
Die Villa, in der der sinor [~ Ratsälteste] Saháalír residierte, war von erlesender Pracht und lag in unmittelbarer Nähe des Palastes, von diesem nur getrennt durch einen fruchtbaren Garten voller Obstbäume und blütenübersäten Büschen. Ein plätscherndes Wasserspiel sorgte für Abkühlung und auf der grünen Wiese um das geschmackvolle, zartblau gestrichene Haus stolzierten einige aranzienfarbene und grüne Prachtvögel herum, fächerten ihre üppigen Schwanzfedern und ließen ab und an ihre markerschütternden Rufe hören.
Das Gesinde hatte Galéon freundlich aufgenommen und mit erfrischenden Getränken und einer schlichten Mahlzeit versorgt, dabei aber keinen Zweifel daran gelassen, dass er es bei seinem abendlichen Auftritt alles andere als einfach haben würde. Dabei sei es nicht der Hausherr, der die eigentliche Schwierigkeit darstelle.
„Der sinor mag eigentlich alles, was ihn an seine Jugend erinnert”, hatte ihm die freundliche Magd anvertraut. „Beschreib ihm einfach ein paar alte Gebäude aus Ivaál, und der ehrwürdige Herr ist glücklich.”
„Ist das nicht etwas langweilig? So viel anders als hier sind die Häuser in Ivaál auch wieder nicht.”
„Na, mit irgendwas … Pikantem solltest du nicht kommen. Es sind sinoaraé [~ Ratsälteste Damen] zugegen. Erinnere die alten Schachteln nicht noch an vergangene Lüsternheiten.”
Das war eine ziemlich respektlose Rede, aber die Küchenmagd füllte ihm noch eine Schöpfkelle Getreidebrei in sein Schälchen. Galéon aß dankend, denn er war wirklich ausgehungert gewesen.
„Nun”, sagte er zwischen zwei Löffeln, „dann bleibt noch Ruhm und Glorie des alten Aurópéa. Ich bin zwar weit herumgekommen, aber was genau verstehen der sinor und seine Gäste darunter?”
„So ziemlich alles, was im Anschluss an die Chaoskriege geschehen ist. Nachdem die Magier sich zurückgezogen und die Stadt allein gelassen haben.”
„Ich verstehe. Natürlich, die Gründung des konsej [~ Stadtrats] und die Lossagung aus dem Schutz der arcaval’ay mag ein großer Fortschritt für die Stadt gewesen sein.”
„Wären die Chaoskriege damals nicht zum Erliegen gekommen, wäre Aurópéa vermutlich heute noch ein großes Bauerndorf. Wenn es überhaupt noch existierte.”
„Also etwas Geschichtliches.” Galéon dachte nach. „Man sollte denken, dass die Damen und Herren des konsej jedes Detail darüber wüssten.”
„Tun sie. Aber sie hören immer wieder gern, was man anderswo darüber weiß und werden sich sicher freuen, wenn sie dich ausführlich korrigieren können.”
Mich korrigieren? Galéon lächelte im Stillen.
„Trotzdem solltest du auf deine Worte achtgeben. Der sinor Úldaise hat wenig Geduld und Verständnis.”
„Scheint so, dass er ein sinor der schwierigeren Art ist.”
„Woher hast du das?”
„Man hört hier und da Ansichten, aber keine Begründungen.”
Sie setzte sich zu ihm an den Tisch, schaute sich um und legte die Finger an die Lippen. Dann nickte sie.
„Warum ist er dann bei einem so freundlichen Herrn wie dem Euren zu Gast? Dass sein Alter ihn in den Rat gehoben hat, ist mir klar, aber warum wollen sie ihn bei einer privaten Feier dabei haben?”
„Nun, ich denke, niemand wagt es, ihn auszuschießen. Und keiner mag es riskieren, dass er Dinge aus zweiter Hand erfährt.”
„Wie unangenehm.”
„Es ist besser geworden, seit er dabei ist. Sittenlos und ohne Hemmungen war es unten in Aurópéa, und jeden Tag geschahen Verbrechen. Das hat stark nachgelassen.”
