
Yalomiro Lagoscyre war durch den Schatten gegangen. Es war ein langweiliger, einsamer Weg gewesen, einer, den ein camat’ay, der allein unterwegs war, nicht allzu weit ohne Pause zurücklegen sollte. Zu leicht war es, sich in der absoluten Stille und Dunkelheit zu verlieren. Aber Yalomiro war ein erfahrener Schattenwanderer, der die Etappen mit Bedacht zurücklegte. Bei Nacht kam er aus der Dunkelheit heraus, ruhte unter dem Licht von Mond und Sternen, stärkte sich daran. Er suchte nach den Gedanken seiner weit entfernten hýardora, der er den Etaímalon anvertraut hatte und hoffte, sie bald wieder von dieser Verantwortung entlasten zu können. Er machte sich Vorwürfe, ihr eine Aufgabe gegeben zu habe, von der er wusste, dass sie ihr noch nicht gewachsen war.
Mochten die Mächte geben, dass der Schutz des Etaímalon für die wenigen Tage nicht wirklich erforderlich wäre.
Zehn Sommer lang war er keinen einzigen Tag ohne Salghiára, acht Sommer lang nicht ohne seine Tochter gewesen. Allein unterwegs zu sein war etwas, das er nicht mehr gewohnt war. Während er wanderte, gelang es ihm kaum, sich ruhig zu konzentrieren. Immer wieder glitten seine Gedanken ab, hin zu Salghiára, zu ihrer Wärme, ihrer Gegenwart, ihrem Dasein. Hin zu Dýamirée, die ihn und Salghiára auf diese seltsame Weise … erweiterte und ihnen so gut tat. Er fühlte sich … unvollständig.
Yalomiro Lagoscyre hoffte von Herzen, dass all die Sorgen der teiranda, die Tragödien der yarlay sich als reine Schicksalsdinge ohne einen verborgenen Zusammenhang herausstellen würden.
Salghiáras Gedanken waren auf die Entfernung schwer zu erfassen, aber er konnte spüren, dass sie da war, konzentriert, achtsam, so fokussiert auf ihre Aufgabe, dass sie wahrscheinlich gar nicht hörte, wie er nach ihr rief. Das amüsierte ihn und machte ihn zugleich bedenklich. Schon vor Sommern hätte er ihr beibringen sollen, wie man den Boscargén und den Etaímalon sicherte. Er ärgerte sich über sein eigenes Versäumnis. Es war unerheblich, dass Salghiára mit ihrer geerbten Magie auf dem Niveau eines kleinen Kindes zauberte, dass sie vielleicht niemals dazu in der Lage sein würde, Noktámas Gabe gezielt für einen wirklich großen Zauber einzusetzen.
Er hatte es versäumt, weil ihr nichts Unmögliches aufbürden wollte. Weil er nicht wollte, dass sie begann, sich bedrängt zu fühlen. Aber das entband weder ihn noch sie von ihren Pflichten. Das Heiligtum und das, was darin bewahrt wurde, musste geschützt werden.
Oder, dachte er, während er sich der Grenze zwischen den yarlmálon Tjiergroen und Grootplen auf der Nordseite des Montazíel näherte, es musste eine andere Lösung gefunden werden. Eine ganz andere, eine unbequemere Lösung. Eine, die Salghiára keine so große Bürde auflastete, die sie aber zutiefst entsetzen würde, wüsste sie darum.
Früher oder später würde kein Weg daran vorbei führen. Wenn Noktáma wirklich entschieden hatte, Dýamirée als Unkundige, als ujora aufwachsen zu lassen, dann hatte es keinen Sinn, den Etaímalon weiter zu hüten. Dann musste das Weltenspiel einen anderen Weg finden.
Er verließ Noktámas Domäne in einem Birkenwäldchen an einem Hang, nahe einem murmelnden Bächlein. Wen man dort hinabging, gelangte man auf das Land von yarl Grootplen am südöstlichen Rand des teirandon Wijdlant. Der Mond tauchte die weiten Felder, die man von hier aus sah, in ein weiches, mildes Licht.
