
„Ich finde, er sieht nett aus”, sagte Tíjnje.
„Ein hübsches Pferd hat er.”
„Du sollst dir doch nicht sein Pferd angucken.” Das kleinere Mädchen warf der teirandanja einen vorwurfsvollen Blick zu. „Bist du denn gar nicht neugierig auf ihn?”
Manjév von Wijdlant schaute mit betont gleichgültigem Blick hinab in den Hof. Dort war am späten Nachmittag Waýreth Althopian eingetroffen, in Begleitung zweier berittener Knechte und seines Sohnes. Die Bediensteten transportierten auf ihren Pferden einige Bündel und Taschen und hatten jeweils ein Handpferd bei sich, eines davon ein feingliedriges, schneeweißes Stütchen, nicht allzu groß. Die teirandanja nahm an, dass das Tier als Geschenk für sie bestimmt war, denn sie kam in ein Alter, in dem es nicht mehr angemessen war, dass sie im Sattel ihres Vaters mitritt.
Neugierig? Natürlich war Manjév neugierig auf den Sohn des getreuen yarl Althopian. Sie war dem Jungen zuvor noch nie begegnet und fragte sich seit langem, was wohl von ihm zu halten war. Die teirandanja war vertraut mit Láas und Jándris, den Söhnen der yarlay ihrer Mutter; die beiden hatten schon früher immer wieder für einige Monde in der Burg gewohnt, während Altabete und Grootplen abwechselnd den Hofdienst versahen. Erst seit zwei Sommern verbrachten sie mehr Zeit hier als in ihren Heimatburgen, um Kampfkunst, ritterliche Manieren und Wissen zu erwerben. Die teiranda war sehr angetan von dem Eifer, den die beiden Jungen an den Tag legten und schwärmte Manjev immer wieder vor, welche vortrefflichen Ritter sie einst zu Dienstmännern haben würde.
Die Söhne der yarlay des Vaters, das wusste Manjév, waren jünger, ihre Lehrzeit am Hof ihrer teiranday würde nun erst beginnen. Die beiden fremden Kinder hatten beide erst vor kurzem ihre Mütter verloren. Das machte die teirandanja nun doch unruhiger als sie erwartet hatte. Manjév konnte sich nicht vorstellen, wie ein solcher Verlust sich anfühlen mochte, und so spürte sie eine befremdliche Mischung aus Scheu, Faszination und Neugier.
„Yarl Althopian sieht traurig aus”, sagte sie. „Schau, wie schmal und blass sein Gesicht geworden ist.”
Tíjnje kniff die Augen zusammen und lehnte sich so weit vor, dass sie mit dem Bauch auf der Fensterbank zu liegen kam. „Dein Papa guckt auch so ernst.”
Das stimmte. Asgaý von Spagor war persönlich hinunter auf den Hof gegangen, um seinen Dienstmann in Empfang zu nehmen und ihm zu gestatten, vom Pferd abzusteigen. Die Männer waren dabei, die rituellen Grußformeln auszutauschen. Danach tat der teirand etwas, das Manjév verblüffte: Er umarmte den Ritter. Das sah befremdlich aus, denn der teirand wirkte gegen den großen, breitschultrigen Recken in seinem Rüstzeug so klein, zart und zivil. Waýreth Althopian ließ es mit sich geschehen, stand mit gesenktem Blick da und wirkte beschämt.
Manjév seufzte, schaute dann zu Tíjnje hinüber und erkannte, dass das kleine Mädchen Gefahr lief, aus dem Fenster zu fallen. Rasch griff sie die Gefährtin am Schürzchen und zog sie wieder hinab. „He! Wir sollen nicht ins Fenster klettern!”
„Aber ich sehe doch nichts!”
„Und still! Die opayra muss nicht wissen, dass wir hier sind!”
Der Junge, der auf dem Hof neben seinem braunen Pferd stand und wartete, wurde auf die Mädchen im ersten Geschoss der Burg aufmerksam. Er trug eine blaue Gewandung, genau wie sein Vater, und schaute still zu ihnen hinauf. Er hatte merkwürdig helle Augen, Manjév fing seinen eisblauen Blick selbst auf die Entfernung auf und errötete. Der Junge wandte sich verlegen ab. Und die teirandanja zog sich ertappt einen Schritt vom Fenster zurück.