„Wer ist dieser sinor Úldaise eigentlich? Als Angehöriger des konsej muss er doch bereits unzählige Sommer in Aurópéa gelebt haben. Hat er Familie hier?”
Sie schnaufte. Dann neigte sie sich zu ihm vor und flüsterte: „Ein alter Hagestolz ist er. Es heißt, er wohnt ganz allein, nicht einmal in einem eigenen Haus, sondern irgendwo zur Miete. Wahrscheinlich will niemand zugeben, in wessen Villa er hockt, wenn er nicht im Palast ist. Aber reich ist er. Unglaublich reich. Er schwimmt geradezu in Gold.”
Vielleicht hätte sie noch mehr erzählt, aber jemand rief nach ihr. Sie eilte aus der Küche fort und ließ ihn allein mit seinem Brei und nachdenklichen Erwägungen zu dem exzentrischen Ratsherrn.
Den Abend verbrachte er anschließend, vom schmiedeeisernen Gartentor aus zu beobachten, was sich in der Nachbarschaft tat. Im Haus gegenüber schien eine exklusive Festgesellschaft zusammengekommen zu sein, exquisite Küchengerüche wehten zu ihm ebenso hinüber wie lautes Gelächter und ausgelassene Musik. Als sich die ersten Sterne zeigten, wurde ein Grüppchen freizügig gekleideter, kichernder fanjulaé durch einen Nebeneingang eingelassen. Was auf den Anwesen vor sich ging, blieb allerdings durch die hohen, mit Ranken bewachsenen Mauern verborgen. Saháalírs Villa war ihrerseits von einem metallenen Zaun begrenzt, der mehr Einblicke gewährte.
Galéon beobachtete die Ankunft der Gäste des Ratsältesten, drei Damen und zwei weitere Herren waren es, alle erlesen gekleidet und so gebrechlich, dass sie von ihren Dienern gestützt oder an einem Stock gingen. Die Frauen hatten versucht, sich Runzeln und Altersflecken wegzuschminken, was ihre Gesichter sonderbar künstlich und hartwirken ließ, wie Arbeiten aus Stuck. Das Gefolge dieser Alten konnte seinerseits kaum verheimlichen, wie die offenbar immer ausgelassenere Feier im Nebenhaus sie lockte.
Der Letzte, der erschien, war Úldaise. Er bewegte sich rüstig und benötigte weder eine Gehhilfe noch jemanden, der ihm assistierte. Dennoch wurde der Alte von zwei Männern begleitet, die fehl am Platz wirkten: Große, derbe Burschen mit finsterem Blick waren es, solche von der Art, wie sie in der Unterstadt in den Tavernen für Respekt sorgen sollten. Allerdings waren diese beiden erheblich besser gekleidet und ausgesprochen gepflegt.
Galéon schüttelte den Kopf darüber und zog sich vorsichtig einen Schritt weit hinter eine mächtige Kübelpflanze zurück, die am Rande der Dachterrasse der Villa stand, wo die kleine Gesellschaft sich versammelte. Úldaise passte weder in seinem Auftreten noch seinem Gehabe zu den übrigen Uralten, dass es Wunder nahm, dass er in ihrem Kreis so akzeptiert zu sein schien.
Der Hausherr begrüßte ihn dennoch so herzlich wie seine übrigen Gäste. Wie sich herausstellte, war Saháalír so gebrechlich, dass er überhaupt nicht mehr aus eigener Kraft laufen konnte und in einem Tragstuhl transportiert werden musste. Davon abgesehen schien der Älteste jedoch bei hellem Verstand und bester Laune zu sein. Er plauderte munter mit seinen Gästen, die mit ihm auf gepolsterten Korbsesseln an Beistelltischchen in der Runde saßen und machte den Damen gegenüber charmante Bemerkungen, die die drei sinoraraé verlegen kichern machten. Sogar Úldaise rang sich ab und zu ein Lachen ab und machte geistreiche Bemerkungen. Als Speise wurden den Alten Schüsselchen mit verschiedenen Sorten Mus gereicht, denen offensichtlich auch geistige Zutaten hinzugefügt worden waren. Jedenfalls wurde die Stimmung in der Runde immer lockerer und gelöster. Galéon konnte aus der Entfernung zwar nicht hören, worüber gesprochen wurde, aber er war überzeugt, dass die sinoray sicherlich einen Tanz gewagt hätten, wäre ein Musikant zugegen gewesen.
