte ärgerlich und ließ sich auf dem Rand der Plattform nieder. Offenbar wurde ihm das Stehen langsam zu anstrengend. „Je länger du es leugnest, desto verdächtiger macht es dich.”
„Und was, edler Herr, sollte ich, angenommen Ihr wäret im Recht und ich derjenige, der nicht bei Verstand ist, für die Regenbogenritter ausspionieren? Denkt ihr im Ernst, die Hellen Magier wären darauf angewiesen, einen sterblichen Menschen mit Spitzeldiensten zu betrauen?”
„Bist du sterblich?”, fragte Úldaise ruhig.
Galéon biss sich auf die Lippen. Der Ratsälteste lächelte zufrieden. „Warum zögerst du?”
„Mir missfällt die Frage, Herr. Immerhin weiß ich immer noch nicht, was ihr mit mir vorhabt. Ich habe wohl bemerkt, dass ein Menschenleben in dieser Stadt weniger wertvoll ist als an anderen Orten, die ich auf meinen Reisen sah.”
„Ach ja.” Úldaise rieb sich zerstreut den Rücken. „Nun, ich denke noch darüber nach.”
„Wenn ich denn nun ein Spion für die Regenbogenritter oder ein schäbiger Dieb auf eigenes Recht wäre, Herr … was soll dieser Aufwand? Wieso klagt Ihr mich nicht offen vor dem konsej an und lasst die edlen sinoray die Wahrheit herausfinden?”
„Vielleicht ist es einfach nicht in meinem Interesse, die edlen Damen und Herren über die Maße zu beunruhigen. Es gibt Dinge, für die sie sich in ihrem Alter nicht mehr interessieren sollten. Es könnte für so manchen zu aufregend sein.”
„Ich verstehe. Es ist Euch lieber, wenn die Mächtigen dieser Stadt sich um nichts weiter Sorgen müssen als über die Bekömmlichkeit der nächsten Mahlzeit?”
Úldaise lachte. „Für einen báchorkor bist du gar nicht so dumm.”
„Und was ist es nun, das Euch interessiert?”
„Du weißt, dass die Regenbogenritter nicht davon abgelassen haben, die Wüste zu bewachen, um jegliches Anzeichen dafür, dass die Chaosgeister zurückkehren könnten rechtzeitig zu erkennen. Das tun sie seit ewigen Zeiten, lange bevor sich die ersten Menschen in Aurópéa niedergelassen haben. Die fajía und ihre Leute sind unfassbar alt.”
„Ja”, sagte Galéon. „Aber sie sind nicht unsterblich, wie sich in der großen Schlacht zeigte.”
„Du kennst das Geheimnis ihres langen Lebens?”
„Nein.”
Der sinor schüttelte den Kopf. „Die falsche Antwort, Bursche.”
„Wenn sie ein Geheimnis haben, würden sie es kaum mit mir teilen.”
„Warst du schon einmal im Cielástel, báchorkor?”
„Nein”, antwortete Galéon wahrheitsgemäß.
Nun schaute der alte Mann skeptisch zu ihm auf. „Dann leugnest du, dass du dich bei Saháalír eingeschlichen hast, um dich davon zu überzeugen, wie es um den Rat von Aurópéa bestellt ist?”
„Das muss ich nicht erst leugnen, denn es ist Unsinn. Warum sollte ich das tun? Warum sollten Magier nicht ohnehin ohne mich davon wissen, dass die Führung der Stadt nur noch wenige Atemzüge von kompletter Senilität entfernt ist? Dass in der Unterstadt nicht nur die Sitten, sondern auch die Moral völlig aus dem Gefüge sind? Dass Aurópéa sich selbst ruinieren wird? Wieso sollten die arcaval’ay einen Spion benötigen, um all dessen gewahr zu werden? Haltet Ihr die Magier für schwachsinnig?”
„Sie brauchen Spione, weil sie sich in der Ehre und Redlichkeit ihres Schwures nicht selbst in Aurópéa herumtreiben, Bursche! Sie lassen die Stadt in Ruhe und wir scheren uns nicht um ihre Geschäfte.”
„Und weil die arcaval’ay trotz allem neugierig sind, schicken sie Eurer Meinung nach báchorkoray in die Oberstadt, um den Rat auszuspionieren? Was ist das für ein wunderlicher Verfolgungswahn?”