Der Schattensänger war nicht ohne Grund an dieser Stelle wieder aus den Schatten heraus getreten. Dieses unscheinbare Wäldchen war ein besonderer Ort. Die Bäume waren seit jener Nacht, in der er und Salghiára hier gewesen waren, beachtlich gewachsen, einige davon von starkem Sturm umgeworfen. Aber er erkannte den Platz, an dem er und sie damals gerastet und miteinander getanzt hatten. Die Nacht, in der sie auf eine ganz unbegreifliche Weise eines geworden waren.
Yalomiro Lagoscyre ging hinüber zu dem verwitterten Grenzstein und ließ sich dort nieder. Still horchte er in die Nacht und lauschte dem Echo des Liedes, des Zaubers, den er damals für sie gewirkt hatte. Einige der Bäume erinnerten sich noch daran. Der Magier lehnte sich an den Stein und seufzte. Einsamkeit lastete auf seinem Herz wie ein schwerer Stein. Einen Moment lang widerstand er der Versuchung, einfach wieder umzukehren. Das konnte er nicht tun. Seine eigenen Gefühle mussten hinter seiner Pflicht zurückstehen, bis er sich überzeugt hatte, was zu tun war.
Seine Geige, sein Werkzeug, mit dem er damals diesen Zauber gewirkt und in den Salghiára eingestimmt hatte, führte er in seiner Tasche bei sich. Aber er holte das Instrument nicht hervor. Nun in seiner Einsamkeit Salghiaras Lied zu spielen, ganz ohne Magie, hätte ihn nur traurig gemacht.
Eine Weile saß er noch und ruhte sich aus, aber die richtige Ruhe dazu fand er nicht. Solange er allein war, machte der Ort ihn nicht glücklich. Als der Mond sich bereits dem Meer im Norden zuneigte, weit, weit entfernt von hier, erhob er sich und zog weiter. Er hatte das Bedürfnis, etwas zu überprüfen, etwas, wovon er sich hätte fernhalten sollen.
Er kletterte den Hang hinab und wanderte westwärts am Rand der Felder entlang. So gelangte er schließlich in eine Gegend, wo sich eine üppige Wildblumenwiese wie ein Band entlang der Grenze zwischen den beiden yarlmálon dahinzog. Mitten darin stach eine kleine Fläche heraus, wo fast ausschließlich Rauten mit roten Blüten und einem intensiven, nicht unangenehmen Duft standen. Unter Tageslicht musste dies ein auffälliger Anblick sein, in der Dunkelheit war es das Aroma der Pflanzen, das den Schattensänger leitete. Bläulich schimmernde Glühwürmchen tanzten über den blutroten Traumrauten. Auch das war ein magischer Ort, mitten in einer von Menschen völlig unberührten Gegend. Er ähnelte auf gewisse Weise jener Stelle im Boscargén mit den weißen Blumen.
Yalomiro Lagoscyre hockte sich neben die Pflanzen, berührte den Boden mit den Fingerspitzen, fühlte und fürchtete sich.
Ja. Hier war noch alles an seinem Platz. Das war tröstlich. Solange die Pflanzen diesen Ort beschützten, drohte zumindest von dort keine Gefahr.
Andererseits – auch das konnte und durfte nicht ewig so sein. Jemand musste und würde kommen und bergen, was hier, unter den blutroten Traumrauten schlief. Das war nichts, was ein Schattensänger vollbringen konnte.
Der Schattensänger erhob sich, schauderte und verneigte sich vor dem Grab unter den roten Blumen. Dann setzte er seinen Weg eilig fort, nun nach Norden. Keinen Moment länger als nötig wollte er an diesem Ort bleiben.
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Cýelú Irísolor ließ sein Einhorn auf einem Feld südlich des Boscargén niedergehen. Von hier aus wäre es ratsamer, den Rest des Weges auf dem Boden zurückzulegen. Zuviel Aufmerksamkeit durfte er jetzt nicht mehr erregen. Wenn einer der Schwarzgewandeten zur Unzeit zum Himmel aufschaute, wären sie gewarnt. Wer wusste schon, inwieweit die hohen Baumwipfel ihnen den Blick verstellten.
