
Als Noktámas Juwelen gänzlich verblasst waren, aber noch bevor Pataghíus Glanz das Weltenspiel gänzlich erhellte, hatten sie die Burg weit genug hinter sich gelassen. Das graue Streitross hatte, wie Galéon es geplant hatte, brav in dem Waldstreifen am Rande der Salzgrasebene gewartet und ihn und das kleine Mädchen brav und schnell weiter nach Süden getragen, allerdings querfeldein. Durch die Dörfer zu reiten, die sich am Rand der großen Weide wie ein gebrochener Ring um die Landzunge mit der Bucht schlossen, das wäre zu riskant gewesen. Er war ohnehin schon zu weit von seinem ursprünglichen Plan abgewichen.
Nun ging er neben dem Pferd her und führte es am Zügel. Er hatte dem Kind den Sattel überlassen, wo Raýneta Emberbey sich bäuchlings ausgestreckt hatte. Ihr zerknülltes, halb genähtes Kleidchen und der ausgestopfte Lämmerbalg stützten ihre Brust. Der báchorkor hatte seinen Mantel wie eine zerschlissene, aber leidlich wärmende Decke über sie gebreitet und schob das Kind ab und zu behutsam zurecht, wenn es im Schlaf abzugleiten drohte. Dass sie unter diesen Umständen und in dieser Position überhaupt schlief, bewirkte ein sanfter Zauber, den er mit seinem wundersamen Märchen über die Samtblütenweber gewirkt hatte. Den wollte er so lange als möglich aufrechterhalten. Es würde anstrengend genug werden, Raýneta Emberbey zu beruhigen und zu trösten, sobald sie erwachte, begreifen würde, dass sie zuvor nicht geträumt hatte und sie ihren geliebten Vater nicht wiedersehen würde. Nicht auf dieser Seite der Träume.
Das Traumphantom ging nun neben ihm. Galéon wusste gar nicht so genau zu sagen, wie lange die Gestalt ihn bereits begleitete, denn sie hatte noch nicht zu ihm gesprochen. Der geisterhafte Blick des Körperlosen lag nachdenklich auf dem schlafenden Kind, Galéon war sich nicht so sicher, ob er für seine Entscheidung Tadel oder Lob ernten würde, Aber das war einerlei. In seinem Herzen fühlte es sich richtig an, wie es geschehen war. Doch war das nicht nebensächlich, beiläufige Menschenangelegenheiten angesichts dessen, was sich ihm nun offenbart hatte und sich ganz bestimmt nicht mit schnödem menschlichen Ränkespielen erklären ließ?
Du verlierst Zeit, sagte das Traumphantom endlich.
„Die hole ich wohl schnell genug wieder auf.”
Und du riskierst es, dass dich jemand … aufhält.
„Warum sollte jemand sich einem wie mir in den Weg stellen?”
Vielleicht, weil sie mit jedem Herzschlag, den du vertrödelst, einen dringlicheren Grund dafür bekommen. Während du das Mädchen nach Althopian bringst, statt schnurstracks auf schnellstem Wege nach Wijdlant zu eilen, wird dich die Kunde von deinem Diebesgut überholen. Sie werden Ausschau halten nach einem leichtsinnigen báchorkor, der den alten Emberbey bestohlen hat. Dieser Venghiár Emberbey hat sicher schon seine Leute ausgeschickt und eine verlockende Belohnung ausgesetzt.
Galéon zuckte die Achseln. Der ursprüngliche Plan hatte vorgesehen, von Emberbey aus nach Westen, zur Burg des teirandon Spagor und darüber hinaus nach Virhavét zu eilen. Vier Tagesmärsche wären das gewesen. Von dort aus wäre Galéon per Boot auf dem Rífluír bis nach Altabete gereist, relativ sicher und schnell auf dem Wasser. Alsgör Emberbeys Amtskette musste, so schnell wie möglich, in die Hände von Asgaý von Spagor gelangen.
Nun, solange Venghiár Emberbey sie nicht hatte, war alles in Ordnung. Dass der mit seiner Tat alles nun noch viel komplizierter gemacht hatte, als es ohnehin schon war, war schlimm genug.