„Komm”, sagte sie zu Tíjnje. „Wir gehen zurück in mein Gemach, bevor der opayra auffällt, dass wir uns rausgeschlichen haben.
„Wieso hast du so ein rotes Gesicht?”
„Hab ich gar nicht.”
„Wohl! Du siehst aus wie eine Zerísie. [Rote Steinfrucht]”
„Ach!”, schnaubte Manjév ärgerlich und stolzierte würdevoll hinüber zur Tür. Die beiden Mädchen hatten sich leise aus Manjévs Kemenate entfernt und die kleine Bibliothek aufgesucht. Dieser Raum lag zum Burghof hin und war meist menschenleer. Von Manjévs Zimmer aus hätten sie nicht einen so guten Blick gehabt.
Die teirandanja zog die Tür auf, stutzte und schob sie dann vorsichtig gleich wieder zu.
„Was ist?”
„Sie kommen gerade die Treppe herauf, alle zusammen.”
„Oh weh!” Tíjnje trippelte heran, folgte dem Beispiel ihrer Herrin und legte das Ohr an die Tür. Sie hörten die Männer reden, offenbar hatten sich auch yarl Altabete und yarl Grootplen dazu gesellt. Die Mädchen verstanden keine Worte, aber sie kannten die Stimmen.
Unglücklicherweise schienen die Männer ganz in der Nähe stehen geblieben zu sein, um sich zu unterhalten.
Manjév runzelte ärgerlich die Stirn. Das passte ihr nicht in ihren Plan. Sie mussten unbedingt zurück in der Kemenate sein, bevor die Mutter, die im Audienzgemach wartete, nach ihnen schickte. Wenn der Vater sie hier herumlaufen sah, würde offenbar, dass sie schon wieder die arme opayra hereingelegt hatten.
Ein Rascheln und eine Bewegung am Fenster lenkte die Mädchen ab. Ein großer Vogel, ein Rabe mit glänzendem Gefieder, war auf der Fensterbank gelandet.
„Ach nein! Warum hast du das Fenster denn offen gelassen?”
„Ich komme doch nicht an den Riegel heran.” Das kleine Mädchen schaute ängstlich zu dem Vogel hin. Raben waren nichts Ungewöhnliches, oft kreisten welche um den Turm, aber dass einer so dreist war, auf einer Fensterbank zu landen, war seltsam. Aus der Nähe und im Vergleich zu den Kindern erschien der Vogel beängstigend groß.
„Flieg weg, du schwarzer Vogel!” Manjév ging furchtlos auf das beeindruckende Tier zu. „Verschwinde! Hier gibt es nichts für dich!” Nachdrücklich klatschte sie in die Hände, um den Raben zu verscheuchen. „Kusch dich!”
„Pst!”, zischte Tíjnje, die sich einerseits sichtlich vor dem Geschöpf mit dem kräftigen Schnabel fürchtete und andererseits verstanden hatte, dass der Weg nach draußen versperrt war. „Die hören uns sonst!”
„Und wenn der Vogel hier reinkommt und womöglich noch die Bücher und Papiere aus den Regalen wirft und verdreckt?”
„Dann nimm doch ein Pergament. Das macht Mama immer, wenn eine Fliege im Raum ist.”
Manjév schaute die Kleine begriffstutzig an. Tíjnje seufzte, entdeckte dann im Regal neben der Tür einen Stapel Pergamentrollen und zog eine davon hervor, um sie der teirandanja als Schlagwerkzeug zu reichen. Da sie allerdings nicht an die Spitze des Stapels heranreichte, brachte sie dabei einige andere Papiere zu Fall. Manjév griff im Reflex zu und fing schnell auf, was sie zu packen bekam. Gerade noch gelang es ihr zu verhindern, dass alles ins Rutschen kam.
„Sei doch vorsichtig!”
„Es war deine Idee!”
„So viel zu verheerten Regalen.”
Die Mädchen zuckten zusammen und schauten sich um. Wo gerade noch der Rabe gewesen war, saß nun ein schwarzgewandeter Mann mit einem breitkrempigen Hut im Fenster. Sein Gesicht war in dessen Schatten schwer zu erkennen, aber er schien die kleinen Mädchen interessiert zu mustern.
Tíjnje stieß erschrocken einen spitzen Schrei aus. Manjév wich einen Schritt zurück und versuchte dann, die Tür aufzureißen. Aber so sehr sie an der Klinke zerrte, bewegte die Tür sich um keinen Deut.
