
Drei Tage waren vergangen, seit der Mörder in der Wüste … ja, was eigentlich?
Galéon wusste es beim besten Willen nicht zu sagen, und er hatte Angst, darüber nachzudenken. Das, was er durch die Augen des unglücklichen Mannes gesehen hatte, war so schrecklich gewesen, dass er es nicht in seinen Verstand hinein lassen wollte. Zumindest nicht ohne eine bessere Vorbereitung.
Der báchorkor war hungrig und fühlte sich krank und müde, als er durch die Hektik der Straßen von Aurópéa schlich, dem geschäftigen, redlichen Trubel des Tages. Er hielt sich nahe bei den weiß gekalkten Hauswänden, um Menschen und Fuhrwerken auszuweichen, und um Halt zu finden, wenn er wieder zu taumeln begann. Aus der Herberge im südlichen Bezirk der Stadt hatte man ihn herausgeworfen, kaum dass er wieder zu sich gekommen war. Zwei Tage hatte er dort besinnungslos in der winzigen Kammer gelegen, die er angemietet hatte. Bei näherer Betrachtung war es wohl sehr anständig von dem Inhaber und Wirt gewesen, dass man ihn nicht einfach auf die Straße geschleppt und dort seinem Schicksal überlassen hatte. Sicher hatte man in der Herberge angenommen, dass er sich unerfahren und maßlos an irgendeinem exotischen Rauschzeug übernommen hatte. Kaum jedoch, dass der junge Mann wieder bei Bewusstsein war, hatte man von ihm verlangt, die Zeche für seinen Aufenthalt zu bezahlen. Da die letzten Münzen verschwunden waren, die Galéon bei sich geführt hatte und er in den vergangenen Tagen auch nicht in der Lage gewesen war, die Gäste mit seinen Vorträgen zu unterhalten, hatten sie ihn äußerst grob vor die Tür gesetzt und davongejagt. Er solle sich glücklich schätzen, dass man ihn nicht der Zechprellerei bezichtige und schadlos laufen ließ, belehrte man ihn.
Natürlich war Galéon klar, dass sie mit dieser Milde nur verhindern wollten, dass er seinerseits gegenüber der Stadtwache Dinge ausplauderte, die er eventuell in der Taverne beobachtet hatte. Wie dem auch sei, beiden Seiten ersparte es Ärger.
Der báchorkor schwankte vorsichtig die Wände entlang und folgte der Steigung. Aurópéa schmiegte sich um eine Hügelkuppe. Dort, etwas erhöht, befanden sich die Villen der wohlhabenden Stadtbewohner, mehrgeschossige großzügige Bauten mit in zarten bunten Farben gestrichenen Wänden und mit goldenen Verzierungen, die den Sonnenschein fingen und reflektierten. Im Mittelpunkt der Oberstadt (und somit im Zentrum von Aurópéa) befand sich auch der Palast das konsej, ein eindrucksvoller Prachtbau in Form einer weitläufigen Rotunde. Hier tagten die Alten, von hier aus lenkten sie die Stadt.
Doch Galéon wollte nicht zum Ratspalast. Noch nicht. Noch wusste er nicht genug.
Gegen Mittag hatte er die dichtgedrängten Häuserfluchten der Unterstadt hinter sich gelassen. Die ersten freistehenden Bäume spendeten mit ihren großen fächerförmigen Blätter Schatten und bescheidenere, freistehende Villen mit eingezäunten Grundstücken tauchten zwischen den gewöhnlichen Gebäuden auf. Galéon fand einen kleinen Brunnen, stakste dorthin und schöpfte gierig von dem überraschend kalten Wasser. Dann blieb er eine Weile unter dem grünen Blätterschirm einer Areqa [~ palmenartiger Baum] sitzen und spürte, wie langsam zumindest seine stechenden Kopfschmerzen nachließen. Sein Blick schweifte über die Passanten, die in und aus der Oberstadt kamen. Es war deutlich weniger Betrieb hier und der Großteil der geschäftig Umhergehenden war als Gesinde der reichen Kaufleute und Beamten zu erkennen. Aber die nützten ihm nichts. Für die nächsten Tage benötigte er einen der Hausherren selbst, einen, der die Tugend und Freundlichkeit besitzen würde, einem mittellosen báchorkor Obdach zu gewähren.