„Ich werde nicht allzu lange trödeln”, versicherte Galéon. „Aber das Mädchen muss zuerst in Sicherheit sein. Waýreth Althopian ist der einzige Mensch, der für Alsgör Emberbey jemals so etwas wie ein echter Freund war. Es wird ihm Ehre und Anliegen sein, die kleine yarlaranda sicher nach Wijdlant zu ihrem Bruder zu bringen.”
Waýreth Althopian darf nicht erfahren, was tatsächlich geschehen ist.
„Nicht von mir. Ich weiß. Aber die Kleine ist ja nun nicht blind und taub.”
Du hast ihr gesagt, dass du es getan hast. Wie willst du es ihr erklären? Willst du dich ihr etwa offenbaren?
„Das werde ich entscheiden, wie die Mächte es fügen. Solange sie mich nicht ausfragt, werde ich mich wohl herausreden können.”
Du machst es dir schwerer als nötig.
„Mag ja sein. Aber zumindest hat Venghiár Emberbey kein Blut an seinen Händen. Nun … noch nicht. Und das Kind ist in Sicherheit.”
Das Traumphantom seufzte. Galéon schaute unverwandt zu ihm hinüber. „Ich weiß von noch einem, den einmal das Schicksal eines Kindes nicht ungerührt ließ.”
Ich will dir deine Fürsorge für das kleine Mädchen nicht absprechen. Aber es macht mir Sorgen, was daraus erwachsen kann.
Noch immer war kein Wort zu der Ungeheuerlichkeit gefallen. Nun, vielleicht musste Galéon selbst das Traumphantom auf das Unsagbare ansprechen.
„Was will der Schwarze Meister hier? Wo kommt er her? Und was hat er mit Venghiár Emberbey zu schaffen?”
Woher er kommt? Aus welchem Versteck auch immer, in dem er sich vor der Zeit hat verkriechen können. Mit welcher List auch immer er sich vor unseresgleichen und dem Licht selbst verbergen konnte.
„Es ist mehrere Menschenleben her, dass er im Weltenspiel so viel Leid und Unfrieden gebracht hat.”
Es hat ihn niemand hinter die Träume gehen sehen.
„Ovidáol Etaímalar, der Verfluchte Schattensänger, hat sich auch am Licht vorbeigemogelt.”
Der Schwarze Meister hat aber keine Menschenkörper gebraucht, um sich zu erhalten. Er hat einen anderen, viel schrecklicheren Weg gewählt. Und niemand hat es gewagt, sich ihm in den Weg zu stellen.
Oh. Wusste das Traumphantom mehr, als es gewillt war, ihm zu verraten?
„Ich nehme an, du willst mich im Unklaren lassen?”
Ich halte dich nicht davon ab, die Wahrheit herauszufinden. Aber noch bist du nicht so weit, die Geheimnisse zu erfahren. Ich darf dir nicht alles sagen. Das war meine Geschichte. Du musst dir zunächst deine eigene erzählen. Vorsicht, das Kind!
Galéon schob Raýnetas Körper behutsam wieder zurück auf den Sattel. Das Mädchen murmelte vor sich hin. Unverwandt schaute der junge Mann zu seinem geheimnisvollen Mentor hinüber.
„Ich weiß, welches Leid er dir bereitet hat”, sagte er sanft. Aber das Traumphantom schien nicht gewillt, weiter ins Detail zu gehen. Wer wusste schon, welche Schweigegebote das Licht ihm auferlegt hatte. Galéon hatte noch so viel zu lernen.
Du kannst es nicht ungeschehen machen. Aber nun bist du auch in Gefahr. Nicht allein durch Venghiár Emberbey und diese Machtspielchen, in die ihn die Herren von Ferocrivé und Rodekliv eingespannt haben. Sobald der Schwarze Meister herausfindet, wer, oder vielmehr: Was du bist, wird er nicht eher ruhen, als dass er dich zur Strecke gebracht hat.
„Was soll ich tun? Nachdem ich das Kind in Sicherheit zurück zu vertrauenswürdigen Unkundigen gebracht habe?”
Du siehst zu, dass du so schnell wie möglich die Amtsinsignie zurück zu den teiranday bringst. Und dann solltest du dafür sorgen, dass die Schattensänger im Boscargén so schnell wie möglich von dem erfahren, was hier passiert ist.
„Du willst die Schattensänger in diese Sache hineinziehen?”
Das Traumphantom zögerte. Es schien Überwindung zu kosten, es auszusprechen.
