
Yarl Moréaval hatte zunächst gezögert, als die kleine Tochter des Magiers ihn so zutraulich angesprochen und darauf bestanden hatte, dass er sie begleitete. Zugleich war dem Ritter bewusst gewesen, welche Ehre das Vertrauen des Schattensängers bedeuten mochte, etwas, dessen er sich demütig und würdig erweisen wollte.
Kaum waren sie einige Schritte vom Haus entfernt, spielten Pflichtgefühl und Respekt keine Rolle mehr. Das Mädchen führte ihn selbstbewusst bei der Hand hierhin und dorthin und plauderte so entzückend, so unschuldig und fröhlich auf ihn ein, dass es warm um sein Herz wurde. Sie erinnerte ihn an Tíjnje, die er in Wijdlant in der Obhut der teiranday zurückgelassen hatte. Weder dem Kind noch seiner hýardora war es recht gewesen, dass er sich auf diese weite Reise begeben hatte. Tíjnje hatte er schließlich mit dem Versprechen, ihr von unterwegs ein schönes Spielzeug mitzubringen besänftigen können, zumindest lange genug, dass sie ihm den Abschied nicht allzu schwer gemacht hatte. Seine hýardora jedoch … wie sehr wünschte er sich, sie wieder umarmen zu können. Die Dame hatte versucht, nicht vor seinen Augen zu weinen, um es ihm nicht zu schwer zu machen, aber er hatte es natürlich bemerkt. Und dabei war er nur zu einem friedlichen Botenritt ausgezogen. Was erst, wenn es gegen eine ernste Gefahr ging? Mochten die Mächte geben, dass das Schicksal ihn nie in ein Gefecht verstieß.
„Ist die teirandanja freundlich?”, fragte Dýamirée und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Jeder im teirandon hat sie gern.”
„Und die teiranda ist auch wirklich ihre Mutter? Der Vater hat nicht eine neue teiranda geholt?”
Jóndere Moreaval schwieg einen Moment verwirrt, bevor er antwortete: „Nein. Die teirandanja ist die leibliche Tochter meiner teiranday. Und alle drei haben sich lieb, so wie du und deine Eltern.”
„Dann ist es ja gut”, sagte Dýamirée zufrieden. „Weißt du, wenn nämlich die richtige Mama einer teirandanja hinter die Träume geht und der teirand eine zweite hýardora findet, dann muss die teirandanja gut achtgeben, dass sie nicht ermordet wird.”
„Darum muss sich die teirandanja nicht sorgen”, antwortete der Ritter verwundert. „Wir sind dazu da, um sie zu beschützen. Ich mache den ganzen Tag nichts anderes, als auf sie aufzupassen.”
„Du musst der teirandanja sagen, dass sie niemals von fremden Leuten rote Äpfel annehmen darf. Oder eine Spindel anfassen. Sticknadeln sind in Ordnung, aber Spindeln sind ganz gefährlich für teirandanjaé. Und wenn sie einmal auf einem Fest mit jemandem tanzt und es ist ihr hýardor, dann soll sie ihm gleich auf einen Zettel aufschreiben, wie sie heißt und wo er sie findet. Der vergisst das sonst.”
„Ich werde es ihr ausrichten”, versprach der yarl ebenso ernsthaft wie verwirrt.
Darüber schien das Kind sich aufrichtig zu freuen. Es gab dem Ritter noch eine ganze Reihe weiterer äußerst wunderlicher Ratschläge mit auf den Weg. So erreichten sie das Ufer des großen Sees, der sich mitten im Boscargén erstreckte. Das Wasser war zu seiner Mitte hin glatt und dunkel, wie ein poliertes schwarzes Spiegelglas und unbewegt; näher am Ufer plätscherten Wellen an den Kiesstrand, hier und da zogen Wasservögel still ihre Bahnen und ab und zu gluckerte ein Fisch empor. Der blaue Himmel und die Wolken daran schienen auf dem Wasser wider. Moréaval hatte nie zuvor etwas gesehen, das zugleich so idyllisch und unheimlich aussah.
Das Kind bemerkte sein Erstaunen.
„Papa sagt, der See ist viel, viel tiefer als der Montazíel hoch ist. Der Montazíel ist sehr hoch, nicht wahr?”
„Manchmal stoßen die Wolken an seinen Gipfel, ja”, bestätigte der yarl, fasziniert vom Wasser.
Sie schaute nachdenklich zum Himmel empor. „Ich würde den großen Berg so gern einmal sehen. Und das Meer. Und die Wüste. Und den immergrünen Wald mit den bunten Blumen und Vögeln. Und … und alles eben.”