Der Mann lachte leise, schwang seine Beine in den Raum, erhob sich und schritt ohne Eile auf die Kinder zu.
Manjév starrte ihm entsetzt entgegen, schnappte dann das kleine Mädchen, schob es hinter ihren Rücken und breitete die Arme aus. Die Pergamentrolle hielt sie zur Abwehr erhoben.
„Zurück!”, rief sie erschrocken. „Lass uns in Ruhe! Ich rufe die Wachen!”
„Ausgezeichnet”, sagte der Eindringling amüsiert.
Die teirandanja setzte dazu an, nach den Rittern vor der Tür zu schreien, stutzte aber und besann sich. Sie ließ das Pergament in ihrer Hand sinken.
„Ausgezeichnet? Was denn?”
„Nun, Majestät, ihr habt Euch ohne zu zögern schützend vor Eure junge Schutzbefohlene gestellt, wie es Eure Aufgabe ist. Aber habt keine Angst. Ich will euch nichts zuleide tun.”
Er stand nun dicht vor den Kindern und ließ sich auf ein Knie sinken. Es wirkte allerdings nicht wie eine Ehrbekundung, sondern als wolle er mit ihnen auf Augenhöhe sein.
„Ich bin Meister Yalomiro Lagoscyre. Ihr seid im Bilde, dass Eure Eltern nach mir schickten?”
Manjév runzelte skeptisch die Stirn. „Ihr seid der gute Magier?”
„Sagen wir, ich bin ein Magier. Über das andere maße ich mir kein Urteil an.”
„Oh!” Tíjnje schaute lugte neugierig hinter Manjévs Rücken hervor. „Ist mein Papa zurück?”
„Nein, kleine yarlaranja. Aber er sollte bereits den Montazíel erreicht haben. Ich hatte es eilig und bin daher auf Flügeln gekommen. In ein paar Tagen ist auch er wieder hier.”
Tíjnje schaute einen Moment enttäuscht drein, kam aber wieder nach vorn an Manjévs Seite.
„Nun gut”, sagte die teirandanja. Dann besann sie sich und verneigte sich so höflich vor ihm, wie es sich für ein Kind schickte, das einen Erwachsenen begrüßte. „Ich hörte von Euch. Aber warum kommt Ihr nicht durch das Tor herein?”
„Majestät, es ist für meinesgleichen der schicklichste Weg, in Heimlichkeit zu erscheinen. Es ist nicht nötig, dass jemand vor Eurer Mutter und Eurem Vater von meinem Dasein erfährt. Ich nahm an, dieses Zimmer eigne sich dafür. Es war nicht meine Absicht, Euch zu erschrecken, aber dann dachte ich, die Gelegenheit sei günstig, Euch zu begrüßen.”
„Ich verstehe”, sagte Manjév verständnislos.
„Wenn ich diese Tür wieder für Euch entsperre, wäre es Euch wohl möglich, Eurer Mutter im Stillen mitzuteilen, dass ich hier auf sie warte?”
„Nur meiner Mutter?”
„Ja. Ich möchte die hochedle Dame unter vier Augen sprechen, bevor ich mich irgendjemand anderem zeige.”
Manjév nickte verwirrt. „Ich werde es ihr ausrichten. Aber wir müssen warten, bis die Herren aus dem Flur heraus sind.”
„Wir dürfen nämlich nicht hier sein”, setzte Tíjnje zutraulich hinzu. „Die opayra schimpft sonst.”
Manjév seufzte. Diese Information war ihr vor dem Fremden peinlich. Aber der Schwarzgewandete lächelte. „Nun, auf ein paar Momente wird es nicht ankommen.”
Er erhob sich, bevor die teirandanja es ihm erlaubt hatte; ein weiteres Zeichen dafür, dass er nicht allzu demütig vor ihr war. Auf eine sonderbare Weise gefiel Manjév das. Der Magier, der so unvermittelt aufgetaucht und gerade noch so sehr erschreckt hatte, übte eine ganz wunderliche Anziehungskraft auf sie aus. Seine Gegenwart war … beruhigend. Wie er da stand und interessiert über die Bücher in den Regalen schaute, wirkte er sonderbar vertraut. Sie legte die Pargamentrolle zurück ins Regal und wartete.