Wenn es jemanden gibt, der dem Schwarzen Meister im Weltenspiel ebenbürtig ist, dann ist es kein anderer als Yalomiro Lagoscyre. Es ist unvermeidlich, dass beide früher oder später einander gegenüberstehen. Ihresgleichen. Es wird entsetzlich enden, für beide. Und möglicherweise auch für uns.
„Wie meinst du das?”
Der Körperlose brauchte eine Weile, um die richtigen Worte zu finden. Galéon wartete geduldig. Er kannte die Geschichte seines Mentors aus der Welt zwischen dem Weltenspiel und der Welt hinter den Träumen, soweit es dessen eigene Lebensspanne, sein Wirken im Weltenspiel betraf. Er wusste, wie der Schwarze Meister den mächtigen Rotgewandeten verführt, gepeinigt und gebrochen hatte. Der Schwarze Meister, ein Schattensänger, dessen Schuld, dessen Verrat an Noktáma, der eigenen Schutzmacht so immens war, dass seinesgleichen keinen anderen Rat gewusst hatte, als ihn zu verstoßen und seinen Namen zu tilgen.
Unseresgleichen, sagte das Traumphantom, ist machtlos gegen den Schwarzen Meister, solange wir nicht wissen, welche Pläne er verfolgt. Offensichtlich ist, dass er erneut das versucht, was er anfangs getan hat. Er kämpft nicht mit Magie. Er kämpft mit Menschen. Venghiár Emberbey ist vielleicht das erste, das einfachste und doch effektivste seiner neuen Opfer.
„Opfer?”
Das Traumphantom lächelte freudlos. Hältst du diesen verführten jungen Emporkömmling jenseits aller kindischen Machtphantasien und aufgestauter Wut für gefährlich?
„Menschen sind gefährlich.”
Für andere Menschen.
„Reicht das etwa nicht aus? Wenn die yarlay in Ferocrivé und Rodekliv den jungen Mann irgendwie dazu benutzen, die Macht in Emberbey zu ergreifen, indem er seine Verwandten aus dem Weg räumt, ist doch recht offensichtlich, was sie im Schilde führen.”
Tatsächlich?
„Das vasposár von Manjév von Wijdlant und Spagor steht unmittelbar bevor. Der junge Osse Emberbey wird bei dieser Gelegenheit die Nachfolge seines Vaters antreten. Venghiár Emberbey wird versuchen, das zu vereiteln. In Rodekliv und Ferocrivé kann es nicht von Interesse sein, dass die Familie Emberbey ihre Macht in Wijdlant noch mehr festigt. Hätten sie einen Verbündeten, wäre das sicher eine feine Sache.”
Was du nicht sagst. Das Traumphantom wirkte milde amüsiert.
„Wahrscheinlich war das auch der Grund für Venghiár Emberbeys Abwesenheit. Vielleicht ist sein Plan aus irgendeinem Grund misslungen. Oder er hat sich auch halbem Weg anders besonnen und ist umgekehrt.”
Der Schwarze Meister hat ihn unterwegs eingesammelt, versetzte das Traumphantom.
„Eingesammelt?”
Kennst du diese menschliche Eigenheit, beim Spiel zu schummeln? In einem unbewachten Moment beim Steinespiel einen unbemerkt auf ein anderes Feld zu rücken, auf eine Position, die mehr Erfolg verspricht?
„Welches Interesse hätte der Schwarze Meister, sich in das Machtgefüge von Wijdlant einzumischen? Wenn der Namenlose tatsächlich so mächtig ist, dass nur ein anderer Schattensänger ihn bändigen kann, dann sind diese Ritterspiele rund um die teirandanja aus seiner Sicht doch, nun … Kindereien.”
Das kommt darauf an, was das Ziel ist. Dass er so plötzlich aus dem Nichts zurückkehrt, ist so oder so nicht gut. Venghiár Emberbey und dessen Ambitionen passen ihm wohl gut in den Plan. Und doch ist der junge Mann nicht mehr als ein Schwert in seiner Hand. Was sage ich – nicht mehr als ein Stock, den er am Wegesrand aufliest und benutzen wird, solange er nichts Besseres zur Hand hat.
Galéon dachte einen Moment lang nach. „Und was könnte er wollen? Was will er hier und jetzt?”