„Deine Eltern werden dir all das sicher zeigen, wenn du etwas älter bist.”
„Und deine Tochter will ich auch sehen. Und die teirandanja. Glaubst du, die beiden wären freundlich zu mir?”
„Aber natürlich. Die teirandanja ist ungefähr so alt wie du. Sie würde sich sicher über eine Kameradin freuen, die verständiger ist als meine Tochter. Für manche Dinge ist meine kleine Tíjnje einfach noch zu jung.”
„Ob ich mitkommen kann, um die teirandanja zu besuchen?”
„Ich denke nicht, dass das möglich ist!”
Dýamirée seufzte lautlos, aber sie fragte nicht weiter. Moréaval staunte über die Verständigkeit des Kindes. Manjév von Wijdlant hätte so lange weiter gebeten (und je nach Situation auch angeordnet), bis man ihr nachgegeben hätte.
„Komm”, sagte das Schattensängerkind. „Vielleicht finden wir mein Boot. Mir ist nämlich mein Schiffchen weggeschwommen. Ist konnte es nicht zurückholen. Sicher ist es zwischenzeitlich irgendwo ans Ufer getrieben und hängt in den Binsen fest.”
Er folgte ihr und stellte dabei fest, dass sie nicht mehr plauderte. Vielleicht, so dachte er beunruhigt, hatte er mit seinem unbedachten Reden etwas in ihren Verstand gesetzt, das besser daraus geblieben wäre.
„Magst du nicht auf meinem Pferd reiten?”, fragte er, um sie abzulenken. Tíjnje war damit immer auf andere Gedanken zu bringen. „Ich führe es am Ufer entlang und du kannst aus der Höhe nach deinem Boot schauen?”
„Du bist freundlich”, antwortete Dýamirée geistesabwesend. „Komm, ich zeig dir was Besseres.”
Sie lief ihm leichtfüßig voraus, aber so, dass er ihr ohne Mühe nachgehen konnte. Der Weg führte durch lockeres Gebüsch ein Stück die Böschung aufwärts. Da war etwas am Boden, das weiß und duftig schimmerte. Beim Näherkommen erkannte der Ritter, dass es sich um Blumen handelte, mildweiße Blumen, die dicht an dicht beieinander standen. Es glich im Wuchs wilden Waldwinden, die ein Stück der Erde überwucherten wie ein Netz, aber die Blüten waren anders gewachsen. Eine solche Pflanze kannte der Ritter nicht.
„Schade, dass die Sonne scheint”, erklärte Dýamirée. „Bei Nacht schimmern sie wie der Mond. Sie leuchten.”
„Was ist das?”, fragte Moréaval. Der Anblick der Blumen rührte unvermittelt etwas in ihm an, das er nicht einordnen konnte. Ihm war, als ergriffe urplötzlich eine überwältigende Trauer sein Herz. Er wagte sich nicht näher als einen Schritt weiter heran.
„Ich weiß nicht”, antwortete Dýamirée. „Es ist die einzige Stelle hier im Wald, an der diese Blumen wachsen. Papa sagt, wir dürfen niemals eine von diesen Blumen pflücken. Das ist ganz, ganz wichtig.”
„Nur ein Unhold käme auf die Idee, das zu tun”, brachte der Ritter rau hervor. Bei den Mächten, was war das, was diese schönen weißen Blumen mit ihm anstellten?
„Manchmal”, vertraute Dýamirée ihm an, „sprechen die Blumen zu mir. Nicht wirklich natürlich, sie haben ja keinen Mund und keine Zunge. Aber ich verstehe trotzdem, was sie sagen.”
Der yarl konnte nicht anders. Es drängte ihn, vor den weißen Blumen niederzuknien. Was immer es mit diesen Pflanzen auf sich hatte, es war … auf eine sehr, sehr vage Art vertraut und bitter zugleich.
„Was machst du?”, fragte sie neugierig.
„Es ist so … wunderschön”, wisperte er.
„Aber du weinst ja!”
Hastig griff er sich ins Gesicht und wischte die Träne beiseite. Wie peinlich! „Mir ist etwas ins Auge geraten.”
Das Kind lächelte und hockte sich neben die Blumen nieder.
