
Als Pataghiús Glanz mehr und mehr gen Norden entschwand und sich Noktámas Dunkelheit darüber legte, ertönte der Gongschlag von den Stadtmauern und verkündete den Wechsel vom Tag zum Beginn der Nacht.
Der Mann in der Zelle seufzte nervös. Dies wäre seine Stunde gewesen, die Zeit, in der das redliche, biedere Leben in Aurópéa sich zurückzog in die sicheren Häuser, um auf den nächsten Morgen zu warten. Eine gewisse Frist zwischen dem hellen, dem unbekümmerten und gut gelaunten Teil des Tages und der finsteren Nacht gab es, eine Periode, in der sich Aurópéa in einer seltsamen Phase des Übergangs befand und beides, Hell und Dunkel zu einem Grau vermischte, in dem alles, wirklich alles möglich war.
Der Mann trat näher an das Gitter heran und warf einen gehässigen Blick auf den Platz davor. Während der hellen Stunden hatte er sich in den hintersten Winkel zurückgezogen, um dem Spott und den Beschimpfungen zu entgehen, all den schlechten Wünschen und bösen Worten, die dem biederen Tagvolk der Stadt so leicht über die Lippen kamen. Anfangs, am Morgen, kurz nachdem man ihn hier eingesperrt hatte, ohne viel Aufhebens und ohne Prozess, hatte er den Leuten noch Kontra geboten, hatte mit noch viel abscheulicheren Worten zurückgepöbelt und jenen, die sich an seiner Niederlage freuten, alles erdenklich schlechte, Unglück, Seuchen und Verderben an den Hals gewünscht. Einem Knaben, der besonders frech geworden war und nach ihm durch das Gitter gelangt hatte, um vor seinen nichtsnutzigen Gefährten zu prahlen, hatte er kurzerhand den Arm an den dicken Eisenstäben gebrochen. Warum auch nicht? Zu verlieren hatte er nichts mehr. So hatte er wenigstens noch ein bisschen Vergnügen an seiner misslichen Lage gehabt und die mit blanker Wut vermischte Abscheu, aber auch den Respekt genossen, der ihm über dem Wehgeschrei entgegen geflutet war.
Zumindest ließen sie ihn jetzt in Ruhe.
Der Gong verhallte, und er konnte beobachten, wie nach und nach das Publikum auf dem Marktplatz wechselte. Die braven, die den Mächten gefälligen, die Langweiler zogen sich zurück in ihre schlichten weißen Häuser, die Vornehmen unter ihnen in die schönen Villen mit den großen Gärten in der Mitte der Stadt. Andere kamen an ihrer Stelle hervor, Volk, das das Dunkel für andere Dinge nutzte, zu einer ganzen Palette hin von lässlicher Zügellosigkeit und lüsternen Vorhaben bis hin zu Dingen, von denen längst nicht alle bemerkt wurden. Sobald Pataghiús Glanz ganz verglommen war, würde sich hier auf dem Platz, einem von insgesamt sieben, die den Kern von Aurópéa umgaben wie die Blätter einer Blume, die andere Seite der Stadt zeigen. Eine, die den Mächten möglicherweise nicht ganz so gefiel. Aber wen kümmerten an diesem Ort die Mächte?
Der Gefangene mutmaßte, dass ein Großteil der Bewohner einfach nur in den Dämmerstunden die Häuser betrat, um die Kleider zu wechseln, und dass es (vielleicht abgesehen von einer naiven Minderheit von Idioten) exakt dieselben Leute waren, die ihre niederen Triebe auslebten.
Wäre er nur etwas vorsichtiger gewesen, er könnte weiter mittreiben in diesem ewigen Reigen von gesittetem Tag und ruchloser Nacht. Ein Raubtier war er gewesen, eines, das sich unter dem harmlosen Nachtvolk seine Beute gesucht hatte. Unter den Idioten, die nur ein wenig Spaß haben wollten und die Seite ihrer Natur auslebten, die sie des Tags unterdrücken mussten, wenn sie als vendyray [Händler], maedloray [Beamte] oder brave Handwerker den Schein wahren mussten.