Ich weiß es nicht. Ich habe nie verstanden, was ihn bewegt und angezogen hat. Macht? Ehrgeiz? Amüsement? Was immer er im Sinn hatte, es war etwas anderes, als man von den Schwarzmänteln erwartet hätte. Was unseresgleichen von ihnen erwartet hätte. Und die fajíaé und arcaval’ay schon gar nicht.
Galéon warf einen nachdenklichen Blick auf das Kind. Wie friedlich, wie erschöpft die Kleine schlief. Wie würde es werden, wenn sie aufwachte? Er seufzte. Solange sie bei ihm war, gab es keine Möglichkeit, ihre Reise zu verkürzen. Aber bis sie die Grenze nach Althopian erreichten, würde es mindestens zwei Tage dauern. Vielleicht etwas weniger, wenn er das große graue Kampfross später irgendwie zumindest zeitweise zum Galopp bringen konnte.
„Soll ich dann nicht besser direkt über den Montazíel in den Boscargén reisen und Meister Yalomiro und die seinen warnen?”
Nein. Das dauert viel zu lange. Außerdem wird Yalomiro Lagoscyre sich vielleicht gar nicht mehr im Etaímalon aufhalten, bis du dort wärest. Es würde mich wundern, wenn er nicht seinerseits auf dem Weg zum vasposár wäre.
„Warum?”
Nun lachte das Traumphantom auf. Yalomiro Lagoscyre interessiert sich ebenso sehr für Unkundige wie der Schwarze Meister. Der entscheidende Unterschied ist, dass seine Faszination für die Unkundigen auf einem gewissen Wohlwollen gründet. Das Schicksal von Manjév von Wijdlant und Spagor beschäftigt ihn. Für den Schwarzen Meister jedoch sind Menschen nicht mehr als Spielzeug.
„Also übergebe ich die kleine yarlaranda so schnell wie möglich in die Obhut von Waýreth Althopian, reise so schnell wie möglich nach Wijdlant, ohne mich um das zu kümmern, was der Tod von Alsgör Emberbey hinter mir für eine Welle an Wirrnissen auslöst, gebe die Kette weiter und warte darauf, dass die Schattensänger auf diesem Fest auftauchen?”
Du wärest schon auf halbem Weg dorthin, wenn du sofort nach Virhavét gegangen wärest.
„Dann wäre das kleine Mädchen nun hinter den Träumen.”
Nun, wer weiß, ob das sich nicht zum Vorteil wenden wird.
„Mit wem redest du da?”, murmelte Raýneta Emberbey schlaftrunken, und das Traumphantom verwischte wie ein flüchtiger Gedanke.
„Es ist nichts”, sagte Galéon rasch und legte seine Hand auf ihre Schulter, um sie zu beschwichtigen. Vorsichtig legte er einen Hauch von Magie über sie. „Es ist alles in Ordnung.”
„Gar nichts ist in Ordnung”, sagte sie und versuchte, sich aufzusetzen. Das feine Tuch und das Kuscheltier drohten, dabei herunterzufallen, aber Galéon griff rasch zu.
„Nein”, stimmte er zu. „Du hast recht.”
Sie schauderte. Aber irgendwie gelang es ihr, den Schmerz zu zügeln, der sie sicherlich überkam, während sie zu akzeptieren hatte, dass sie nicht in ihrem hübschen Bettchen aufwachte, sondern in einem klammen, herbstmorgengrauenkalten Wald, und nun ein Waisenkind war.
„Du hast das Recht, viele Fragen zu stellen”, kam er ihr zuvor. „Aber es wäre mir lieb, wenn du dich mit dem Notwendigen zufrieden geben würdest, bis wir in Sicherheit sind.”
„Du bist ein Magier”, unterstellte. „Wie in den ganz alten Geschichten und Büchern und Bildern. Du hast irgendwie gemacht, dass der Pfeil dich nicht getötet hat.”
„Das ist richtig. Vögelchen … weißt du, was ein goala’ay, ein Rotgewandeter ist?”
„Nein. Von denen hat meine opayra nie gesprochen.”
„Das ist gut.” Er warf ihr einen aufmunternden Blick zu. „Du musst keine Angst vor mir haben, Vögelchen. Ich bin auf deiner Seite.”
„Warum hast du nicht sofort gesagt, dass du ein Magier bist? Warum bist du als báchorkor verkleidet und hast dich in die Burg schleichen wollen?”