Wenn ihn doch nur der Blick durch die Augen des Mörders nicht körperlich so geschwächt hatte! Wenn er diese Gabe doch nur besser unter Kontrolle hätte und wüsste, wie man sie richtig anwandte!
Zwei Gongschläge harrte Galéon, halb dösend, halb aufmerksam an der Straße in die Oberstadt aus. Ein Dreiertrupp Stadtwächter, der auf seiner Runde vorbeikam, musterte ihn kritisch, ließ ihn aber in Ruhe. Solange er nicht versuchte, sich durch private Türen zu schleichen, ließ er sich nichts zuschulden kommen.
Endlich schien sich die erhoffte Gelegenheit zu ergeben. Aus der westlichen Unterstadt nahte ein Grüppchen Berittener und eine Handvoll Fußvolk, beladen mit Kiepen und Körben. Offenbar hatte ein wohlhabender Bewohner der Oberstadt umfangreiche Einkäufe gemacht. Die Leute begleiteten eine von Eseln getragene, schlichte weiße Sänfte mit perlfarbenen Gazeschleiern, die jedoch nicht ganz zugezogen waren. Drei der Reiter waren offenkundig Wachleute zum Schutz des Sänftenpassagiers. Der vierte war ein uralter, aber offenbar recht rüstiger Mann mit kostbaren Gewändern aus einem Stoff, der grau schimmerte wie Hämatit. Der Sattel seines feingliedrigen falben Pferdes war gepolstert und mit einer Lehne versehen, die ihm das Reiten wohl bequemer machte, aber er sah nicht aus, als ob er das wirklich gebraucht hätte.
Galéon erhob sich eilig, flehte zu den Mächten, dass er nun nicht seine Füße durcheinander bringen würde und ging der Gruppe so eilig (und geradlinig) entgegen, wie er vermochte, beide Hände vor der Brust verschränkt, die Handflächen nach außen. So zeigte er, dass er unbewaffnet war und ein Anliegen hatte. Dabei warf er dem, der der Anführer zu sein schien, einen fragenden Blick zu. Der Reiter zuckte die Achseln und nickte. Die Gruppe hielt nicht an, verringerte aber ihr Tempo, sodass er mit der Sänfte Schritt halten konnte.
„Herr”, sagte Galéon demütig, „seid Ihr interessiert an den Diensten eines weitgereisten báchorkor?”
„Pack dich”, ertönte es vom Rücken des Pferdes. „Wir brauchen nichts.”
„Nun seid doch nicht so unfreundlich, Úldaise!” Der alte Herr in der Sänfte griff mit dürren Fingern nach dem Schleier und schob ihn ein Stück weiter beiseite. „Sprich, báchorkor. Was könntest du uns müden Greisen wohl noch Neues erzählen?”
„Was immer Ihr hören wollt. Ich habe ebenso sinnliche Geschichten von begehrenswerten schönen fánjulaé zu bieten wie Erbauliches über die großen Taten von Helden oder die interessanten Reisen und Entdeckungen von forscoray.”
„Nun jagt ihn doch schon fort, Saháalír. Was wollt Ihr Eure Zeit mit einem so liederlichen Kerl verschwenden?”
„Es ist meine Zeit, Úldaise. Wer weiß, wie viel davon mir die Mächte noch gewähren?”
Vier Sommer, dachte Galéon unwillkürlich. Sofern dir niemand zuvor mit Gewalt ans Leben geht.
Der Ratsherr Úldaise trieb sein Pferd an und so neben die Sänfte, dass es nun unmittelbar hinter dem báchorkor dahin schritt. Galéon schaute flüchtig auf und fröstelte. Das also war der jüngste der Alten im Rat von Aurópéa, jener, unter dessen Einflussnahme all diese Veränderungen ihren Lauf nahmen. Nun, die Mächte hätten ihm keinen besseren Wink geben können als ausgerechnet diesen beiden Mächtigen zu begegnen. Saháalír, das wusste Galéon, war der Älteste des konsej, einer, der von jedem Einzelnen mit höchstem Respekt zu behandeln war. Selbst von seinem deutlich rüstigeren Amtgefährten.