„Schau mal. Das hier darf ich tun. Die Blumen wollen das.” Ihre zarten Finger griffen nach einer abgeblühten Blume, die bereits einen runden Samenstand gebildet hatte. So vorsichtig diese Berührung war, sie reichte aus, dass die Kapsel aufsprang und einen Regen von winzigen silbergrauen Samen freigab. Dýamirée fing sie geschickt mit der anderen Hand auf.
„Hast du ein Tuch, ein Papier oder eine Dose bei dir?”, fragte sie sachlich.
Moréaval schreckte aus seiner Traurigkeit auf und förderte aus seiner Tasche ein zartgelbes feines Tüchlein hervor. Das hatte seine hýardora ihm als Andenken mitgegeben. Er breitete es aus, damit das Kind die Samenkörner hinein rieseln lassen konnte.
„Gib das deiner hýardora für euren Garten. Dann sind die schönen Blumen immer bei dir.”
„Darfst du mir das denn geben?”, fragte er vorsichtig und faltete das Tuch so sorgsam zusammen, dass nichts herausfallen konnte.
„Lass es unser Geheimnis bleiben. Deins, meines – und das der Blumen.”
„Ich kann das nicht annehmen, Kind. Es ist nicht recht.”
„Doch, ist es. Wir haben kein Blümlein abgebrochen, und wenn du so große Freude an den Blumen hast, dass dir dein Herz davon übergeht, dann wachsen sie in deinem Garten sicher besonders gut weiter.”
„Aber …”
„Papa sagt, die Pflanzen machen Samen, damit sie weitergetragen werden, manche durch Früchte, manche durch den Wind oder durch Tiere. Trag du die hier woanders hin.”
„Ich danke dir”, sagte er ehrfürchtig.
Sie lächelte. Dann sprang sie unbekümmert auf und lief weiter. „Komm! Jetzt mag ich auf dem schönen großen Pferd reiten!”
Jóndere Moréaval erhob sich und warf einen letzten, einen sehnsüchtigen Blick auf die unerreichbaren Blumen.
Nur ein Unhold würde es wagen, diese schönen weißen Blumen abzubrechen.
***
Das Eisen fuhr heftig nieder, ins Grün, in die Dornen, in den Duft, fetzte Blätter fort und ließ Äste krachend zersplittern. Links und rechts gingen die prächtigen Blumen in Stücke, üppige Blüten flogen hinab auf den staubigen Boden.
Der Gärtner rief und jammerte, aber er wagte sich nicht näher heran, denn das Eisen war unberechenbar. Dem Gesinde, mehreren Knechten und einer Magd, die zufällig in der Nähe gewesen war, ging es nicht besser. Das Geschrei war groß, aber niemandem gelang es, den Tobenden aufzuhalten.
Das vermochte erst der Mann, der aus der Burg herbeigelaufen kaum und unerschrocken auf den mit der Klinge zustürmte, um ihn zu packen. Jener war so rasend in seinem Tun, dass er den Herannahenden erst im letzten Moment bemerkte und zu ihm herumfuhr. Der gerade wütend geführte Streich zerschlitzte Stoff und wurde erst vom Körper des Ritters gebremst.
Dies und der schiere Schreck des Wüterichs über das unvermittelte Erscheinen des Gegners verschafften Waýreth Althopian die Möglichkeit, seinen Sohn zu packen und so fest an sich zu drücken, dass der sich nicht wehren konnte. Das Kurzschwert fiel aus der Hand des Knaben, zwischen die zerschlagenen Kletterrosen, und blieb dort harmlos liegen. Ein wenig Blut des Vaters haftete jetzt an der Klinge.
Das empörte Geschrei der an der Burgmauer Versammelten verstummte. Jeder konnte es hören, den pumpenden Atem des Jungen und das erschöpfte Schluchzen dazwischen.
Waýreth Althopian blickte auf und wütend in die vorwurfsvollen Gesichter seiner Schutzbefohlenen.
„Gibt es hier was zu gaffen?”, fuhr er die Leute an, ein Tonfall, den sie von ihrem immer so respektvollen Herrn nicht gewohnt waren.
Nun, der yarl hatte es wirklich nicht leicht in diesen Tagen. Die Trauer über den schrecklichen Verlust seiner hýardora hatte den Ritter gelähmt und verstummen lassen. Aber der Junge … der war unberechenbar geworden. Weder der mestar noch sein Schwertmeister bekamen das Kind noch zur rechten Zeit zu packen. Vor einigen Tagen hatte es eine große Suchaktion gegeben, nachdem Merrit Althopian sich mit seinem Pferd, aber ohne zureichende Ausrüstung allein weit von der Burg entfernt hatte. Fast bis zum östlichen Grenzstein hatte der Knabe es geschafft, bevor Pferdehirten ihn, im strömenden Regen, durchgefroren und völlig orientierungslos aufgegriffen hatten.