„Du hast einen schönen Mantel an”, sagte Tíjnje, ohne jeden Respekt. „Der glitzert!”
„Gefällt dir das?”, fragte der Erwachsene. „Magst du Glitzerdinge?”
„Oh ja”, plapperte das kleine Mädchen. „Das ist so schön anzuschauen.”
„Dann schau.” Er hob den Arm, ballte seine Faust und summte zwei, drei Töne. Als er die Finger wieder öffnete, schwebte ein silbriges Lichtgebilde darüber, so filigran wie die federigen Samen der rosafarbenen Aczarat-Blume [- löwenzahnartige Pflanze]. Er pustete sacht dagegen und ließ es in Tijnjes Richtung schweben. Das kleine Mädchen staunte mit großen Augen.
„Wenn du danach greifst, geht es kaputt”, warnte er. „Aber es folgt deiner Fingerspitze. Probier es aus.”
Tíjnje streckte zaghaft ihren kleinen Zeigefinger aus, und das Lichtgebilde schwebte darauf zu und verharrte davor. Tatsächlich folgte es der Kinderhand. Das kleine Mädchen lachte entzückt und begann, vorsichtig damit zu spielen.
Manjév beobachtete das einen Augenblick lang verwundert. Dann stellte sie fest, dass der Magier sie still ansah.
„Ist das etwa tatsächlich ein Spielzeug?”, fragte sie ihn beeindruckt.
„Das ist es tatsächlich. Meine Tochter hatte große Freude daran, als sie noch jünger war. Keine Angst. Eure kleine Gefährtin kann sich damit nicht verletzen. Es wird verlöschen wie eine Kerze.”
„Wie macht Ihr das?”
„Das lässt sich Unkundigen nicht gut erklären. Es ist Spielerei.”
„Kann Eure Tochter das auch?”
„Wieso fragt Ihr?”
„Weil Ihr sagtet, sie hatte Freude daran. Ich dachte, sie habe selbst gelernt, wie es geht, und fände es nicht mehr interessant.”
Der Magier betrachtete das Mädchen unverwandt, antwortete aber nicht. Tíjnje war abgelenkt und dirigierte das zerbrechliche Zauberlicht achtsam durch den Raum. Manjévs Anwesenheit schien sie gänzlich vergessen zu haben.
„Ihr habt wichtigere Fragen, Majestät. Jetzt wäre die Gelegenheit dazu!”
Sie zögerte. Wenn er auch so freundlich wirkte, immerhin war er einfach so in der Burg aufgetaucht und machte ein Geheimnis daraus. Andererseits: die Mutter vertraute ihm, sonst hätte sie nicht nach ihm schicken lassen. Und .. er sprach mit ihr, als sei sie erwachsen. Natürlich, das taten (abgesehen von der opayra, die sie offensichtlich immer noch für ein Wiegenkind hielt) die yarlay und das Burggesinde auch. Niemand hätte sich angemaßt, die teirandanja von oben herab zu behandeln. Aber bei den Dienstleuten und Schutzbefohlenen war das etwas anderes. Die gaben sich Mühe, so zu tun, als sei sie kein Kind und wichen ihr aus, wo sie konnten. Der hier, der unheimliche Eindringling in schwarzen Gewändern, der Spielzeug für Kinder aus Licht machen und sich in einen Raben verwandeln konnte … der nahm sie ernst.
„Wovor haben meine Eltern solche Angst?”, fragte sie.
„Das darf ich Euch nicht verbindlich beantworten, bevor ich mit Eurer Mutter geredet habe.”
„Ich verstehe”, seufzte Manjév.
„Aber ich glaube, sie fürchten darum, dass der Frieden in ihrem teirandon enden könnte.”
„Der Frieden?”
„Wisst Ihr, was Krieg ist, Majestät?”
Sie schauderte. Sie hatte nicht die Worte, um ihm zu antworten, denn alles, was sie über Kriege wusste, war ihr so fern, so unverständlich. Sie hatte davon reden hören, manchmal das eine oder andere von báchorkoray aufgeschnappt, wenn sie sich heimlich am späten Abend in der Halle versteckt hatte, um die Geschichten zu hören, die Erwachsene einander erzählten.
„Das ist”, erklärte sie unbeholfen, „als wenn yarlay miteinander kämpfen, aber nicht aus Spaß oder um ein Turnier zu gewinnen, sondern weil sie richtig wütend aufeinander sind. Wenn sie einander wehtun wollen.”