Ein einziges Mal konnte er sich dieses Spektakel also noch anschauen, aber zu seinem Verdruss, nein, zu seiner Empörung nicht mehr dabei mitwirken. Sobald Pataghíu Noktáma wieder eingeholt hatte auf ihrer ewigen Verfolgungsjagd um das Weltenspiel herum, würde man ihn in die Wüste bringen. Was die fýntaray [Henker] dort mit einem machten, wusste niemand. Zumindest nicht, seit dieser alte Mann den Vorsitz im konsej [Stadtobrigkeit] hatte, im Rat der Ältesten von Aurópéa. Alles, was in dieser Stadt entschieden und gewirkt wurde, oblag diesem Zusammenschluss von Autoritäten, die sich selbst für weise hielten, wenn auch ihre Leistung aus nichts anderem bestand als darin, dass die Mächte sie über ein gewisses Alter hinaus nicht hinter die Träume geholt hatten. Seit drei Wintern war dieser spezielle Alte dabei und hatte schnell mehr und mehr an Einfluss gewonnen. Er schien, das musste der Gefangene zugestehen, seine Sache gut machen. Jene, die ihre Geschäfte in der Nacht vollzogen, waren vorsichtiger geworden, viel vorsichtiger. Der konsej, dem die Kontrolle über die Stadt schon mehrfach beinahe aus der Hand geglitten war, hatte letzterdings weit seltener Verbrechen zu strafen, um daran zu erinnern, dass es durchaus ein Gesetz und eine Obrigkeit in Aurópéa gab, wenn auch eine ausgesprochenen senile. Öffentliche Vollstreckungen, wie sie früher ein blutrünstiges, erregendes Spektakel gewesen waren, hatten fast ganz aufgehört. Der hehre Vorsatz des konsej war gewesen, der Verrohung einen Riegel vorzuschieben. Stattdessen ließ man Delinquenten nun hochoffiziell in der Wüste verschwinden. Morgen früh war er an der Reihe. Er war einfach nicht vorsichtig genug gewesen.
Vor seinen Augen verwandelten sich die Gaststuben und Garküchen am Marktplatz gleichsam mit ihrer Klientel in Etablissements, in denen besondere Getränke in Strömen flossen und Rauschzeug zu bekommen war. Lose fánjulaé zeigten sich bereits hier und dort. Wer sich auf solche Vergnügungen einließ, musste damit rechnen, am nächsten Tag um mehr als nur den vereinbarten Preis ärmer zu sein. Er selbst war als jüngerer Mann mehr als einmal seine hart erkämpfte Beute einer Nacht ebenso schnell wieder los gewesen, mal durch die Hand eines Komplizen jener begehrlichen Weiber, mal durch die fingerfertigen Biester selber, die Chaosgeister sollten sie holen. Und doch hatte er es immer wieder getan.
Gestern um diese Zeit war er nicht auf Lust aus gewesen. Das hätte sich vielleicht später in der Nacht noch ergeben. Stattdessen hatte dieser junge vendyr aus Virhavét sein Interesse geweckt, genauer gesagt: Die schönen bunten Edelsteine, die er bei sich gehabt hatte. In eben jener Taverne, die der Zelle fast genau gegenüber lag, hatte der arglose Tropf versucht, seine Schätze an einen einheimischen Abnehmer zu bringen; ohne Erfolg wohl, wie ein etwas zu lauter Wortwechsel besagte, der ihm bis in die Schankstube ans Ohr gedrungen war. Als er und ein paar andere Männer nachgeschaut hatten, worum es bei dem Gezanke ging, hatte der nun Gefangene die glänzenden Steine gesehen. Die Gier in seinem Herzen hatte die Lust nieder gerungen .
Der vendyr aus dem Norden hatte seine Schätze rasch wieder verstaut. Dass er sie überhaupt ausgerechnet in dieser Umgebung ausgebreitet hatte, war eine abgrundtiefe Dummheit gewesen, die man ihm allerdings nicht vorwerfen konnte. Reisende aus fernen Gegenden waren nicht selten entsetzt, wenn sie erstmals in der Stadt waren und feststellten, dass diese ihr Gesicht wechselte wie eine Maske, sobald die Finsternis kam. Virhavét, das hatte der Mann einmal gehört, war nach Aurópéa die zweitgrößte Stadt der Welt, ganz im äußersten Norden. Im Vergleich war die reiche Handelsstadt am Meer sicherlich ein verschnarchtes Dorf.