„Ich bin nicht verkleidet. Ich bin ein báchorkor. Und ich bin nicht geschlichen. Ich habe am Tor vorgesprochen, wie es die Höflichkeit erfordert.”
„Mein Vater ist hinter den Träumen”, sagte Raýneta und krallte ihre Hände in Tuch und Kuscheltier. „Du warst das.”
„Ja. Aber nicht so, wie du dir das vorstellst. Ich habe ihn nicht umgebracht. Seine Tage waren einfach aufgebraucht.”
„Hast du das gewusst, als du an unser Tor gekommen bist?”
„Ja.”
„Woher? Wer hat dir das gesagt?”
„Das, kleines Vögelchen, ist etwas, das ich dir nicht erklären kann.”
„Und was hast du mit meinem Vater gemacht?”
„Ich war bei ihm. Nicht mehr und nicht weniger.”
Sie schaute eine Weile mit trübem Blick vor sich hin. Galéon beobachtete sie unverwandt. Die Beherrschung des kleinen Mädchens beeindruckte ihn, vermochte aber den Seelenschmerz darunter nicht zu verbergen.
„Dann hat Venghiár meinen Vater also nicht getötet”, stellte sie fest, versuchte, die Verwirrung der vergangenen Nacht zu ordnen.
„Nein. Aber das war Zufall. Dich hätte es nicht gerettet, wenn du nicht auf mich gehört hättest und mir gefolgt wärest. Warum sonst hätte er mit einem Bogen in dein Zimmer laufen sollen?”
Sie grübelte.
„Warum?”, fragte sie dann. „Ich meine, ich habe ihm doch gar nichts getan. Wenn er im Haus ist, versuche ich immer, ihm aus dem Weg zu gehen. Und wenn wir doch einmal zusammen sind, spricht er kaum mit mir.”
„Du bist die Tochter deines Vaters. Mehr braucht es nicht.”
„Ich will zu meinem Bruder”, sagte sie kläglich. „Und zu meiner Schwester. Ich hab Angst.”
Galéon führte das Pferd zu einem nahe gelegenen umgestürzten Baumstamm. Damit wurde es ihm leichter, selbst in den Sattel zu steigen. Das Pferd war brav und ließ es geschehen. Die Last des Kindes und des schmächtigen Mannes war geringer als die eines Ritters in Eisenzeug. Es kannte den Weg.
„Wenn wir uns beeilen”, versprach er, „sind wir bald auf dem Land von Waýreth Althopian. Dort kannst du dich ausruhen.”
***
In der Burg auf der Klippe über der Bucht herrschte Trauer. Die Burgbewohner hatten den Leichnam von Alsgör Emberbey aus dem blutbesudelten Bett geborgen. Währenddessen hatten Venghiár und seine Leute Steinwurf für Steinwurf und völlig vergebens die Salzkrautebene nach dem báchorkor, der kleinen yarlaranda und dem gestohlenen Pferd durchsucht.
An dem seltsamen Besucher, den Venghiár Emberbey von seiner Reise mitgebracht hatte, nahm von den anderen niemand Anstoß. Als der Schwarzgewandete den jungen Mann mitsamt seinem Ross aus seinem Bann entlassen und sie beide zum Suchtrupp gestoßen waren, hatte keiner der Männer überflüssige Fragen gestellt. Der Schwarzmantel hatte sich ungefragt als alten Bekannten von Venghiár vorgestellt und ihnen angeboten, bei der Suche behilflich zu sein. Hinterfragt hatte das niemand, und Venghiár hatte keine Gegenrede gewagt. Aber so sehr sie sich auch mühten, Gesträuch und hohes Gras mit Spießen durchstocherten und die Schaf- und Ziegenherden in der Morgensonne zum stummen Missfallen der verwirrten Hirten in Unordnung brachten – es war nichts zu finden.
„Nie im Leben”, hatte Venghiár Emberbey geknurrt, als sie ihre Suche sogar durch die angrenzenden Wäldchen ausgeweitet hatten, „ist die kleine Kröte heil und im Sattel entwischt! Sie kann doch unmöglich fort sein!”
„Wie schlau ist die Kleine?”, hatte der Schwarzgewandete gefragt. „Wird sie im Zweifel zur Burg zurückkehren, wenn das Pferd davongelaufen ist und sie sich fürchtet?”