„Bist du schon lange in Aurópéa?”, fragte der Ehrenwerte.
„Seit einem halben Mond etwa, Herr. Zuletzt habe ich einen ganzen Sommer in Ivaál verbracht und kam anschließend hierher.”
„Ah, Iváal. Ich erinnere mich. In meiner Jugend war ich lange Zeit dort. Ich war maedlor am Hof des teirand. Eine schöne Zeit.”
„Gerne frische ich Eure Erinnerung an Eure glücklichen Tage dort auf.” Galéon spürte den unwilligen Blick des reitenden Ratsherrn unangenehm in seinem Rücken. Ihm war, als störe die Gegenwart des alten Mannes seine Übelkeit und Benommenheit wieder auf.
Der Alte Saháalír lächelte. Sein greises Gesicht war bedeckt von Altersflecken und Runzeln, aber in seinen Augen leuchtete immer noch ein Überrest der Abenteuerlust und Neugierde, die ihn in seiner Jugend erfüllt haben mochte.
„Ich hätte schon Lust, etwas Liebbehaltenes oder auch Neues zu hören. Aber warum bist du nicht unten in der Stadt mit deinen Geschichten?”
„Da war ich, Herr. Ich habe viel gesehen und gehört in den Tavernen und auf den Märkten.”
„Ach”, kam es abschätzig von Úldaise.
„Es ist mir ein Anliegen, meine Geschichten bisweilen auch anspruchsvollem und gebildetem Publikum vorzutragen.” Vielleicht würde Schmeichelei die Türen öffnen.
„Hast du Erfahrung mit solcherlei Zuhörern?” Saháalír war sichtlich amüsiert und schon fast überzeugt.
„Nun”, gab Galéon sich bescheiden, „ich habe bereits vor teiranday und zahllosen yarlay gestanden, ohne dass jemand sich gelangweilt hätte.”
„Zahllose, so. Ein gesundes Selbstbewusstsein hast du in deiner Jugend.”
„Saháalír, nun lasst doch diesen Unfug. Es gibt genug Bedeutsameres, womit wir unsere Zeit verbringen sollten.”
„Lasst es meine Sache sein, Úldaise. Und du, Bursche, was verlangst du für deine Geschichten?”
„Ich bin beschieden, Herr. Gewährt mir nur ein Nachtlager, eine einfache Mahlzeit und das, was Euch hernach meine Erzählungen wert zu sein scheinen.”
Úldaise stöhnte und warf dem báchorkor einen missbilligenden Blick zu. Seine Augen waren sehr dunkel, fast wie Kohle. „Narreteien”, zischte er.
„Wie es der Zufall so fügt”, sagte der Ratsherr, „gibt es heute Nacht in meinem Haus eine kleine Zusammenkunft. Kein Fest, nur ein Treffen mit einigen Freunden aus dem konsej. Wenn deine Geschichten gefallen, mag es sein, dass dich auch andere hören wollen und du ein paar Tage ein gutes Auskommen hast.”
„Ich danke Euch, Herr.”
„Komm nur gleich mit uns und lass dir in meinem Haus zu essen und eine Gelegenheit zum Waschen geben. Geh mit meinem Gesinde mit, dann wird sich alles finden. Und nun lass uns weiter. Wir haben es eilig, zum Palast zu kommen.”
Der Alte schloss den Vorhang, und die Berittenen, die ihn gehört hatten, trabten an. Auch Úldaise, der sein Pferd energisch zwischen der Sänfte und Galéon hindurch, nicht ohne dem báchorkor jählings einen unsanften Tritt gegen die Schulter zu versetzen. Der geriet dabei ins Straucheln, wurde aber von einem der Kiepenträger aufgefangen, bevor er stürzen konnte. Und schon hatten die Sänfte und Reiter Abstand zwischen sich und die schwerbeladenen Fußgänger gebracht.
„Sieh dich vor”, riet der Knecht belustigt. „Úldaise hat wohl was gegen Unterhaltung.”