Der Gefangene hatte oft darüber nachgedacht, welche Möglichkeiten sich dort bieten mochten, wo diese naiven Toren herkamen. Reich hätte er werden können. Stattdessen war er in Aurópéa gestrandet, damals, als junger Kerl, der nichts zu verlieren hatte. Die Stadt hatte ihn in ihren Schutz genommen. Und, so wie es schien, entledigte sie sich nun seiner, während draußen Laternen und Feuerschalen entzündet wurden, um wenigstens ein klein wenig Licht zu bringen (und dabei noch viel schärfere Schatten aufzutun).
Der Mann, der nun unter aller Augen in der Zelle saß, hatte in der Taverne jedenfalls die Blicke von mindestens einem Halbdutzend anderer Männer aufgefangen. Niemand sprach es aus, aber alle hatten angesichts der Edelsteine denselben Gedanken. Es galt, unbeteiligt zu tun. Und dann der Schnellste zu sein.
Einige Zeit lang hatte sich in der Schankstube, parallel zu Lärm und Lachen und Ausgelassenheit ein wahrer Wettstreit im Lauern zwischen den Gierigen entsponnen. Zum allgemeinen Verdruss hatte der vendyr es jedoch nicht eilig, die Taverne zu verlassen, möglicherweise, weil er hier sich just hier eingemietet hatte. Sie hatten ihn beobachtet, wie er gegessen und getrunken hatte, und beim Trinken nach und nach seinem Ärger fortgespült wurde. Nun, vielleicht wollte er seine schönen Steinchen am nächsten Tag privat in der Villengegend anbieten.
Der Gefangene hatte genug Erfahrung, um sich auszurechen, dass der gefährlichste unter seinen Konkurrenten der ortsansässige vendyr war, mit dem der Handel ursprünglich abgeschlossen hätte werden sollen. Vermutlich wollte der Mann die bunten Edelsteine nur haben, wenn der naive Wicht aus dem Norden noch etwas als Dreingabe dazu legte. Es kursierten Geschichten über die blutigen Kleinode, die dieser gerissene Kerl feilbot.
Und so hatte er gesessen, die Avancen der Dirnen ignoriert und den Moment abgepasst, zu dem der fremde vendyr zu viel Wein getrunken hatte. Kurz zuvor hatte er selbst den leidlich erleuchteten und rundum durch Gebäude begrenzten Hinterhof betreten, wo sich der Abort befand, und dort mit einem routinierten Stich den Mann aus Virhavét um seinen Beutel und sein Leben erleichtert, während der sich seinerseits erleichterte.
Und dann war alles schief gelaufen, was nur schief gehen konnte. Ein Kämpfer der Stadtwache war gänzlich unbemerkt in Gesellschaft einer der käuflichen fánjulaé hinter ein paar leeren Weinfässern gerade mit etwas ganz anderem beschäftigt gewesen. Der Mann war zwar nicht im Dienst, aber kaltblütig genug, um neben seiner Lasterhaftigkeit noch an seine Karriere zu denken. Er hatte das nun hysterisch kreischende Weib einfach liegengelassen und sich auf den Raubmörder gestürzt. Mit dem Wächter allein wäre er vielleicht noch fertig geworden, aber ein Teil seiner Mitbewerber um den Edelsteinschatz war ihm auf den Hof nachgefolgt, andere durch das Gelärm aufmerksam geworden, drängten nach und versperrten den Weg zurück in die Taverne. Das Ganze war in ein Handgemenge gemündet, das die auf dem Marktplatz patrouillierenden Stadtwachen, die Dienst hatten, nicht ignorieren konnten.
Wer in dem Durcheinander am Ende in den Besitz der der Edelsteine gelangt war, wusste er nicht. Tatsache war jedoch, dass man ihn auf frischer Tat ertappt und überwältigt hatte, und dass jeder Anwesende schnell dabei war, gegen ihn auszusagen. Nicht auszudenken, wenn die Obrigkeit auf die Idee gekommen wäre, genauer nachzuforschen, was sich noch alles in der Taverne abgespielt hatte. Sicher säße er dann nicht allein in der Zelle.
Eine nähere Untersuchung war nicht nötig. Man hatte ihn mit blutigem Messer über einem erstochenen auswärtigen vendyr angetroffen. Das reichte, um ihn ohne Aufhebens in der Wüste den fýntaray zu überlassen. Die Zelle, in der er darauf warten konnte, befand sich gleich gegenüber.