„Dann hätten wir sie längst finden müssen! Und den báchorkor auch.”
„Ich fürchte, wir werden hier weder einen toten báchorkor noch ein orientierungsloses Kind finden. Und das Pferd ist vermutlich auch verloren.”
Venghiár Emberbey seufzte entnervt. „Den Gaul mögen die Wildwölfe hole und das Balg gleich dazu. Aber wie, bei allen Chaosgeistern, kann sich eine Leiche in Luft auflösen? Und das in so kurzer Zeit?”
„Er hat sich nicht in Luft aufgelöst. Er wird einfach aufgestanden und weiterspaziert sein.”
„Obwohl ihn mein Pfeil glatt durchbohrt hat? Das ist lächerlich! Das wäre …”
„Ja?”
„Nichts.” Venghiár schnaubte. Bei alledem, was er seit dem Vorabend erlebt hatte, mehrere Tagesritte entfernt von hier, gab es keinen Anlass mehr, sich über Magie zu wundern.
Aber wo, bei allen Mächten, kam ein echter Magier her, hier in diese Gegend? Im äußersten Süden, im fernen Aurópéa, ja, da sollte es noch Regenbogenritter und eine fajía geben. Aber Schwarzmäntel? Venghiár Emberbey war nie zuvor jemandem begegnet, der seinerseits mit einem der mysteriösen Schattensänger zusammengetroffen war. Die Existenz jener Magier, die behaupteten, Noktámas Diener zu sein, galt seit langer Zeit als Legende. Im Osten, in Rodekliv, glaubte man gar nicht mehr daran. Zumindest sprach man nicht darüber.
Ob der Schwarzgewandete tatsächlich ein überlebender Schattensänger war? Oder gab er nur vor, einer zu sein, und arbeitete mit raffinierten Gaukeleien, wie ein Taschenspieler?
Nein, schalt Venghiár Emberbey sich. Kein Gaukelspiel konnte einen Mann samt Pferd über eine so weite Entfernung von einem Ort zum nächsten versetzen. Das hatte er am eigenen Leib erlebt!
Unverrichteter Dinge waren sie zur Burg zurückgekehrt. Und tatsächlich schien der mysteriöse Schwarzmantel über die Gabe zu verfügen, sich nach Belieben bemerkbar und unsichtbar zu machen, denn nachdem sie das Tor durchquert hatten, waren nur noch Venghiár selbst und seine verwirrten Knechte da. Der Schwarzgewandete und sein feines Edelpferd waren verschwunden. Offenbar hatte er an der Mauer kehrtgemacht.
Venghiár fand das Burgvolk in tiefer Trauer und Tränen vor. Dass sie ohne das entführte Kind heimgekehrt waren, versetzte Gesinde und Hausverstand noch mehr in Unruhe. Die opayra rang die Hände und versuchte, ihn nach dem Verbleib des Kindes auszufragen. Venghiár winkte ab, ließ sie stehen und überließ es den anderen, sich um die verstörte Leute zu kümmern. Er selbst musste schauen, wie die Lage im Haus war.
Alsgör Emberbey lag nun, gewaschen und mit seinen besten Gewändern angetan, aufgebahrt in einem der kühlen Kellergewölbe unter der Burg. Die doayra hatte ihr Bestes getan, die Wunden zu versorgen und zu verbergen, soweit das an einem toten Körper noch möglich war. Dank des schummerigen Lichtes aus drei Öllampen neben ihm sah man nicht, wie wenig Erfolg sie damit gehabt hatte. Einige der Weiber und älteren Knechte hielten Wache bei ihrem ehemaligen Herrn. Venghiár scheuchte sie fort und behauptete, allein von seinem geliebten und wohlwollenden Großonkel Abschied nehmen zu wollen.
Kaum war das Gesinde bekümmert, aber gehorsam verschwunden, war er nicht mehr allein.
„Wieso das Gemetzel?”, fragte die warme, freundliche Stimme im Schatten.
„Wer hat Euch hereingebeten?”, flüsterte Venghiár, nur mühsam beherrscht.
Der Schwarzgewandete trat an die Totenbahre heran. „Der alte Mann war bereits tot, als Ihr herkamt. Wo ist der Unterschied?”
„Ganz einfach. Es verschafft mir Zeit.”
„Zeit?”