Als das Gespräch eine Weile später doch zum Erliegen kam, winkte der Gastgeber den báchorkor heran. „Meine lieben Freunde”, erklärte er der Runde, während Galéon sich mit der gebotenen Demut näherte, „die Mächte haben mir am Vormittag diesen jungen Mann über den Weg laufen lassen. Er sagt, er hat Geschichten aus allen Reichen bei sich.”
„Wie schön”, freute sich eine der Damen. Aus der Nähe erkannte Galéon, dass sie eine Perücke trug, die mit kleinen Juwelen aufwändig geschmückt war. Eine Sieche mochte ihr das eigene Haar geraubt haben. Galéon versuchte, nicht zu sehr darüber nachzudenken. „Ich habe so lange nichts Neues gehört.”
„Hervorragend,” stimmte einer der Männer zu, der nur noch wenige eigene Zähne im Mund trug und daher schwer zu verstehen war. „Ist im Westen immer noch Krieg?”
Galéon stutzte.
„Der Krieg im Westen ist längst vorbei!”, schaltete sich der andere Mann ein, dessen Augen milchig-blind direkt an seinem Gesprächspartner vorbei schauten.
„Was?”
„VORBEI!” Offenbar war der Zahnlose auch noch schwerhörig.
„Um welchen Krieg geht es, Herr?”, fragte der báchorkor vorsichtig.
„Beachte ihn nicht weiter, Jüngchen”, sagte eine der anderen Damen milde. „Er hat in Pianárdent an der Seite des yarl von Xoniár gekämpft, als er noch ein Jungspund war.”
Galéon überschlug das im Geiste und rechnete sich aus, dass der alte Krieger damit annähernd so alt sein musste wie der Gastgeber.
„Bitte, meine Lieben!” Saháalír tätschelte der alten Dame vertraut die Hand. „Lasst uns doch diese unerfreulichen alten Dinge ruhen lassen.”
„Ich weiß ja nicht, ob du mit dem Burschen den richtigen Griff getan hast, Saháalír”, sagte die dritte Frau nachdenklich. „Er sieht mir gar nicht aus, als verstünde er allzu viel von Mode.”
„Das ist nicht der Gewandschneider, Liebes. Das ist ein bachorkor.”
„Was?”
„Ein báchorkor! Ein Geschichtenerzähler!”
„Und was macht der hier in meinem Gemach?”, schnappte die alte Dame empört. „Augenblicklich gehst du, wohin du gehörst, Spitzbube, oder … “
„Ehrenwerte sinora“, sagte der Blinde, „das hier ist nicht deine Villa. Wir sind bei Saháalír zu Gast!”
Die Frau blinzelte verwirrt und schaute dann konfus und beschämt zu Boden, als müsse sie Gedanken ordnen,
Galéon schaute betroffen von einem zum anderen. Das hier waren sieben der insgesamt neun Ratsträgern; die beiden letzten fehlten möglicherweise nur, weil sie um diese Zeit bereits zu Bett oder noch gebrechlicher waren. Diese Leute waren verantwortlich für das Wohl der größten Stadt der Welt?
„Bekommen wir nun eine Geschichte zu hören oder nicht?”, kam es unvermittelt von Úldaise. Der jüngste sinor hatte den vorangegangenen Wortwechsel schweigend angehört, lehnte sich nun in seinem Sessel zurück und schaute Galéon mit stechend dunkeln Augen über seinen Becherrand hinweg an.
„Nun?”, fragte Saháalír freundlich. Galéon zuckte zusammen. Offenbar war er für einen Moment in dem hypnotischen Blick versunken wie in einem tückischen Sumpf.