Galéon rieb sich den schmerzenden Arm. Der Stoß hatte gesessen. „Das scheint so. Warum wohl?”
„Am besten”, riet ein anderer Kiepenträger, „du bleibst bei Erbaulichem aus der Jugend dieser Tattergreise. Das hören sie gerne.”
„Ja. Schwafel denen was von Ruhm und Glorie des alten, erhabenen Aurópéa vor, bis sie alle wegdösen. Bloß nichts, was das alte Blut in Wallung bringt”, lachte der erste und puffte Galéon in die Seite. „Nicht, dass denen noch der Atem wegbleibt.”
„Ach, lasst den armen Kerl doch in Ruhe und seid um der Mächte willen etwas leiser!”, fuhr eine Magd sie an, die einen sperrigen Korb mit getrocknetem Obst balancierte. „Was, wenn Euch jemand hört!”
Die Männer verstummten und gingen eilig weiter. Offenbar war die Ermahnung ernst zu nehmen.
„Über die Glorie des alten Aurópéa?”, fragte Galéon verwirrt.
„Damit machst du nichts falsch. Erzähl Sachen, die lange vorbei oder weit, weit weg sind. Nichts, was den konsej nichts angeht. Du verstehst.”
„Nein.”
„Dann ist dir nicht zu helfen”, sagte sie mit einem schiefen Lächeln. „Schade. Du scheinst ein netter Bursche zu sein. An deiner Stelle würde ich zusehen, kein Aufsehen zu erregen. Und nun stell keine Fragen. Komm mit und geh wieder … so schnell du kannst.
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Advon Irísolor saß über seine Schreibtafel gebeugt im Schulzimmer und kopierte das alte Buch in Wachs, Zeile um Zeile, Letter für Letter. Wie immer verloschen die Zeichen, sobald er allen Platz aufgebraucht hatte, aber sie waren nicht wirklich fort. Siledaú hatte einen Weg, um zu prüfen, ob er Teile des sinnlosen Textes ausgelassen oder sich einen Fehler erlaubt hatte. Advon hegte den Verdacht, dass die Tafel ihn verpetzte, wenn er seine Aufgabe nicht ernst nahm. Aus diesem Grund war es auch möglich, dass die Alte ihn unbeaufsichtigt lassen konnte. Der Junge konnte nicht eher aufhören zu schreiben, als dass sie wieder zurückkehrte und es ihm erließ.
Auf diese Weise musste sie nicht einmal die Tür schließen, wenn sie fortging. Ungehorsam oder Nachlässigkeiten entgingen ihr nicht. Wenn er etwas falsch machte, schalt sie ihn und sagte Worte, unter denen er sich noch kleiner und dümmer fühlte, als er sich ohnehin schon vorkam. Sie würde es den Eltern sagen, wenn er sich nicht zusammenrisse, drohte sie. Und dann wären die Mutter und der Vater traurig und enttäuscht.
Advon schrieb. Er fragte sich nicht mehr, was tatsächlich in dem alten Buch stand und was seine unmagischen Augen niemals würden lesen können. Es war ihm gleich, ob es Schriften über geheimnisvolle Mysterien waren, ein Heldenroman oder ein Kochrezept. Das Buch, die Tafel und der Griffel fesselten ihn in dieses Zimmer. Draußen war ein heißer blauer Tag.
Wie es Farbenspiel wohl erging? Ob er immer noch im Stall angekettet war?
Zwei Tage war es her, seit Cýelú Irísolor, sein Vater, der Goldene, nach Norden aufgebrochen war. Mutter und Sohn hatten dem Aufbruch des Hellen Magiers beigewohnt, als der sich in den frühen Morgenstunden auf seinem schneeweißen Einhorn auf den Weg gemacht hatte. Was genau der Goldene vorhatte, wohin sein Weg ihn führte, wusste nicht einmal die fajía Elosál genau. Advon hatte genau gespürt, dass dies der Mutter nicht gefiel; ängstlich und ärgerlich zu gleichen Teilen war gewesen, ohne dass sie es ausgesprochen hätte. Sie sagte nichts und der Vater schien erleichtert, dass er ihr nicht antworten musste. Siledaú hatte die Abschiedsszene beobachtet, ebenfalls wortlos, aber sicherlich bereit, falsche Worte im rechten Moment zu unterbrechen.