Der Gefangene schnaubte verächtlich. Mitleid oder zumindest Mitgefühl hatte auch von dem Volk, das nun hier ihrem Treiben nachgingen niemand. Viele der Personen kannte er recht gut, ihn aber wollte wohl niemand mehr kennen. Ein bisschen Spott traf ihn in seiner Zelle, andere taten so, als sähen sie ihn nicht in dem Gelass, einer Nische zwischen zwei Gebäuden mit einem dicken Eisengitter vom Boden bis zur Decke. Auf jedem der sieben Marktplätze gab es solche Käfige. Deren Öffentlichkeit durchkreuzte jeglichen Gedanken an einen Ausbruchsversuch: Das Gitter war ohne Schlüssel nicht zu öffnen, schon gar nicht unter aller Augen.
Nicht, dass irgendjemand ein Interesse daran gehabt hätte, ihm zu helfen. Er hätte jemanden bestechen müssen.
Der Mann setzte sich nieder und blickte sehnsüchtig hinaus, zu den anderen, den Schurken und den harmlosen Vergnügungssüchtigen, unter denen er nicht mehr mitmischen durfte.
Morgen früh würden die fýntaray ihn in die Wüste bringen. Und danach würde ihn hier niemand vermissen.
Wie würde es wohl sein, hinter den Träumen? Der vendyr aus Virhavét wusste es wohl schon und hatte wohl nicht damit gerechnet, dass es ihn so schnell dorthin verschlagen würde. Er hingegen, er ahnte in Teilen, was auf ihn zukam. Diese Ungewissheit war … unangenehm.
Der Gefangene dachte nach und musste erkennen, dass dieser Gedanke ihm, der so unbekümmert mit dem Tod anderer Leute umging, mit jedem Moment mehr zu beunruhigen begann. Seine Wut und Verachtung wichen dem Unbehagen. Der Sorge. Der Angst.
Als der Gongschlag auf den Mauern die Mitte der Nacht verkündete, hatte er endgültig begriffen, was mit ihm geschehen würde. Nun wich die trotzige Verleugnung dem Entsetzen, schierem Grauen. Sie würden ihn in die Wüste bringen. Daran trug er selbst Schuld. Wenn der Gong am kommenden Tag den Höhepunkt von Pataghíus Präsenz verkünden würde, wäre er so tot wie der vendyr als Virhavét, wie die anderen, die in der Dunkelheit von Aurópéa ihr Ende gefunden hatten.
Aber würde es ihn so schnell und mit verhältnismäßig wenigen Schmerzen treffen? Hatte der konsej einen Anlass dazu, ihn leiden zu lassen? Wer waren eigentlich diejenigen, die es auszuführen hatten? Vielleicht welche, die er aus den Tavernen kannte, mit denen er getrunken oder gekämpft oder sie betrogen hatte? Würde sie ihn erkennen und es an ihm auslassen? Es würde keine Zeugen geben, verdenken konnte er es ihnen unter diesen Umständen nicht.
Der Gefangene verstand, wie es sich anfühlte, ausgeliefert zu sein, wie Todesangst schmeckte. Ihm wurde übel davon. Er begann, zu schreien, zu fluchen und zu toben. Passanten blieben stehen und lachten ihn aus. Durch die Gitter konnte er ihnen nichts antun. Sie spotteten und verhöhnten ihn aus sicherem Abstand. Das falsche, heuchlerische Gesindel! Sie waren nicht besser als die tugendhaften Menschen, die den Tag hier verbrachten.
Schließlich ging ihm die Kraft aus. Er verstummte, sank zusammen und hielt sich schluchzend die Ohren zu, um ihre Gemeinheiten nicht hören zu müssen. So verloren sie das Interesse und zerstreuten sich wieder in die nächtliche Stadt.
Gebrochen schaute er nach einer Weile auf den Platz hinaus. Direkt an der Wand neben ihm gab es eine Laterne, aber was einige Schritte weit von ihm entfernt passierte, lag nun im Dunklen. Gegenüber, bei der Taverne, in der sein Verhängnis seinen Lauf genommen hatte, war mehr Licht. Das Gebäude war von außen mit bunten Lampen und Fackeln geschmückt und sah auf den ersten Blick recht einladend aus. Direkt vor der Tür, das war eine Art stille Übereinkunft, ein Zugeständnis an die Obrigkeit, musste es friedlich sein. Auf dem Platz durften keine größeren Missetaten geschehen. Das Innere der Gebäude und die Hinterhöfe, das war eine andere Geschichte.