„Selbstverständlich.” Der báchorkor schauderte und verneigte sich vor dem Ältesten. „Wäre es in Eurem Sinne, wenn ich von den Schönheiten des yarlmálon Ivaál berichte?”
Der alte Ratsherr lächelte und lehnte sich zurück. Galéon ließ sich in der Mitte des Kreises nieder, schlug die Beine untereinander und schloss die Augen. Ivaál, dachte er und ließ in seinem Geist Bilder aufsteigen, die er vor langer, langer Zeit dort mit eigenen Augen geschaut hatte. Dann begann er, zu erzählen, erschuf mit seinen Worten eine Kulisse exquisiter Pracht und Freude, schilderte den Ort, die Gebäude, die Menschen bis in die kleinsten Details, bis hin zu dem stets etwas schwülen Wind von den Hügeln und dem Duft von heißer Erde und fremdartigen Gewürzen. Er pries die Weisheit und Wissenschaft, die schönen wilden Tiere und hielt sich eine Weile bei der besonderen Mode der Menschen in der heißen, bunten Gegend auf, um auch die Dame zu erfreuen, die ihn mit dem Schneider verwechselt hatte. Für den alten Kämpen berichtete er von den großen Siegen und bunten Turnieren, von dem vornehmen Ernst der Adligen und der Ausgelassenheit der jungen Leute und ihrer Feste. Etwa die Spanne zwischen zwei Gongschlägen redete er.
Als Galéon endete und die Augen wieder öffnete, sah er Tränen in denen des Gastgebers. Er hatte dem Ratsherren Saháalír ein Stück seiner Jugend zu spüren gegeben.
„Ich danke dir”, sagte der sinor nach einer Weile. „Du wirst überrascht sein, wie viel mir deine Geschichte wert war.”
„Hast du auch eine Geschichte für mich?”, fragte die Alte mit der Perücke.
„Ja”, antwortete Galéon. „Aber nicht heute, edle Dame. Wenn es euch Recht ist, erzähle ich sie euch morgen unter vier Augen.”
„Geschäftstüchtig ist er”, sagte der Blinde amüsiert. „Ganz schön gerissen, der Bursche.”
Die alte Frau ließ sich nicht beirren. „Gern. Ich freue mich, dich in meinem Haus zu begrüßen”, sagte sie milde. „Es soll nicht dein Schaden sein.”
„Das ist zu gütig. Aber Eure Geschichte werde ich Euch schenken.”
„Hört, hört”, amüsierte sich der alte Krieger, und die Dame errötete. Galéon lächelte, um der Sache den Anschein eines frechen, trivialen Flirts zu geben, aber in seinem Herzen war Anteilnahme. Zwei Monde noch, dachte er. Nicht mehr.
Úldaise hatte sich den Reisebericht aus Ivaál schweigend angehört. Nun räusperte er sich. „Hören wir noch was von dir? Oder bist du fertig?”
„Vielleicht mag der ehrenwerte sinor Úldaise sich den Gegenstand meiner nächsten Erzählung aussuchen?”
„Gern.” Der Ratsherr lächelte rätselhaft. „Lass hören. Was erzählt man jenseits des Montazíel über … das Ende der Chaoskriege?”
„Úldaise!”, begehrte die modebewusste Dame auf. „Nicht davon!”
„Was stört dich daran?”
„Es schickt sich nicht, an einem solchen Tag, in dieser Runde über dieses Thema zu reden!”
„Dann seid ihr also nicht neugierig, was die Leute jenseits von Aurópéa über den Triumph gegen die Chaosgeister zu sagen wissen? Wie es mit dem Ruf unserer Stadt, der Stadt, für die wir alle uns hingeben, bestellt ist?”
„Was kann es schaden”, sagte der Blinde. Aber die entspannte Stimmung, die sie alten Leute gerade noch erfüllt hatte, war dahin.
„Wünscht Ihr einen geschichtlichen Abriss”, fragte Galéon misstrauisch. „Oder einen packenden Kampfbericht?”
„Da lasse ich mich gern überraschen.” Der dunkle scharfe Blick legte sich lauernd wieder auf den des báchorkor und ließ ihn frösteln. „Was immer du darüber weißt.”