Cýelú Irísolor war es sichtlich unwohl gewesen, allein, ohne Begleiter zu reiten. Auch das war selten; wenn der Goldene den Cielástel verließ, hatte er in der Regel immer wenigstens einen der arcaval’ay bei sich.
Wie gerne wäre der Junge mit seinem Vater gegangen, wie gern hätte er etwas anderes gesehen als die immer gleiche Herrlichkeit des Cielástel, als den Blick auf die endlose Wüste und die Stadt. Cýelú hatte ihn getröstet, versucht, ihn mit dem Versprechen, auf dem Rückweg ein schönes Spielzeug mitzubringen, zu bestechen. War der oberste der arcaval’ay, der hýardor der fajía wirklich so naiv zu glauben, dass es das war, was der Sohn begehrte?
Advon seufzte und kritzelte weiter. Sein Unwillen war längst gebrochen. Was er hier tat, verschwendete seine Zeit, Zeit, in der er bei den Tieren hätte sein können, sich im Reiten oder Kämpfen hätte üben oder seinetwegen sogar ein richtiges Buch mit einer spannenden Geschichte hätte lesen können. Aber es war nicht allein die Sinnlosigkeit, die das Kind zermürbte. Den Knaben fehlten die Worte, um es präzise auszudrücken, aber er hatte das Gefühl, mit jedem Tag in Siledaús Schulstube dümmer zu werden.
Aus den Augenwinkeln bemerkte er eine lautlose Bewegung an der Tür und schaute auf.
„Mama?”, fragte er dann überrascht.
„Wo ist Siledaú?”
„Weiß ich nicht. Sie war schon ziemlich lange nicht mehr hier.”
Elosál trat ein und schaute sich interessiert um. Advon war hin- und hergerissen, ob er den Griffel aus der Hand legen sollte oder nicht. Er konnte sich nicht erinnern, dass die Mutter schon einmal in Siledaús Bücherkammer gewesen wäre, während die Alte nicht zugegen war.
„Und sie lässt dich hier ganz allein?”
„Na ja, ich kann hier ja nichts anstellen.”
Die fajía lächelte und hockte sich, in Ermangelung eines zweiten Stuhles, neben ihn an die Tischplatte. „Was machst du da?”
„Ich … übe Buchstaben.”
„Solltest du nicht längst mit Feder und Tinte schreiben können?”
„Kann ich ja. Schon längst. Aber so viel Papier, wie ich bräuchte, gibt es in ganz Aurópéa nicht.”
„Lass sehen.” Sie hielt ihm auffordernd die Hand entgegen. Der Junge zögerte und schob seiner Mutter das Wachsbrettchen zu. Eine zaghafte Hoffnung flammte in ihm auf. Vielleicht erkannte die Mutter die Sinnlosigkeit seines Tuns und konnte etwas dagegen einwenden. Vielleicht …
Kaum berührten Elosáls Fingerspitzen die Tafel, verflüssigte sich das Wachs, so unvermittelt und heftig, als habe man ein Stück Eis in ein Feuer geworfen. Es spritzte empor wie Fett aus einer Pfanne und hinterließ unzählige Kleckse auf dem ganzen Tisch.
Advon zuckte zurück, begriff, was geschehen war und lachte unwillkürlich auf, so komisch schien ihm, was geschehen war. Doch dann verstummte er erschrocken. Elosáls Augen glommen golden vor Schreck. Was immer mit der Tafel geschehen war, sie hatte es zwar verursacht, aber nicht beabsichtigt. Ein, zwei Wimpernschläge lag die Verwirrung auf dem Antlitz der fajija. Dann verlosch das Strahlen ihres Blickes und wich misstrauischer Ratlosigkeit.
„Was war das, Mama?”, fragte Advon leise.
„Nun”, antwortete Elosál, „es scheint, ich habe deine Tafel kaputt gemacht.”
„Und jetzt?”
„Ich weiß nicht. Worauf hast du Lust?”
Advon blinzelte sie verwirrt an. Sicher hatte er das gerade nur geträumt.