Vor der Tür hatte sich in der lauen Nacht eine kleine Menschentraube versammelt. Ausgelassen und sorglos waren sie und rückten nur einmal kurz beiseite, um einem jungen Mann Platz zu machen, der auf den Marktplatz hinaus wollte. Eine der lüsternen fánjulaé kam heran, stellte sich ihm spielerisch in den Weg, versuchte wohl ihr Glück, ob mit ihm etwas anzufangen sei in dieser Nacht. Aber er lachte nur, wehrte sie freundlich ab und ging weiter, und sie tanzte weiter, hinein in die Menge.
Der Gefangene in der Zelle sah das ohne Interesse, es kümmerte ihn nicht. Aber dann bemerkte er, dass der junge Mann direkt auf ihn zu kam, ohne Eile, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Als er die Mitte des Platzes hinter sich hatte, erkannte der Delinquent ihn. Ein báchorkor [Geschichtenerzähler] war es, einer, der sich schon am Vorabend hier aufgehalten hatte. Flüchtig erinnerte der Mann sich daran, dass er beim Nachtvolk in der Taverne gewesen war, eine Schar von Zuhörern um sich. Er hatte nicht weiter darauf geachtet, aber nun entsann er sich, dass der Anblick ihn kurzzeitig irritiert hatte, so, als passe der báchorkor nicht gänzlich in die Umgebung. Das war natürlich albern. Báchorkoray waren für gewöhnlich der Mittelpunkt von Vergnügungen, denn sie brachten Lieder und Geschichten aus der ganzen Welt mit sich, und nicht nur solche von der erbaulichen oder sentimentalen Art. Sie bewegten sich unter dem Nachtvolk relativ unbehelligt, denn in der Regel waren bei ihnen keine Reichtümer zu holen. Dafür sorgten sie für ein Quartier und etwas Nahrung für Kurzweil. Manchmal waren sie selbst Raubtiere. Aber der hier, der nun hier vor der Zelle stand und den Gefangenen ruhig musterte, war bestimmt kein Verbrecher, so erbärmlich unschuldig sah er aus.
„Man sagt da drinnen, du seiest gestern über ein paar bunte Steine gestolpert”, sagte der báchorkor freundlich.
„Pack dich”, zischte der Mann. „Lass mich in Ruhe!”
„Ich denke, du solltest mich nicht fortschicken”, antwortete der junge Mann unbeeindruckt.
„Kannst du mir hier raushelfen?”
„Nein. Das darf ich nicht.”
„Dann verschwinde!” Der Gefangene spuckte aus, durch das Gitter dem báchorkor vor die Füße. Aber das schien den Fahrenden nicht zu stören. Er hockte sich vor ihm hin, stützte sich mit der Hand am Gitter ab. Der Gefangene starrte sein Gegenüber wütend an und stutzte über den sanften, mitfühlenden Ausdruck in dessen dunklen Augen. Ein schmales, bartloses Gesicht hatte der báchorkor, üppiges, krauses Haar umrahmte es wie eine Mähne. Im Schein der Laterne schimmerte es kupferfarben.
„Du solltest mich nicht wegschicken.”
„Könnte ich dich wegschicken?”, fragte der Mann müde. „Du würdest doch sowieso nicht gehen, oder?”
„Natürlich würde ich gehen. Aber dann hätte ich mir die Mühe sparen können, zu dir zu kommen.”
Wut flammte noch einmal auf. Die Hand des Gefangenen schoss durch die Gitter, packte den báchorkor am Kragen seiner ausgewaschenen, roten Tunika und riss ihn so schnell und fest zu den Metallbarren, dass die Stirn des jungen Mannes dagegen schlug. Der Fahrende gab einen Schmerzenslaut von sich.
„Es kommt für mich nicht mehr darauf auf, Bürschchen! Ich lass’ mich nicht verspotten! Ich zieh dich durch das Gatter hier herein und brech’ dir das Genick daran!”
„Meinetwegen”, entgegnete der báchorkor gepresst. „Aber vielleicht willst du vorher doch noch eine Geschichte hören?”
„Gar nichts will ich hören! Ich habe keine Zeit für Geschichten! Und für dich ist bei mir kein Lohn zu holen!”