Galéon senkte den Kopf und konzentrierte sich. Das Ende der Chaoskriege … das war so lange her. So lange, dass er sich kaum daran erinnerte. Diese Geschichte musste er aus dem hervorkramen, was er in all den Jahren dazu gehört hatte, was man ihm berichtet und wovon er Bilder gesehen hatte. Es …
„Sie schreien”, wisperte er dann zögerlich. „Alle rennen und schrien und sind in Panik. Es sind … Männer, viele Männer auf Pferden. Einer ist dabei, einer in schwarzen Gewändern und einer, ein jüngerer, rotgewandet an seiner Seite. Es … Feuer. Es brennt … und all das Blut. Es …”
Einige der Alten begannen, verwirrt zu murmeln. Galéon schreckte hoch und warf seine eigenen Gedanken beiseite, die an den jungen Rotgewandeten und das schimmernde Schwert, an den Moment, in dem der Schreckliche, der, der Mord und Zerstörung gebracht hatte, nach ihm griff und unter seinen Mantel zerrte, ihn versteckte, ihn mit sich nahm, vorbei an … an Blut und Flammen und den Todesschreien und in Sicherheit. Bei den Mächten, da waren sie wieder, die Bilder, die ihn all die Zeit immer wieder in seinen Träumen heimsuchten, eine zerfetzte, undeutliche, unvollständige Erinnerung aus einer Zeit, in der er selbst noch keinen rechten Verstand gehabt haben konnte.
„Verzeihung”, sagte der báchorkor leise. „Das war die falsche Geschichte. In Wahrheit endeten die Chaoskriege vor mehr als hundertdreißig Wintern am Fuße des Montazíel in einer gewaltigen Schlacht. Der heroische Widerstand der arcaval’ay war es, der den Horden entfesselter Chaosgeister Einhalt gebot, die der Schattensänger Ovidáol Etaímalar beschworen hatte. Von Nord nach Süd hatte der Verderbte das Weltenspiel mit Kampf und Krieg überzogen, gleichsam mit den Kreaturen aus dem Chaos und Gesetzlosen, die sich ihm beugten und in den Wirren yarl gegen yarl, teirand gegen teirand gegeneinander aufbrachte …”
Die Alten hörten andächtig zu, obschon sie die Geschichte längst auswendig kennen mussten, vielleicht abgesehen von dem einen, der sich selbst alle paar Augenblicke zu vergessen schien. Zweifellos hatten sie alle in ihrer Jugend von älteren Verwandten Geschichten darüber gehört, wie der blutige Kampf um Aurópéa getobt hatte, Geschichten aus der Erinnerung von jenen, die tatsächlich dabei gewesen waren und die Schrecken gesehen hatten. Das Entsetzen, das ein einzelner Magier entfesselt hatte, indem er alles Verderbliche, das Menschen in ihren Herzen mit sich trugen, mit der rohen Destruktion und dem Wahnsinn der Chaosgeister kombiniert hatte. Ovidáol Etaímalar war so unglaublich mächtig gewesen, dass er es am Ende gewagt hatte, den Cielástel und damit Pataghíu selbst mit seinen Horden anzugreifen. Die unkundigen Verteidiger und Angreifer waren gefallen wie gemähtes Getreide, entvölkert lagen am Ende ganze Landstriche. Vier der fünf fajíaé, bis auf Elosál, die jüngste, und Dutzende von Regenbogenrittern hatte Ovidáol Etaímalar im direkten Kampf getötet, nichts hatten sie der Waffe, dem Dunklen Artefakt entgegenzusetzen, mit dem er angetreten war.
Dann waren die camat’ay aufgetaucht, und die Schlacht war eskaliert. Zerstörung war frei geworden, die halb Aurópéa in Schutt und Asche gelegt und auch den Cielástel nicht unbeschadet gelassen hatte.
Und dann war es vorbei gewesen. Einfach vorbei. Einfach so.
„ … und nie wurde das Geheimnis gelöst, was dabei mit Ovidáol Etaímalar geschehen war und welche Rolle die Schattensänger bei alledem innegehabt hatten”, schloss Galéon mit trockener Stimme. Geschichten dieser Art waren mühsam, schwierig zu erzählen.