Nach Ansicht nicht weniger Burgleute hätte der Junge dafür zumindest eine Tracht Prügel verdient. Aber Waýreth Althopian strafte nicht, niemals hatte er seinen Sohn geschlagen. Den Mächten hatte er gedankt, öffentlich und so vorwurfsvoll, dass es fast lästerlich war, dass sie ihm nicht auch noch den Sohn genommen hatten.
Merrit Althopian, der fröhliche, hilfsbereite und intelligente Knabe, hatte zu alledem geschwiegen. So finster war der Junge geworden, dass das Burgvolk es vorzog, ihm aus dem Weg zu gehen.
Der Gärtner zeigte missfällig auf die traurigen Reste der prächtigen Rosen. „Und das hier?”, fragte der Mann aufgebracht.
„Ich kümmere mich darum”, sagte Herr Waýreth schroff. „Lass uns allein.”
„Herr, Ihr seid verletzt!”, wandte einer der Knechte ein.
„Es ist ein Kratzer. Es hat Zeit. Geht. Geht alle! Im Augenblick!”
Die Leute zerstreuten sich, begannen erst zu murmeln, als sie außer Reichweite waren.
Der yarl hielt seinen Sohn so fest in seinen Armen, als seien es Schraubstöcke. So lange, bis der völlig verkrampfte Körper des Kindes sich endlich entspannte. Der Ritter spürte die Tränen, die sein Hemd benetzten. Dann lockerte er seinen Griff und umarmte den Jungen. Merrit Althopian zitterte beim Weinen und schlang schließlich die Arme um Hals und Schultern seines Vaters.
„Wo hattest du das Schwert her?”, fragte der yarl. Nicht vorwurfsvoll, nicht wütend. Vorwürfe nützten niemandem etwas.
„Vom Schwertmeister”, schniefte Merrit. „Ich hab’s aus seiner Stube genommen.”
„Du hast Scharten hineingeschlagen.”
Der Knabe schluchzte. „Schlimm?”
Waýreth Althopian langte nach der Klinge und hob sie auf. Eine schlechte, verbrauchte Waffe, die der Kampflehrer gewiss nur zu Demonstrationszwecken aufbewahrte, die aufgrund ihrer Länge aber handlich genug für das Kind gewesen war. Er würde den Mann ermahnen müssen, so etwas besser wegzuschließen.
„Der Schmied wird es ausbessern können. Du musst achtgeben mit Eisen, wenn Stein in der Nähe ist.”
Der Junge nickte. Herr Waýreth legte seine Stirn vorsichtig an die des Kindes. Diese war fieberheiß vor Erschöpfung und Anstrengung.
„Und was haben dir die Rosen angetan?”
Nun konnte der Junge nicht mehr an sich halten, obwohl er es noch einen tapferen Moment lang versuchte.
„Sie hat immer da gesessen”, brach es schließlich aus dem Kind hervor. „Wenn sie nicht mehr da ist, sollen die Rosen auch weg!”
Der Ritter drückte ihn an sich. Wie gut verstand er, was in seinem Sohn vor sich ging. Wo immer er hinschaute, er fand Dinge um sich herum, die ihn an die hýardora erinnerten und daran, dass sie fort war. Dinge, die sich verändert hatten. Dinge, die nie wieder sein würden wie früher. Dinge, die ihn verstört hatten. Aber, bei den Mächten, musste sich darüber denn nun auch noch der Sohn in etwas wandeln, das noch mehr schmerzte?
Kaum, dass der erste Schock über den fürchterlichen Unfall überwunden gewesen war, hatte die junge Zofe der yarlara sich die prächtigen schwarzen Haare abgeschnitten; nicht ganz kurz wie ein Mann, aber doch auf eine praktischere Länge, und ihre bunten Gewänder durch einfache, einfarbige ersetzt. Herr Waýreth war sich nicht sicher gewesen, ob das möglicherweise eine fremdartige Trauerbekundung und in dem fernen yarlmálon üblich war. Dann aber war sie zu ihm gekommen und hatte um ihre Entlassung gebeten.
Wieso sie das wünsche, hatte er bestürzt gefragt.
Sie werde hier nicht mehr gebraucht, nachdem die Herrin hinter den Träumen sei.
Sie sei weiterhin eine liebe und willkommene Hausgenossin, hatte er bekräftigt, denn er schätzte das kluge Mädchen sehr.