Venghiár Emberbey schaute überrascht auf. „Versteht Ihr denn nicht? Wenn ein yarl vom Alter dahingerafft wird, folgt ihm auf dem Fuße der älteste leibliche Nachkomme.”
„Osse Emberbey. Der durch eine Fügung der Mächte Eurem Plan entkommen ist. Oder sollte ich sagen, den Interessen, die yarl Rodekliv an Euren Bemühungen hat?”
„Das sei dahingestellt. — Wenn das Leben eines yarl allerdings durch einen Mord beendet wird ….”
„Ist dann nicht desgleichen der älteste Sohn der Erbe?”
„Nein. Nicht, bis die Bluttat nicht aufgeklärt und bei Bedarf vor einem yarlpénar verhandelt wurde.”
„Und wozu soll das gut sein?”
„Ist das nicht offensichtlich? Um sicherzustellen, dass der Mord nicht vom eigenen Sohn begangen oder beauftragt wurde natürlich.”
Der Schwarzgewandete runzelte die Stirn. „Seit wann ist das so?”
„Seit den großen Verhandlungen nach den Chaoskriegen, nachdem in den Wirren die Vätermorde überhandgenommen hatten. Bei den Mächten, jedes kleine Kind weiß das, sogar die dummen Bauernbälger! Wie könnt Ihr davon nicht wissen?”
„Ich … war eine Weile fort”, antwortete der Schwarzgewandete geistesabwesend und neigte sich interessiert über den Toten. „Aber wie dem auch sei: Indem Ihr dies hier wie einen Mord gestaltet habt, steht Osse Emberbey nun bis auf weiteres seine Ehre und sein Erbe nicht zu?”
„Ja. Und wenn ihm etwas zustößt, bevor die Sache geklärt ist, wird er weder sein Amt antreten noch die Herrschaft übernehmen.”
„Das alles wird Euch wenig nützen, Herr Venghiár”, sagte der Schwarzgewandete ruhig.
„Was sagt Ihr?”
„Zum einen: Osse Emberbey ist über jeden Verdacht erhaben, seinen Vater aus dem Weg haben zu wollen. Der junge Mann müsste sich doch nicht die Mühe machen, das Risiko eingehen und das Herz beschmutzen, nur um ein paar Monde Vorsprung auf etwas zu bekommen, das ihm in den Schoß fallen wird. Selbst wenn Ihr nun versuchen würdet, ihm mithilfe Eurer Verbindungen einen Mordauftrag anzudichten, alle yarlay, die die Familie und die Verhältnisse derer von Emberbey kennen, würden Euch auslachen für diesen absurden Verdacht.”
Venghiár verschränkte die Arme. „Nun, vielleicht findet sich derjenige, der den báchorkor losgeschickt hat. Wenn ich auch nicht glauben kann, dass Ebbmo Ferocrivé sich dahinter verbirgt.”
„Herr Venghiár, ohne Eure Bemühungen kleinreden zu wollen: Denjenigen, der diesen báchorkor geschickt hat, werdet ihr nicht aufspüren. Und wenn, dann entzöge der sich der Gerichtsbarkeit jedweden yarlpénar.”
„Woher wollt Ihr das wissen?”
„Glaubt es mir einfach.”
Venghiár seufzte. „Wie dem auch sei, ob der Alte nun rein zufällig verreckt ist, während der báchorkor im Raum war oder ob da doch Gift oder sonst etwas Unsichtbares und ein hanebüchenes Motiv im Hintergrund steht – wir müssen den Kerl finden. Und das Balg, bevor es irgendjemanden zu viel erzählt.”
„Was soll sie erzählen? Der báchorkor hat sie sich als Geisel geschnappt und zusammen mit dem gestohlenen Pferd seine Flucht absichern wollen.” Der Schwarzgewandete lächelte. „Oder hat eure entzückende Weitbase einen Grund zu der Annahme, dass Ihr ihr ans Leben wollt?”
Der junge Mann schnaubte ärgerlich.
„Unvernünftig war es allemal. Dass Euer Weitvetter Euch im Wege ist, das glaube ich gerne. Aber ein unschuldiges Mägdelein, das noch mit Puppen spielt? Und gibt es da nicht noch eine zweite Schwester, die zwischen Euch und der Nachfolge stünde?”
„Ihr kennt Euch gut aus.”