Die vergangenen zwei Tage war er sehr vorsichtig gewesen. In den yarlmálon in der Nähe von Soldesér waren die Unkundigen daran gewöhnt, ab und an einen der arcavala’ay auf einem Einhorn am Himmel zu sehen, aber allzu weit vom Cielástel hatten die Hellen Magier sich schon seit vielen, vielen Sommern nicht mehr entfernt. Zum Glück war es hier, über den Ebenen auf der Mittelachse zwischen Aurópéa und dem Montazíel bewölkt gewesen, üppige weiße Schönwetterwolken, zwischen denen sein fliegender Schimmel für einen flüchtigen Blick praktisch unsichtbar wurde, insbesondere, solange er vor der Sonne ritt. Unkundige konnten nicht direkt in die Sonne schauen, ohne sich daran zu verletzen. Und Cýelú war geschickt darin, das Licht zu nutzen, um unauffällig zu bleiben.
In einiger Entfernung sah der Regenbogenritter Häuser, ein größeres Gehöft, zu dem die Felder am Rande des Boscargén gehören mochten. Zu dieser Zeit war jedoch nicht zu erwarten, dass noch jemand auf den Äckern unterwegs war. Die Menschen saßen gewiss in ihren Stuben und um ihre Feuerstellen, eng beieinander, ihre Waffen in Griffweite, immer in Alarmbereitschaft, und fürchteten sich vor dem, was im Wald auf sie lauern mochte.
Wer konnte es ihnen verdenken? Schrecklich und grausam waren sie, die Schattensänger. Er selbst war bei der großen Schlacht dabei gewesen und hatte an der Seite der fajíaé gekämpft. Er hatte gesehen, was die düstere, zerstörerische Magie anrichten konnte, die Noktáma ihren Dienern gegeben und um die man sie betrogen hatte. Er hatte Elosáls tote Schwestern gesehen und den, der dafür verantwortlich gewesen war, ein Monster, ein verfluchtes Wesen im Körper eines schwarzgewandeten Mannes, der den Chaosgeistern gebot und einen Regenbogenritter nach dem anderen erschlug. Einen, dem am Ende nur seinesgleichen zu bändigen gewusst hatte. Mochten die Mächte wissen, welches schreckliche und verdiente Schicksal dem Verfluchten zuteil geworden war.
Schattensängern war nicht zu trauen. Natürlich, der lange Waffenstillstand, den die camat’ay nach der entsetzlichen Schlacht um Aurópéa gehalten hatten, der ließ sich nicht ignorieren. Die Schattensänger waren bei ihren eigenen dunklen Künsten geblieben und die Regenbogenritter hatten sich im Gegenzug nicht darum gekümmert, was sie in ihrem Heiligtum nahe dem Montazíel getrieben hatten. Nur bei wenigen Gelegenheiten waren die Hellen und die Dunklen einander danach begegnet. Man hatte einander … respektiert und weitgehend ignoriert.
Zu lange, das stand fest. Sonst hatte Siledaú wohl keinen Grund, ihre schreckliche Warnung auszusprechen.
Dass sich die Schwarzgewandeten nun etwas ausgedacht hatten, das das Weltenspiel verheeren konnte, war … überraschend. Aber wenn Siledaú Recht behielt, dann war die Lage ernst, würde wie eine Flutwelle ausbranden und zuerst den Cielástel und Aurópéa, dann den Rest der Welt verheeren.
Nun, die Alte hatte wohl Recht, dass es seine Verantwortung, die Aufgabe des Obersten der Regenbogenritters war, zu handeln, bevor die Dunklen ihn vor vollendete Tatsachen stellten und in Zugzwang brachten. Das war er Elosál und den anderen arcaval’ay schuldig und vor allem natürlich Advon. Advon, seinem Sohn, den er so innig liebte und für den er doch so wenig tun konnte.
Die Schattensänger sollten nur sehen, wozu ein Vater fähig war, um sein Kind zu beschützen.
Cýelú Irísolor spornte sein Reittier an und hielt auf den Boscargén zu. Sein Einhorn schimmerte weiß wie der Mond hoch oben am Himmel.
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„Ich hab gehört, er soll wirklich gut sein”, sagte Láas Grootplen.
„Das muss er erst mal beweisen. Er ist doch noch ein Wiegenkind.”
„Ein Wiegenkind? Da bin ich gespannt! Womöglich verprügelt er dich mit seiner Rassel, Jándris!”