Das sei es nicht, hatte sie ihm anvertraut. Sie wolle nicht, dass ihre Anwesenheit die Trauer nur noch anschüre. Ihr sei bewusst, wie sehr ihr Anblick, ihre Anwesenheit möglicherweise … erinnere.
Vor wenigen Tagen war sie abgereist, mit einem überschwänglichen Empfehlungsschreiben, einem kostbaren Pferd und großzügiger Entlohnung. Sie würde auf der Burg von yarl Moréaval dessen alternder Mutter Gesellschaft leisten, so war es abgesprochen. Nach Ivaál wollte sie vorerst nicht zurück.
Dass Merrit nun anfing, buchstäblich gegen Erinnerungen aufzubegehren, war neu, ein kindlicher, ein sicher nicht angemessener Weg, gegen die Trauer anzukämpfen, gegen den Verlust und etwas, was sich in seiner zarten, abenteuerlustigen und kämpferischen Kinderseele auszubreiten drohte.
In der seinen wuchs etwas Ähnliches heran, vielleicht nicht dasselbe wie in der des Knaben, aber etwas, das ihn ebenso quälte. Tagsüber, wenn er sich um seine Pflichten zu kümmern hatte, tat er das müde, traurig, gelähmt von der Traurigkeit, aber zumindest war er abgelenkt. Nachts lag er allein auf dem Lager, das er so viele Sommer mit ihr geteilt hatte. Geisterhaft war dann oft noch ihre Wärme und ihn, ihr Duft, ihre Anwesenheit, so nahe, dass er es fast spüren konnte.
Er hatte sie nicht beschützen können. Er hatte versagt. Er hatte eine Handbreit neben ihr gestanden, wenn er nur nach oben geschaut hätte, vielleicht hätte er den Ziegel fallen sehen, ihn auffangen oder beiseite schlagen, oder die hýardora, die Geliebte, nur einen einzigen Schritt beiseite ziehen können. Hätten sie nur anders herum nebeneinander gestanden, hatte das Licht ihn genommen.
Er, Waýreth Althopian, der kampferprobte, der starke und furchtlose, er, der wilde Bestien und Mörderbanden überwunden hätte – er war unterlegen. Gegen eine läppische, vom Wind verrückte Dachpfanne. Er war ein Versager, der nicht verteidigen konnte, was er geliebt hatte.
Ob Merrit ihm deswegen einen Vorwurf machte?
„Fühlst du dich jetzt besser?”, fragte der yarl.
„Nein. Ich bin müde.”
„Willst du dich ausruhen?”
Der Junge seufzte und schmiegte sich an ihn. Aber er schüttelte den Kopf.
„Soll ich bei dir bleiben? Oder willst du allein sein?”
Merrit schüttelte den Kopf.
„Gut. Aber dann lass mich aufstehen. Es beginnt, zu schmerzen.”
Nun erst bemerkte der Junge, dass sich des Vaters blaue Tunika oberhalb der Hüfte rot gefärbt hatte. Erschrocken wich das Kind zurück. „War ich das?”
„Ja. Aber es ist nicht schlimm. Du hast eine geschickte Hand, Merrit. Láas und Jándris werden sich hüten müssen. Ganz besonders Jándris.”
Er hatte versucht, den Jungen aufzumuntern, aber erkannte sogleich, dass er damit das Gegenteil erreichte. Merrits Miene verdüsterte sich.
„Es wird dir guttun, unter anderen Jungs zu sein”, sagte Waýreth Althopian lahm und verstummte dann, bevor er es noch schlimmer machte.
Der Junge nickte missmutig. Dann begann er, das was er in seiner plötzlichen Wut aus der weißen Kletterrose herausgeschlagen hatte, vom Boden zusammenzusammeln. Der yarl schaute ratlos einen Moment dabei zu und wollte dann mithelfen. Doch seine Seite schmerzte. Die doayra würde den Schnitt versorgen müssen.
„Habe ich die Rose kaputtgemacht, Papa?”, fragte Merrit leise. „Wie das Schwert?”
„Ich denke nicht. Schau, der uralte Stamm steht noch fest, den hast du nur geritzt. Ein paar Zweige hat du herausgeschnitten.”
„Meinst du, aus den Blüten können sie in der Küche wenigstens noch ein Rosenwasser machen?”
„Das ist eine gute Idee. Bestimmt lässt sich damit noch etwas anfangen.”