„Hat yarl Ferocrivé etwa für die beiden Mädchen auch bereits eine Verwendung gefunden? Zumindest für die ältere, die bald erblühen wird?”
Venghiár blickte trotzig auf das Gesicht seines Großonkels. Bei den Mächten, selbst im Tod sah der alte Mann so streng und unerbittlich aus.
„Ich schlage vor”, fuhr der Schwarzgewandete fort, „Ihr kümmert Euch darum, dass Euer Großonkel hier, möge er hinter den Träumen niemandem mehr im Weg sein, auf schnellstem Wege eine ehrenvolle Bestattung nach den hiesigen Gebräuchen erhält. Und dann tut Ihr genau das, was ich Euch sage.”
„Und wenn nicht?”
„Ich würdet mir ernsthaft Widerworte geben?”
Das sagte der Schwarzgewandete mit einer so widerlichen Mischung aus Belustigung und Schärfe, dass der junge Ritter schauderte. Wortlos senkte er den Blick.
„Wenn diese tragische Sache mit Herrn Alsgör nicht geschehen wäre – wäret Ihr zum vasposár gereist?”
„Sicher. Ich hätte meinen Großonkel dorthin begleitet. In drei Tagen wären wir aufgebrochen. Aber nun, da das yarlmálon in Trauer ist …”
„Davon muss vor der Zeit niemand erfahren. Ihr nehmt Euch ein oder zwei vertrauenswürdige, verschwiegene Helfer, und brecht wie geplant zum vasposár auf. Ihr solltet die Zeit bis dahin nutzen, Euer Eisenzeug zu polieren.”
„Mein Eisenzeug? Aber ich kann doch nicht …”
„Ihr werdet. Keine Sorge. Ihr seid fähiger und gewandter, als so mancher ehrgeizige Mitbewerber, der ein Auge auf die teirandanja geworfen hat. Ich will Euch so nahe wie möglich bei Eurem Weitvetter wissen.”
„Und der báchorkor?”
„Den Rotgewandeten last meine Sorge sein. Dem, Herr Venghiár, seid ihr nicht gewachsen. Das ist … etwas Persönliches.”
„Was meint Ihr mit Persönliches?”
Der Schwarzgewandete tippte auf die Brust das Toten, dort, wo sein Herz war, zerschnitten und zerstochen und nur notdürftig geflickt. „Ich weiß”, sagte er rätselhaft, „nach wem ich suchen muss. Ich kenne dieses Zeichen.”
Nun war Venghiár restlos verwirrt. Der Schwarzmantel lächelte liebenswürdig und verneigte sich. „Werdet dieses Körpers ledig”, sagte er, „und brecht alsbald nach Wijdlant auf. Ich werde Euch finden, wo auch immer Ihr seid.”
Der Ritter schauderte. Das klang nach einer Drohung ebenso wie nach einem Trost. Der Magier wandte sich ab und verschwand. Er trat einfach in den Schatten hinter der Totenbahre und war fort.
Erstarrt, aber nicht so erschrocken, wie es statthaft gewesen wäre, blieb Venghiár noch ein paar Atemzüge lang stehen. Dann hatte er es sehr eilig, wieder aus dem Keller heraus und ins Freie zu kommen.
Zwischenzeitlich war die Morgensonne aufgegangen. Das Treiben auf dem Hof war indes fast zum Erliegen gekommen. Es würde wohl dauern, bis die Leute sich an diesem furchtbaren Tag des Verlustes wieder auf ihre Pflichten und Aufgaben besannen. Der junge Ritter lehnte sich erschöpft an die Tür und erlaubte sich einen Augenblick, die Wärme zu genießen. Doch dann mischte sich ein Geräusch in die ungewohnte Morgenstille.
Ein Flattern in der Höhe, leise und doch so anders als die gewohnten Flügelschläge der Möwen, die zu dieser frühen Stunde noch träge auf den Mauern und Klippen hockten. Venghiár Emberbey schaute hinauf zum Turm, wo die Kriegsmaschine stand und ein kleiner Verschlag, in dem Brieftauben gehalten wurden. Von dort oben stieg ein kleiner Schwarm von einem Halbdutzend Vögeln auf, kreiste, golden angestrahlt von Pataghíus Glanz, eine Runde um den Turm und drehte dann südwärts ab.
Venghiár Emberbey starrte ihnen mit offenem Mund und kaltem Entsetzen nach.
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