Úldaise hob schweigend die Hand, was einer seiner Männer zum Zeichen nahm, Galéon mit einer Hand den Mund zuzuhalten und mit dem anderen Arm zu umschlingen und festzuhalten, damit der andere ihm schwungvoll einen unfairen und sehr schmerzhaften Tritt versetzen konnte.
Der Ratsherr wartete geduldig, bis der Schmerz verebbte und der báchorkor wieder bei Atem war, bevor er weiter sprach. „Die arcaval’ay haben sich bislang an ihr Ehrenwort gehalten. Es ist nicht nötig, dass sie gerade jetzt beginnen, sich für Menschenangelegenheiten zu … interessieren. Wenn du dabei bleibst, dass du nicht von ihnen geschickt wurdest, um, sagen wir … nachzusehen, dann soll es gut sein.”
„Dann lasst Ihr mich wieder gehen?”, ächzte Galéon.
„Wo denkst du hin? Selbst wenn du tatsächlich nur zufällig gerade jetzt so nahe daran bist, dich in meine Angelegenheiten einzumischen, wäre es viel zu riskant, dich laufen zu lassen.”
„Befürchtet Ihr, ich könne jemandem von dieser seltsamen Angelegenheit erzählen?”
„Nein. Niemand würde dir glauben. Du bist ein báchorkor. Die Leute erwarten, Märchen von dir zu hören.” Er wandte sich seinen Helfern zu, mit denen er in einer sehr effizienten Zeichensprache zu kommunizieren wusste. Jedenfalls warf der eine Galéon auf die Knie, sodass er direkt neben dem Alten aufkam.
„Ich habe verstanden, dass du mit mir nicht reden willst”, sagte er. „Aber das ist gar nicht so schlimm. Ich habe meine Mittel, Dinge auch zu erfahren, ohne dass du deine Zunge anstrengen musst. Also kannst du dein Zaumzeug auch ebenso gut wieder tragen.”
Es hatte keinen Zweck, sich dagegen zu wehren. Galéon ließ es über sich ergehen, um Úldaises Knechten gar nicht erst Grund für übertriebene Brutalität zu geben, aber diesmal bekam er zusätzlich einen Riemen um Kinn und Hinterkopf. Das hieß nichts Gutes.
Dann griff der Alte mit beiden Händen nach dem Gesicht des jungen Mannes. Die dünnen Fingerspitzen legten sich eiskalt und kräftig auf Stirn, Schläfen und Wangen.
Galéon keuchte. Erneut schienen die Augen im Gesicht das Alten sich zu verflüssigen, zugleich ergoss sich etwas über seinen Geist wie Schleim, etwas, das sein Denken überzog und lähmte, als lege sich ein Schmutzfilm darüber. Es tat weh und war zugleich ekelhaft.
Der báchorkor wand sich so heftig, dass die beiden Leibwächter fest zugreifen mussten, um ihn zu halten. Es war, als tauche er in etwas Verwesendes ein, und alles, was er tun konnte, um sich zu wehren war, seinen eigenen Geist so glatt und hart zu denken wie die Oberfläche einer Glaskugel. Die Fäulnis rutschte daran ab, tropfte ins Leere und Úldaise wimmerte seinerseits auf, überrascht, angestrengt und wie es Galéon schien, sogar ein klein wenig verärgert.
Tatsächlich: Der alte Mann ließ ihn los und stieß ihn von sich, sprang behände auf von seinem Sitz am Rand der Plattform und kam augenblicklich ins Straucheln. Offenbar hatte er sich tatsächlich den Rücken verrenkt. Seine Männer kamen ihm zu Hilfe, während Galéon sich zusammenkrümmte und unsagbar schmutzig fühlte.
Einen Moment lang hörte er nur die pflichtschuldig besorgten Stimmen der Leibwächter auf den sinor einflüstern. Dann hatte der Alte wieder seine Fassung zurückgewonnen.
„Was bist du?”, fragte er, leise, gefährlich. „Es ist … etwas da, aber ich erkenne es nicht.”
Galéon blickte auf. Die Augen des sinor waren nun wieder menschlich.
„Ich verstehe. Du weißt es selbst nicht genau, nicht wahr?”, fragte der Alte. „Du kannst mir nicht antworten, weil du es nicht weißt, habe ich recht?”
Der báchorkor regte sich nicht.
„Dann lass es uns zusammen ergründen. Finden wir für den Anfang heraus, wie sterblich du bist.”