„Wirklich niemals?”, fragte die Dame mit der Perücke, nicht weil sie zweifelte, sondern weil es galt, nicht zu schweigen. Zu befremdlich schallte der Lärm der Feiernden aus dem Nachbarhaus herüber, wo es immer ausgelassener zu sich ging und die Betrunkenen grölten.
„Niemals”, sagte der báchorkor. „Es wurde weder der Leichnam des Verheerers gefunden noch die Waffe, mit der er gekämpft und vernichtet hatte. Diese Geschichte, edle sinoray, hat kein Ende.”
„Und was denkst du, was tatsächlich geschehen ist?”, fragte Úldaise, der die ganze Zeit mit unbewegter Miene zugehört hatte.
„Ist das von Belang?”
„Sag du es mir.”
„Ich weiß es nicht. Man erzählt sich, dass zumindest die furchtbare Waffe von den Schattensängern zurückerobert wurde. Was aus Ovidáol Etaímalar wurde, hat nie jemand erfahren. Sehr wahrscheinlich wurde er beim Kampf gegen seinesgleichen so stark verletzt, dass nicht einmal ein erkennbarer Körper von ihm zurückblieb. Die Chaosgeister wurden von den Regenbogenrittern zurück in ihre Domäne gebannt. Und man erzählt sich überall auf der Welt, dass die Regenbogenritter danach einen Pakt mit den Menschen von Aurópéa eingingen. Nie wieder, so besiegelten sie, sollte sich ein Heller Magier in die Belange von Unkundigen einmischen und sie in Fehden hineinziehen.”
„Gut”, sagte Úldaise. „Es beruhigt mich, dass überall auf der Welt die Wahrheit erzählt wird.” Der alte Mann lächelte zufrieden.
„Vielleicht – aber das ist nur meine Meinung – wäre es besser gewesen, den Regenbogenrittern diesen Schwur nicht abzuverlangen.”
„Wie meinst du das?”, fragte Saháalír aufmerksam, mit echtem Interesse.
„Nun”, sagte Galéon, ohne Úldaise aus den Augen zu lassen, „was soll werden, sollten Chaosgeister einmal … zurückkehren?”
„Das mögen die Mächte verhüten! Was ist das überhaupt für ein Gerede bei einer Anprobe?”, empörte sich die sinora.
„Lassen wir diese schauerlichen Themen auf sich beruhen.” Der Älteste warf einen verlegenen Blick in die Runde. Die dritte Dame war sanft eingedöst und hatte den Großteil von Galéons Geschichte gar nicht mitbekommen, die anderen wirkten unbehaglich.
„Ich erinnere die ehrenwerten Damen und Herren daran, dass ich diese Geschichte nicht selbst vorgeschlagen habe.”
„Es ist gut, báchorkor. Und nun ist es an der Zeit für fröhlichere Dinge. Weißt du noch etwas Abenteuerliches vielleicht? Ein Abenteuer eines Seefahrers?”
„Selbstverständlich. Lasst mich Euch von der Irrfahrt eines Handelsschiffes erzählen, das vor Ovéstola in einen geheimnisvollen Nebel geriet …”
Sie bekamen nicht genug von seinen Geschichten. Galéon redete bis in die frühen Morgenstunden und unterhielt die Alten mit lustigen, spannenden und erbaulichen Geschichten. Nur einmal wurde er dabei unterbrochen, als Úldaise sich erhob und entschuldigen ließ. Er sei müde und wolle zu Bett gehen, sagte er, verneigte sich vor den Anwesenden und steckte Galéon dann, zu dessen Verblüffung, eine Silbermünze zu.
„Deine Geschichte hat mir gut gefallen”, sagte er. „Bleib hier in der Oberstadt. Ich denke, ich würde gern einige Worte mit dir wechseln.”
Mit diesen Worten entfernte er sich. Man hörte ihn im Haus nach seinen Leibwächtern rufen.