„In der Regel”, sagte der Magier, „befehlen sie ihren Schutzbefohlenen, dasselbe mit denen des anderen zu tun. Am Ende geraten viele Leute hinter die Träume, und viele Dinge gehen kaputt. Wer übrig ist nimmt das, was der andere nicht mehr braucht. Manchmal sind es Dinge, die andere von vorherein haben wollten. Dann reicht die Wut, es selbst nicht zu haben, um es erreichbar zu machen.”
„Aber was haben denn die Schutzbefohlenen mit der Wut ihres Herrn zu tun? Man kann doch nicht seinen Knechten befehlen, gegen Leute zu kämpfen, weil man selbst etwas haben will!”
„Nicht?”
„Nein. Ich würde zum Beispiel nie Jándris sagen, er solle Láas verprügeln.”
„Mögen die Mächte geben, dass Ihr niemals solche Weisungen erteilen müsst.”
„Ganz bestimmt nicht!”
„Wisst ihr, warum Ihr Euch etwas so ungeheuerliches nicht recht vorstellen könnt, Majestät?”
„Nein.”
„Weil niemand es wagen würde, Eure yarlay herauszufordern. Weil weise und verständige Menschen über Generationen nach Wegen gesucht haben, die Verheerung enden zu lassen. Lasst Euch einmal von einem der Herren über das Wesen seines Amtes aufklären und duldet nicht, wenn er Euch dabei ausweicht.”
„Aber wer könnte denn wütend auf unsere yarlay sein?”, fragte Manjév leise, während Tíjnje ganz versunken in ihr Spiel war.
„Vielleicht niemand, Majestät. Aber ich bin sicher, Eure Eltern möchten nicht, dass eines Tages jemand seine Wut … ausprobiert. Und ganz sicher wollen sie auch nicht, dass ausgerechnet ich Eurem Vater diese Geschichten vorwegnehme. Habe ich Euch jetzt Angst gemacht?”
Sie nickte, während ihre Gedanken umher stürzten wie die Bauklötze, mit denen Tíjnje manchmal noch spielte. Niemals hatte sie darüber nachgedacht, dass ihre behütete Welt in Bedrängnis geraten könnte. „Ein wenig.”
„Sehr gut.” Er lächelte. „Somit werdet Ihr achtsam sein und Euch nicht überraschen lassen.”
„Ich will nicht, dass Leute böse aufeinander sind und alles zerschlagen.”
„Majestät, wahrscheinlich müsst ihr Euch nicht fürchten, nicht vor denen, die redlich sind und sich an die Schwüre halten, die die Unkundigen einander vor weit mehr als hundert Sommern gegeben haben. Auf die anderen … nun, ich verspreche Euch, ich werde ein Auge darauf behalten, was kommen könnte. Beruhigt Euch das?”
„So wie ein yarl?”
„Nein. Meinesgleichen taugt nicht zum Dienstmann. Ihr werdet mir niemals etwas befehlen können wie Euren Rittern. Sagen wir daher … wie ein Freund. Mögt Ihr mir eine Freundin sein, Manjév von Wijdlant und Spagor? Es mag sein, dass sich Eure Wege, die meiner Familie und die meinen öfter kreuzen, als Ihr es heute denken mögt.”
Sie nickte ihm vorsichtig zu.
„Erlaubt Ihr mir dann wohl eine kleine Verwegenheit? Nichts, was Ihr Euren Eltern und Freunden nicht täglich ebenfalls vergönnt.”
Sie runzelte fragend die Stirn. Er kniete sich erneut vor sie hin.
„Lasst mich bitte in Eure Augen schauen. Falls Euch das Unbehagen bereitet, weil ihr seltsame Geschichten über den Blick eines Schattensängers gehört habt: Euch kann nichts geschehen, solange Ihr ein Kind seid. Ihr werdet nichts spüren. Ich muss Euch nur warnen: Meine Augenfarbe ist etwas sonderbar.”
Sie lächelte erleichtert. „Zeigt her. Das will ich sehen.”
Er schob sich den Hut aus der Stirn. Seine Augen waren dunkel und glitzerten silbrig wie das magische Spielzeug, hinter dem Tíjnje andächtig um sie und ihn herumging. Manjév stutzte, aber sie tat überlegen, als sei das etwas, das sie nicht verwunderte.