Der Junge hielt eine abgeschlagene Rose in der Hand und seufzte. „Mama hätte sehr gescholten, oder?”
„Ich glaube, sie hätte es verstanden.”
„Verstehst du es auch?”
Er legte dem Jungen zärtlich die Hand auf die Schulter. „Bring die Blüten in die Küche und geh dann in deine Stube. Ruh dich aus. Ich komme zu dir, sobald die doayra einen Flicken auf den Schnitt gepappt hat.”
Merrit nickte gehorsam. Waýreth Althopian lächelte aufmunternd, wandte sich dann ab und verzog das Gesicht dabei. Die Wunde schmerzte immer heftiger. So aufrecht, wie es ging, ging er fort …
„Papa?”
… und blieb wieder stehen.
„Ich hab dich lieb”, fügte Merrit hinzu. „Ich bin nur so …ach …”
Dann fuhr er still damit fort, den Schaden aufzuräumen, den er in seiner Wut angerichtet hatte.
Als Waýreth Althopian mit schmerzverzerrtem Gesicht durch das Burgtor wieder auf den Hof gelangte, stand die doayra schon bereit. Der Ritter blickte der jungen Frau verwirrt ins Gesicht. „Isan?”
„Ach Herr, kann man Euch denn gar nicht aus den Augen lassen? Kaum komme ich hier an, muss ich Euch schon wieder verarzten! Hier, setzt Euch nieder, dort auf der Bank!”
„Was machst du hier? Solltest du nicht bei yarl Emberbey sein?”
„Was soll ich da, wenn hier die Verwundeten sind?” Die junge doayra nötigte den Ritter, sich auf die Bank zu legen, lüftete das Hemd über der Wunde und betrachtete sachlich den Schaden. „Und das hat Euch der Junge beigebracht?”
„Mit einem halbstumpfem Schwert und im Reflex.”
„Mögen die Mächte verhüten, dass er jemals im Zorn zuschlägt”, scherzte sie und wurde augenblicklich wieder ernst.
„Bitte vergebt mir. Euer Verlust betrübt mich tief. Möge sie hinter den Träumen ihren Frieden haben.”
„Danke.”
„Ich wäre schon viel früher hergekommen, aber ich wollte sichergehen, dass das Kind stark genug ist, dass ich es den Frauen in yarl Emberbeys Haus anvertrauen kann.”
„Und? Ist es das?”
Isan nickte und bedeutete ihm, sich wieder hinzusetzen. „Ich muss das säubern, für alle Fälle. Lasst uns ins Haus gehen und jemand soll Essig und heißes Wasser bringen. Ja, das Kind ist wohlauf. Ich denke, was seiner Mutter an Kraft mangelte, hat dieses kleine Wesen im Übermaß, den Mächten sei es gedankt.”
„Und Herr Alsgör? Ich werde aus seinen Schreiben nicht schlau.”
„Er ist in tiefster Trauer. Aber Ihr kennt ihn. Er würde es niemals offen zeigen.” Sie wischte sich die Hände an ihrer Schürze ab und fügte hinzu: „Der Junge tut mir unendlich leid.”
„Die Mächte meinen es nicht gut mit dem armen Kind.”
„Ja, und was Euer Kumpan sich nun in seiner Not überlegt hat, will mir nicht recht gefallen. Aber natürlich verstehe ich von diesen Dingen nichts.”
„Wieso? Was hat er denn vor?”
„Wenn ich Euch das verrate, gerate ich in Schwierigkeiten.”
Waýreth Althopian verstand. „Du hast zufällig hinter der richtigen Tür zu tun gehabt, vermute ich.”
Die doayra schaute sich um. Ihr Geheimnis für sich behalten konnte sie nicht, es hätte sie zerrissen. Aber sie war verständig genug, es nur jemandem anzuvertrauen, bei dem es sicher war.
„Habt Ihr gewusst, dass Herr Alsgör eine jüngere Schwester hat?”
„Ja, natürlich. Und es ist allgemein bekannt, warum niemand über diese Frau spricht.”
„Wegen dem Skandal mit dem Ritter aus Ferocrivé?”
„Mit welchem davon? Aber abgesehen davon: Was hat Emberbeys Schwester mit allem zu tun? Wenn sie noch lebt, ist sie eine alte Frau, für die sich in Spagor niemand mehr interessiert.”
Isan lächelte sensationslustig. Sie wusste es besser.
„Kommt ins Haus, Herr. Ich flicke Eure Blessur und stille Eure Neugierde.”
Hinterlasse einen Kommentar