„Ich darf hier doch nicht weg, bis Siledaú es erlaubt.”
„Ich bin deine Mutter. Siledaú ist nicht hier, und sie wird mir eine Erklärung dafür geben müssen. Bis dahin entscheide ich, was du tust. Deine Tafel ist sowieso dahin.” Sie deutete nachdrücklich auf das im Holzrahmen vor sich hin blubbernde Wachs. „Wenn ich entscheide, dass du bei mir sein sollst, dann hat das den Vorrang.”
Advons Herz klopfte schneller. Sollte er es wagen?
„Können wir Farbenspiel auf die Weide zu den anderen lassen?”
„Natürlich. Wenn du nicht lernst, soll dein Tier auch Freude haben.” Sie lächelte. „Und vielleicht wäre es ganz gut, wenn wir einfach vergessen, ihn danach zurück in den Stall zu holen.”
Advon schlang stürmisch seine Arme um seine Mutter. Elosál ließ ihn einen Augenblick gewähren. Dann schob sie den Jungen sanft wieder von sich, um aufstehen zu können. Dabei fiel ihr Blick auf die Lektüre, aus dem der Junge abgeschrieben hatte.
Die goldenen Augen verfinsterten sich. Dann griff die fajía nach dem Buch und klappte es energisch zu. „Komm. Du sollst nicht den ganzen Tag hier verschwenden.”
Kurz darauf standen sie gemeinsam am Rand der großen Wiese auf der westlichen, von Aurópéa abgewandten Seite der Burg und schauten zu, wie Farbenspiel ausgelassen herumtollte. Der seifenblasenbunt schillernde Hengst jagte vom einen Ende der Koppel zum nächsten, buckelte und keilte glücklich aus und flatterte sogar ein Stück weit umher, bis der Zauber über der Wiese seinen Flug stoppte. Die ganze große Weide, auf der die Einhörner grasten, war mit einem unsichtbaren Bann begrenzt; die einzige Möglichkeit, ein geflügeltes Tier einzuzäunen. Farbenspiel gebärdete sich so übermütig, das eines der älteren Einhörner, der feuerrote Hengst des roten arcaval’ay, ihn schließlich zwickend und mit den riesigen Flügeln klapsend zu verjagen begann, damit die Herde ungestört grasen könnte.
Sogar einige der Regenbogenritter hatten sich zu ihrer Herrin und deren Sohn gesellt und beobachteten amüsiert das übermütige Gebaren des jungen Einhorns.
„Mit dem hast du einen guten Gefährten”, sagte der violette Ritter zu Advon. „Der wird mal der schnellste und stärkste von allen sein.”
„Wirklich?”
„Und kühn ist er auch”, bestätigte der Rote. „Wie frech der meinem alten Gaul zusetzt!”
Advon strahlte und freute sich über die Anerkennung der Hellen Magier. Doch dann trübte sich seine Laune wieder. „Wenn ich doch jemals mit Euch reiten dürfte.”
„Ein paar Sommer noch”, tröstete der Violette. „Dann nehmen wir dich mit in die Wüste.”
„Bitte”, mahnte Elosál ruhig und brachte die arcaval’ay zum Schweigen. Bis auf den Gelben.
„Wir werden die Gefahr aus dem Norden besiegen”, sagte er. „Es ist nur eine Frage des rechten Moments.”
„Wäre es doch nur das”, sagte die fajía. Mehr brauchte es nicht, um Advon schmerzhaft ins Gedächtnis zu rufen, dass er niemals einer der arcaval’ay sein würde. Nicht einmal ein Magier würde er sein. Wenn es so ausging, wie Siledaú es ihm jeden Tag mal mehr, mal weniger deutlich prophezeite, würde er sein Leben als unkundiger Mensch beenden.
Die Regenbogenritter und auch die fajíaé waren keine Menschen, nicht wirklich. Was genau sie waren, wussten sie vermutlich selbst nicht. Fest stand nur, dass sie uralt und einst von einem anderen Ort gekommen waren, um Pataghíu zu dienen. Sie waren nicht unsterblich, aber die Zeit floss für sie anders als für menschliche Wesen. Das hatte irgendetwas mit dem Schutz zu tun, den der Cielástel ihnen bot, aber Advon wusste nicht, worin das Geheimnis lag. Vielleicht hätte man ihn eines Tages eingeweiht, wenn Pataghíu ihm auch Magie geschenkt hätte.