„Darf ich fragen, was Ihr da tut?”
„Natürlich. Ich suche Antworten auf Fragen, die Ihr mir noch nicht mit Worten geben könnt.” Er schaute sie noch einem Moment länger an und stand dann wieder auf. „Ihr seid in vielen Dingen meiner geliebten Tochter sehr ähnlich, Majestät. Behütet diese Tugenden wie einen großen Schatz und lasst nicht zu, dass er verdorben wird.”
„Ich … nun, ich bin nicht immer artig und gehorsam”, gab sie zu. „Aber ich will immer den Mächten gefällig sein.”
„Gut. Dann sagt mir nun, ob diese Tür immer noch blockiert ist, weil die Herren dort Wurzeln geschlagen haben.”
Manjév wendete sich ab und drückte vorsichtig auf die Klinke. Die Tür ließ sich öffnen wie immer. Die teirandanja lugte auf den Gang hinaus.
„Die Luft ist wieder rein”, verkündete sie dann, aber als sie sich wieder umdrehte, sah sie Tíjnje, die verdutzt und enttäuscht ihren Finger anstarrte. Das Lichtgebilde war ebenso fort wie der Magier. Stattdessen saß nun wieder der Rabe am Fenster.
Auf dem Hof schien ein neuer Besucher eingetroffen zu sein, Stimmen klangen und der Tritt mehrerer Pferde.
Die teirandanja ging hinüber und schaute hinaus. Tíjnje besann sich, schüttete sich, als sei sie gerade aufgewacht und lief rasch ebenfalls hin.
„Das ist yarl Emberbey”, sagte Manjév.
„Den mag ich nicht”, vertraute Tíjnje dem Raben zutraulich an. Dass der unheimliche Besucher nach Belieben zum Tier werden konnte, nahm die Kleine ohne Verwundern hin. Das war in Märchen eben so. „Der guckt immer so böse.”
„Der ist nicht böse, Tíjnje. Der ist nur nicht so freundlich wie dein Papa. Ich glaube, er findet Kinder anstrengend.”
Die Mädchen schauten zu, wie der alte yarl von Asgaý von Spagor begrüßt wurde. Der teirand rannte eilig zu den Pferden hinüber. Es sah fast aus, als wolle er dem betagten Ritter beim Absteigen behilflich sein oder zumindest schnell zugreifen können, falls er strauchelte. Aber Alsgör Emberbey schaffte es allein, wenn auch bedacht auf die Füße. Dann umarmten sich der Monarch und sein Dienstmann.
Der Junge, der ungelenk auf einem struppigen gescheckten Pferdchen saß, kletterte wesentlich ungeschickter aus dem Sattel. Ganz offensichtlich war er kein erfahrener Reiter.
„Ist das etwa der Sohn von Herrn Alsgör?”, fragte Tíjnje gedehnt.
„Sieht so aus.”
„Was hat der denn da im Gesicht?”
„Ich glaube, das ist sowas wie ein Teleskop, nur viel kleiner. Damit kann er Sachen sehen, die weit weg sind.”
„Das ist aber komisch”, kicherte das kleine Mädchen. „Das muss doch drücken auf der Nase.”
Der Rabe streckte er den Schnabel vor.
„Er sieht so ernst und traurig aus”, sagte die teirandanja befremdet. „Und wie groß und dünn er ist.”
Tíjnje betrachtete den fremden Jungen kritisch. Der war zwischenzeitlich auf den Vogel und die beiden Mädchen aufmerksam geworden. Rasch zogen die beiden die Köpfe wieder ein.
„Jedenfalls”, fügte das kleine Mädchen hinzu, „sieht er netter aus als Herr Alsgör. Aber Láas wirft ihn sofort um, wenn sie miteinander raufen.”
Der Rabe flatterte zurück ins Zimmer und auf das Schreibpult an der Wand. Auffordernd schaute er zur Tür. Manjév begriff und fasste die Spielgefährtin bei der Hand. „Komm! Bevor sie die Treppe herauf kommen. Wir müssen schnell zu meiner Mama.” Und an den Raben gewandt, fügte sie hinzu: „Ich schicke sie her. Sie kommt, so schnell, wie sie kann. Fliegt nicht weg! Ich habe noch so viele Fragen.”
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