Jándris Altabete schaute sich um, fand in Reichweite aber nur eines von Tíjnjes Kuscheltieren. Nachlässig griff er danach und warf das Fellhäschen nach seinem älteren Kameraden. Láas lachte und duckte sich geschickt weg.
„He!”, protestierte Tíjnje Moréaval, sprang empört auf und holte sich das Spielzeug zurück. „Das ist ungezogen.”
„Aber er hat mich geärgert!”
„Dann wirf ihm doch dein Schwert an den Kopf”, grollte die Kleine, umklammerte nachdrücklich das Häschen und setzte sich trotzig wieder ans Feuer, näher zu ihrer Mutter.
„Frieden, Kinder”, mahnte die yarlara. „Ich will keinen Streit in meiner Stube. Jándris, wenn du dich nicht artig benimmst, magst du in dein eigenes Gemach gehen.”
Die beiden Jungen senkten errötend den Blick. Vor der edlen Dame wollte Jándris sich natürlich nicht schlecht benehmen. Láas war es peinlich, von seiner deutlich älteren Schwester ermahnt zu werden. Im Haus der Familie Grootplen war der Junge ein Nachzügler gewesen und von den Mächten gleich mit zwei großen Schwestern gestraft, die er beide ebenso anstrengend fand wie er sie liebte.
Daap Grootplen, sein Vater, saß ebenfalls in der Unterkunft, die Moréaval mit seiner Familie bewohnte, wenn er den Hofdienst versah. Der mynstir [~ yarl im Rang eines Beraters des teirand] schätzte die Stunden, die er mit seinem Sohn, seiner Tochter und der Enkelin verbringen konnte. Er freute sich schon jetzt auf den Winter, wenn sie alle auf seiner eigenen Burg mit seiner yarlara und der anderen Tochter verweilen würden. Er freute sich ebenso daran, dass Láas, sein Erbe, sein Nachfolger, sich so gut mit dem Sohn von Andriér Altabete verstand. Alle yarlay der teiranda von Wijdlant waren sich einig darüber, wie wichtig es sei, dass die Kinder von klein auf miteinander harmonierten. Wie schlimm wäre es, wenn sie untereinander in Streit gerieten, wenn es doch ihre Aufgabe war, das teirandon zu repräsentieren und zu verteidigen?
Ob sich der Sohn von Waýreth Althopian einfügen würde?
„Láas”, sagte der mynstir, „ich erwarte von euch, dass ihr dem Jungen mit Respekt begegnet. Ich will später von niemandem hören, dass ihr ihn geärgert habt.”
„Natürlich nicht, Vater”, sagte Láas.
„Vor allem möchte ich nicht, dass ihr beide euch überheblich gebärdet, nur weil er jünger ist als ihr. Es gibt absolut keinen Grund, vor ihm mit eurem Geschick zu prahlen. Das ist nicht schwer, wenn ihr ihm mehrere Sommer voraus seid.”
Die Jungen nickten. Ob Einsicht dabei war, ließ sich aus ihren harmlos dreinblickenden Gesichtern nicht ersehen. Ihren Übermut wussten beide gut hinter braven Mienen zu verbergen.
„Er ist der Sohn von Waýreth Althopian”, fügte der mynstir warnend hinzu und zwinkerte Jándris zu. „Wahrscheinlich hatte er gar keine Rassel. Herr Waýreth wird ihm gleich ein Schwert gegeben haben.”
„Wie traurig”, sagte Tíjnje ernsthaft. „Mit Schwertern kann man doch nicht spielen.”
„Und mit Fellhäschen kann man nicht fechten.”
Tíjnje schnaubte und streckte ihrem jungen Onkel die Zunge heraus.
„Ist denn sicher, dass der Junge seinen Vater begleiten wird?”, erkundigte die yarlara sich bei ihrem Vater. „Nach so kurzer Zeit?”
„So stand es in der Botschaft”, bestätigte ihr Vater. „Wie es scheint, hat auch yarl Emberbey seinen Sohn dabei. Wenn die Mächte kein Unwetter dazwischen schicken, sollten sie alle in den nächsten zwei Tagen hier eintreffen, wie der teirand es gewünscht hat.”