Als die Prachtvögel im Garten wieder munter wurden und im Morgengrauen ihre ersten schrillen Schreie ertönen ließen, war Galéon erschöpft. Er hatte schon lange nicht mehr so aufmerksame Zuhörer gehabt und so viel am Stück erzählt. Er gähnte verstohlen. In die alten Leute hingegen kam Bewegung. Wie auf ein Signal kam Bewegung in die Gruppe.
„Ich erwarte, dich heute am Nachmittag in meiner Villa”, sagte die eine Dame. „Ich benötige dringend ein neues Gewand für das große Herbstfest. Du musst dir unbedingt die Tuche ansehen, die ich aus Forétern habe kommen lassen.”
Und der schwerhörige Kämpfer klopfte ihm anerkennend auf die Schulter. „Brav gemacht, Bursche. Ruh dich ein paar Stunden aus und erstatte mir dann Bericht!”
Zuletzt blieb nur Saháalír zurück. Eine junge Dienerin brachte ihm eine Schale mit einem anregenden Morgengetränk. Galéon saß am Boden und wartete. Bevor der Alte ihn nicht entließ, durfte er sich nicht entfernen.
„Ein jämmerlicher Anblick, nicht wahr?”, fragte der Alte. „Der glorreiche Rat von Aurópéa …”
„Nein, Herr. Nicht jämmerlich. Nur … zur falschen Zeit.”
„Ich vertraue dir etwas an. So wie die Mächte es fügen, werde ich wohl der nächste aus dieser Runde sein, der hinter die Träume geht.”
Nein, dachte Galéon. Vorbehaltlich eines gewaltsamen Endes wirst du die sieche Dame betrauern, die einst so wunderbares Haar hatte.
„Ich glaube, diese Stadt braucht uns eigentlich gar nicht mehr. Was sind wir denn noch nütze, wir Alten?”
„Warum hält Aurópéa fest am Rat von Ältesten, Herr?”
„Weil es seit jeher so war. Nun, zumindest seit der großen Schlacht, von der du vorhin berichtet hast. Die Magier haben sich zurückgezogen. Wer außer den Alten, Erfahrenen hatte es besser tun können?”
„Ich kann Euch das nicht beantworten, Herr. Ich bin nur ein báchorkor. Solche Gedanken stehen mir nicht an.”
Sinor Saháalír nickte milde. Dann klatschte er in die Hände, woraufhin auf der Treppe Schritte zu hören waren. Seine Diener kamen, um ihn fortzutragen.
„Du solltest eine Weile schlafen. Komm am Nachmittag wieder zu mir. Du hast dir einen guten Lohn verdient, und ich bin sicher, dass wir auch noch passende fast neue Gewänder für dich haben.”
Galéon verneigte sich und wartete, bis der Alte fort war. Dann stieg er selbst von der Außentreppe die Dachterrasse herab und ging müde durch den Garten hinüber zum Tor.
Gegenüber löste sich die Feiergemeinschaft auf. Ein Betrunkener torkelte aus dem Haupttor hinaus. Ein Stück eines Damengewandes schwenkte er wie eine Trophäe in der Hand, bevor er stolperte und in den Rinnstein stürzte.
Zwei ordentlich gekleidete Männer, die mit einem mit frischem Brot beladenen Handkarren aus der Gegenrichtung kamen, halfen ihm auf und kümmerten sich darum, dass er im nächsten Haus verschwand.
Galéon gähnte und schüttelte den Kopf. Auch hier wechselte die Stadt also des Nachts ihre Maske.
Hinter ihm raschelte etwas. Der báchorkor sah sich um und fand sich einem der grobschlächtigen Leibwächter gegenüber. Im selben Moment packte ihn der Zweite von hinten und presste ihm mit seiner riesigen Hand den Mund zu. Etwas stinkendes, Feuchtes legte sich ihm über Nase und Lippen und verstärkte seine Müdigkeit schlagartig bis an den Punkt kurz vor dem Einschlafen. Galéon hatte weder zum Schreien noch zur Gegenwehr Kraft, so stark und hochpotenziert übermannte ihn der Schlaf.
Hinterlasse einen Kommentar