Advon blickte zu den drei Rittern auf, dem roten, dem gelben und dem violetten. Sie unterschieden sich für ein ungeübtes Auge nur anhand der Farben ihrer Gewänder und ihres Rüstzeugs, ansonsten waren sie einander ähnlich wie ein Ei dem anderen. Die arcaval’ay waren große, schlanke Wesen mit bleichen, ebenmäßigen Gesichtern und weißblondem Haar, das ihnen allen fast bis zu den Hüften reichte. Sieben von ihnen waren immer im Cielástel, aber Advon wusste, wenn mehr von ihnen benötigt wurden, dann würde es plötzlich … mehr von ihnen geben. Mochten die Mächte wissen, wie das zu sich ging. Vermutlich wusste nur Pataghíu selbst, was es mit dieser Magie auf sich hatte.
„Herrin”, erkundigte sich der Gelbe, „wisst Ihr, wohin der Meister geritten ist?”
„Nein. Er hat es auch mir nicht verraten.”
„Wie ist es möglich, dass er ein Geheimnis vor Euch hat?”
„Ich habe nicht weiter geforscht. Ich vertraue meinem hýardor, dass er einen Grund dafür hat, es mir nicht zu sagen.”
Die arcaval’ay schwiegen, aber auf ihren alterslosen Gesichtern malte sich Skepsis ab.
„Er hat mir versichert, dass er nicht in den Kampf reitet. Er wollte nicht länger fort sein als fünf Tage.”
„Wenn er sich zwei und einen halben Tag nordwärts hielte, im Flug, kommt er dem Montazíel sehr nahe.”
„Ich weiß. Aber kaum darüber hinaus. Möglicherweise ist er tatsächlich unterwegs, um auf dem Gipfel Pataghíu anzurufen. Wir müssen warten.”
Advon hörte nicht mehr zu. Was die Erwachsenen über das Heiligtum auf dem Gipfel der Welt zu reden hatten, interessierte ihn nicht. Dass der Vater einige Tage unterwegs war, sorgte ihn weniger, als es angemessen gewesen wäre. Er bekam den Vater ohnehin nur selten zu Gesicht, obwohl sie beide im Cielástel lebten war es, als würden sie einander immer um wenige Momente verpassten.
Seine Mutter, die fajía war bei ihm. Sie hatte ihn aus dem verhassten Studierzimmer geholt und stand hier neben ihm, er konnte sie berühren und ihre vertraute, ihre warme Stimme hören, auch wenn sie über langweiliges Zeug sprach. Advon fasste nach den schlanken weißen Fingern und drückte sie, während er den Blick nicht von Farbenspiel abwandte. Der hatte zwischenzeitlich noch das grüne und das blaue Einhorn in eine übermütige Keilerei verwickelt, und nun jagten sie alle hin und her, die Erde bebte unter ihren stampfenden Hufen, die langen Haare der Regenbogenritter und der Fee wehten in dem Luftzug, den die Tiere im Vorbeisausen mit ihren Schwingen erzeugten. Die Erwachsenen kümmerten sich nicht um dieses Schauspiel, auch nicht, als die ganze Herde sich in die Luft schwang und dort im Kreis umher preschte, immer entlang dem magischen Zaun. Farbenspiel, der den Aufruhr angerichtet hatte, wirbelte in ihrer Mitte umher wie ein Federchen auf einem Wasserstrudel, löste sich plötzlich aus der Masse der gefiederten bunten Körper und setzte wieder am Boden auf, während die Übrigen noch in der Runde rannten, als hätten sie ihr Ziel vergessen. Der Hengst trottete auf den Jungen zu und streckte ihm die samtgraue Schnauze entgegen. Advon ließ die Hand seiner Mutter los, um den großen gehörnten Kopf umarmen zu können.
„Bald”, wisperte er dem Tier ins Ohr. „Es ist nur eine Frage des rechten Moments.”
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