„Der Knabe von Emberbey auch?” Die junge Frau seufzte. „Der arme Junge. Auf so eine Weise die Mutter zu verlieren …”
„Was ist denn der Sohn von yarl Emberbey für einer?”, fragte Láas. Über diesen Knaben war ihnen kaum etwas bekannt. „Hatte der eine Rassel oder ein Schwert in der Wiege?”
„Den lasst ihr gefälligst in Ruhe. Der wird mit Euch Raubeinen nicht mittun.”
„Dann kann sich ja Tíjnje um ihn kümmern und ihn herumführen”, sagte Láas grinsend.
„Muss ich?”, erkundigte das kleine Mädchen sich. Es war hin- und hergerissen zwischen Neugierde und Verunsicherung angesichts dessen, dass gleich zwei weitere Jungen erwartet wurden, wenn auch vorerst wohl nur als Gäste für einige Tage.
„Er würde sich sicher sehr darüber freuen, mein Schatz”, sagte der yarlara.
„Na gut. Aber mit meinen Püppchen darf er nicht spielen. Manjév kann ihm auch etwas abgeben.”
„Ich glaube nicht, dass die teirandanja sich mit den beiden abgeben wird”, wandte Jándris ein.
„Doch.” Tíjnje freute sich offensichtlich über ihren Wissensvorsprung. „Seit sie von ihrem Papa erfahren hat, dass die beiden Herren kommen, denkt sie darüber nach, was sie zu ihnen sagen soll.”
„Nun ja”, sagte Láas, der mit seinen dreizehn Sommern schon ein gewisses Verständnis für die höhere Diplomatie hatte, „immerhin sind es die Leute unseres teirand. Da muss sie sich schon gut benehmen.”
„Manjév benimmt sich immer gut!”
„Ich hab gehört, wie die opayra sich in der Küche beklagt hat.”
„Worüber?”, fragte Jándris begierig.
„Es ging um Pfannküchlein, die sie im Gemach der teirandanja gefunden hatte. Die Köchin hat behauptet, sie wisse nicht, wovon die opayra da redet. Die beiden haben gemeckert wie die Zieg- … ich meine, die Damen waren sehr aufgebracht. “
Die yarlara versuchte, ihr Kichern hinter ihrem Ärmel zu verstecken. Tíjnje errötete schuldbewusst. Der mynstir schüttelte belustigt den Kopf und fand es beruhigend, dass auch die teirandanja letztendlich ein Kind war. Mochten die Mächte geben, dass sie alle sich diese Unschuld bewahrten bis zu dem Tag, an dem sie hinter die Träume gingen.
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„Warum schläfst du nicht, Manjév?”, fragte Kíaná von Wijdlant. Sie hatte nachschauen wollen, ob die Tochter bereits ruhte, bevor sie selbst zu Bett ging und hatte die Zimmertür so leise geöffnet, dass das Kind sie nicht hatte kommen hören.
Die teirandanja wandte sich um. Das Mädchen hatte das verglaste Fenster seiner Stube geöffnet, saß auf der Bank in der Nische und schaute sich den Nachthimmel an.
„Der Mond sieht aus wie eine große Perle, nicht wahr, Mama?”
Kíaná von Wijdlant trat ein und setzte sich zu ihrer Tochter. Manjév wich ihrem fragenden Blick aus.
„Der Mond ist Noktámas schönstes Juwel”, bestätigte die teiranda.
„Ich mag die Sterne lieber. Die glitzern.”
Die teiranda lächelte.
„Mama”, fragte das Mädchen, „wenn die beiden Herren und ihre Söhne kommen … was soll ich denn sagen?”
„Du begrüßt sie, wie du es immer tust. Du kennst die Herren doch.”
Manjév nickte nachdenklich. „Ja. Herr Waýreth ist freundlich. Es tut mir so leid, dass seine schöne hýardora nicht mehr da ist. Wie traurig er sein muss.”
„Ich denke, Herr Alsgör ist nicht weniger traurig.”
„Ja, aber Herr Alsgör ist so …”
„Er ist ein von deinem Vater hochgeschätzter und loyaler Herr.”