Wieder ein Wink hin zu den Leibwächtern. Der eine griff das eine Ende des Seils vom Boden, das zur Umlenkrolle zwischen den Metallstreben führte, um es an den Handfesseln zu befestigen. Der andere begann, das andere Seilende aufzurollen und über seinem Arm zu sammeln. Es war ein sehr langes, stabiles Seil. Als der endlich eine handgerechte Menge abgemessen hatte, zog er ohne Vorwarnung an.
Galéons Arme wurden hinter seinem Rücken in die Höhe gezerrt, Der báchorkor hätte gellend geschrien, hätte er seinen Mund öffnen können. Dann verloren seine Füße den Kontakt zum Boden. Während er unterhalb der Seilrolle pendelte, konnte er sehen, wie Úldaises Handlanger eine Schlaufe des Seils straff durch einen am Boden befestigten Ring legten und mit einem kurzen Rundholz sicherten. All das geschah mit einer solchen Routine, dass Galéon klar wurde, dass sie dies nicht zum ersten Mal taten.
Dann begannen die beiden, sich an der Holzplatte zu schaffen zu machen. Kurz darauf hing der junge Mann über einem dunklen Schacht mit gemauertem Rand. Ganz in der Tiefe war das Wasser nun deutlicher zu hören.
„Hier eine Geschichte für dich, da dich Historisches doch so sehr interessiert. Dieser Brunnen”, erklärte Úldaise, „wurde von den ersten Bewohnern Aurópéas angelegt. Weil der Grundwasserspiegel über die Zeiten sank, mussten sie ihn immer weiter vertiefen und in den Hügel treiben. Später wurde das Wasserproblem anders gelöst, und so ist die ursprüngliche Lebensquelle der Stadt heute nicht mehr als ein sehr tiefes Loch. Ihren Palast haben sie über dem alten Brunnen erbaut. Ein Denkmal. Etwas, das sie ihn Ehren halten wollten. Du verstehst dich auf Traditionen, wenn du doch so viele Erinnerungen gesammelt hast, oder?”
Galéon versuchte, sich irgendwie in eine angenehmere Haltung zu bringen, seine Arme zu entlasten. Dennoch hörte er dem Alten aufmerksam zu.
„Ich habe leider keine Möglichkeit, dich anderweitig unterzubringen. Aber ausgerechnet hier, unter dem Fußboden des großen Ratssaales, wird niemand auf die Idee kommen, dich zu suchen. Sie können alle nicht mehr gut Treppen steigen.”
Er schien amüsiert ob seiner Überlegenheit. Aber Galéon antwortete nur mit einem finsteren Blick.
„Es geht weit hinunter in die Erde von hier aus. Mindestens so tief, wie die Stadtmauer hoch ist, vielleicht etwas mehr. Aber keine Angst. Wir werden dich nicht bis ganz zum Boden fallen lassen, von wo wir dich nicht mehr bergen können.”
Der barchórkor schimpfte zwischen aufeinander gepressten Zähnen.
„Falls du überlebst, ohne dass es dir die Glieder zersprengt”, fuhr der sinor ungerührt zu, „solltest du nach einer Weile das Bewusstsein verlieren und spätestens gegen Sonnenaufgang hinter den Träumen angekommen sein. Wir werden morgen nach dir schauen. Es ist unwahrscheinlich, dass dich in dieser Zeit jemand zufällig hier entdeckt. Meine treuen Dienstleute hier werden die Tür im Auge behalten. Wenn wir dich später wieder heraufziehen und du noch leben solltest, werden wir unser Gespräch fortsetzen. Wenn nicht …” Der alte Mann musterte ihn mit bleiglänzenden Augen. Galéon schauderte.
„Dann muss ich mich wohl für meinen falschen Verdacht bei dir entschuldigen. Dann war es wohl mein altersseniler Verfolgungswahn und ich habe einem unschuldigen báchorkor übel mitgespielt. Nun, das kommt vor. Hast du noch etwas zu sagen?”
Galéon schnaubte panisch.
Úldaise hob wieder die Hand. Neben ihm bückte sich sein Gehilfe und zog das Holz heraus, welches das lose Seil gehalten hatte. Galéon stürzte ungebremst hinab, in eine, finstere Schwärze, bis ein heftiger Ruck den Fall stoppte und ihm zugleich Atem und Bewusstsein nahm. Über ihm schob jemand schweigend den Deckel zurück über die Brunnenöffnung.
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