„Ja, aber er kann nicht lachen. Jedenfalls habe ich es noch nie gesehen, selbst wenn ein lustiger báchorkor da war. Immer schaut er so streng.”
„Das macht ihn nicht zu einem schlechten Menschen, Manjév.”
Sie seufzte. „Ich weiß. Und ich werde auch ganz gewiss höflich sein. Aber wenn er schon so ist, wie wird sein Sohn sein? Und der von Herrn Waýreth?”
„Du musst nicht lange mit den Herren reden, Manjév. Sie werden ohnehin wenig Muße dazu haben. Dein Vater hat mit ihnen Wichtiges zu besprechen.”
„Du nicht?”
„Nein. Nicht über dieselben Dinge.”
„Du willst mit dem Magier sprechen, den Herr Jóndere herbeiholen soll, nicht wahr?”
„Ich habe schon gehört, dass du davon erfahren hast.”
Manjév schaute nachdenklich zum Himmel. „Ich habe noch nie einen Magier gesehen.”
„Es gibt vielleicht außer ihm und den fernen Regenbogenrittern keinen mehr im Weltenspiel, Manjév. Deshalb ist es so wichtig, dass ich mit ihm rede.”
„Worüber?”
Kíaná von Wijdlant lächelte. „Neugierde, Manjév …”
„Ist keine Tugend, ja, ich weiß. Ich würde trotzdem gern dabei sein. Darf ich, Mama?”
„Wobei?”, fragte die teiranda verwirrt.
„Wenn Papa mit den Herren und du mit dem Magier spricht.”
„Nein, Manjév. Was dein Vater zu bereden hat, würde dich langweilen. Es ist … nun, es sind Dinge unter Erwachsenen. Sei dankbar, dass du dich damit noch nicht beschäftigen musst.”
Manjév wartete auffordernd.
„Was ich mit dem Magier zu bereden habe, mein Kind, ist nicht für dich bestimmt.”
„Ist es ein Geheimnis, Mama?”
„Ja. Zumindest bis auf Weiteres.”
„Na gut. Ich geh dann jetzt schlafen.” Die teirandanja lächelte, umarmte die Mutter und tappte dann auf bloßen Füßen hinüber zu ihrem Bett, verschwand hinter dem Behang, der die Schlafstätte vom Rest des Raumes abtrennte.
Kíaná von Wijdlant runzelte die Stirn. Das war zu einfach.
„Möchtest du, dass ich dir noch ein Lied vorsinge?”, fragte die teiranda.
Einen Moment lang blieb es still hinter der samtenen Gardine.
„Ja”, kam es dann von dem Kind. „Bitte.” Aber der Vorhang blieb geschlossen.
Die teiranda erhob sich und schloss das Fenster. Dann ließ sie sich auf einem Sessel neben dem Bett nieder, nachdem sie ein paar kostbare Puppen beiseite geräumt hatte. Was wäre ein angemessenes Lied für die geliebte Tochter? Manjév war bereits zu alt für einfache Wiegenlieder, und etwas Erbauliches würde sie noch nicht verstehen.
Schließlich entsann Kíaná von Wijdlant sich einer Melodie, die ihr eigener Vater damals so oft vorgetragen hatte, ohne Text, ungelenk mit seiner brummenden Bassstimme. So unfassbar lang war das her gewesen, und so unendlich kostbar die Momente, in denen der mächtige, verwitwete Mann hilflos bei ihr gesessen hatte und versucht hatte, das schwache, kränkliche Töchterchen zu trösten und Geborgenheit zu geben. Dass ihr diese Erinnerungen wieder zugänglich waren, das wusste die teiranda, hatte sie dem Magier zu verdanken. Sie schmerzten, die Erinnerungen, und doch dankte sie den Mächten dafür, dass sie nun wieder das waren, die Stimme, die Melodie, die vergangene Liebe.
Kíaná von Wijdlant sang. Hinter dem Bettvorhang hörte Manjév still zu. Sie wunderte sich über das Lied, aber um nichts in der Welt hätte sie der Mutter das gesagt.
Bei der Sache war sie allerdings nicht. In ihrem Kopf baute sie Idee um Idee zusammen wie ein Scherbenspiel, bis sich daraus ein Plan bildete. Darüber schlief die teirandanja ein.
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