„He!” Ein Trupp von Stadtwächtern war aufmerksam geworden. Die vier Männer patrouillierten im Auftrag des konsej durch die Quartiere, um zumindest oberflächlich den Anschein von Ordnung zu wahren. Ihr Anführer kam näher. „Lass den Mann in Ruhe!”
Widerwillig gehorchte der Gefangene. Der báchorkor wich zurück, rieb sich den Kopf und zupfte würdevoll sein Gewand zurecht.
„Ist nichts passiert!”, knurrte der Mann in der Zelle.
„Du machst es dir nicht angenehmer!”, ließ der Wächter ihn wissen. „Wirst es wohl morgen merken. Und du, Kerl, nimm dich in Acht! Ist nicht angenehm, hier ständig Leichen wegzuräumen.”
„Es ist nichts geschehen”, gab der junge Mann munter zurück. „Ich habe nicht vor, mich wegräumen zu lassen.”
Der Wächter antwortete mit einem schiefen Lächeln. Dann zog er mit seinem Trupp weiter. Er tat hier nur seine Arbeit und mochte sie hassen.
Als sie weg waren, fragte der Gefangene: „Was willst du? Ich habe nur noch einen Vierteltag!”
„Ja. Und du hast Angst.”
„Ich?” Der Gefangene schnaubte. „Vor mir müssen sie Angst haben. Ich werde ihnen trotzen bis zum letzten. Bis zum …”
Die dunklen Augen des báchorkor schauten fragend. Die Stimme des Mannes, der bald tot sein würde, stockte, brach und schluchzte dann auf. „Verdammt, ja. Ich habe Angst! Bei den Mächten, ich … ich wünschte, das wäre alles nicht passiert! Ich wünschte, ich … ich hätte das nicht getan.”
„Was? Den Edelsteinvendyr getötet?”
„Alles. Ich wünschte, ich wäre nie hierhergekommen. Ich wünschte, ich hätte ein anderes Leben gelebt!”
Der báchorkor wartete. Dann setzte er sich neben der Zelle hin und lehnte sich an die Wand.
„Ich kann und darf dir nicht helfen”, sagte er. „Aber ich kann bei dir bleiben, bis sie dich abholen. Sofern du mich nicht aus eigenem Willen fortschickst.”
„Und wozu?”
„Wenn du mir etwas gibst, kann ich dir dafür etwas nehmen. Deswegen bin ich hier.”
Der Gefangene lachte bitter auf. „Selbst wenn ich etwas hätte, es wäre ein schlechtes Geschäft für mich, findest du nicht?”
„Das kommt darauf an.”
„Keine Ahnung, was du redest.”
Der báchorkor schaute unbeteiligt auf den Platz, auf die Nachtschwärmer, das Gewimmel, halb gefährlich, halb gedankenlos. „All diese Leute”, sagte er. „Da ist so viel … Seltsames. So viel Furcht. Blindheit. Übermut.”
„Blindheit?”
„Ja. Sie machen die Augen zu, um nicht zu sehen. Sie sind laut, um nicht zu hören. Sie sind brutal, um sich stark zu fühlen. Auf keiner meiner Reisen habe ich das so stark gespürt wie in Aurópéa. Hier ist etwas … verkehrt.”
„Und wo bist du schon gewesen, um das sagen zu können?”, spottete der Gefangene.
„Überall.”
Der Mann in der Zelle runzelte verwirrt die Stirn, aber der báchorkor redete schon weiter.
„Ich reise durch die Welt, um Geschichten zu erzählen. Ich glaube, ich habe Worte für dich dabei, die du an deinem letzten Vierteltag gut brauchen kannst. Vielleicht ist es die beste, die schönste Geschichte, die du jemals gehört hast. Und ich erzähle sie nur für dich in dieser Nacht.”
„Ich habe mich vielleicht nicht deutlich genug ausgedrückt, Bürschchen. Aber ich kann dir nichts bezahlen für deine Märchen!”
„Ich gebe mich ersatzweise auch mit einem Gefallen zufrieden.”
„Was für einen Gefallen könnte ich dir tun? Ich bin so gut wie tot!”
„Ich weiß. Und genau deshalb komme ich zu dir. Ich möchte in dem Moment, in dem du hinter die Träume gehst, durch deine Augen schauen.”
„Was? Was soll das heißen?”
„Lass es meine Sorge sein, wie das möglich ist. Es … es ist vielleicht nicht recht, so zu handeln, aber es hat seine guten Gründe, dass ich dich darum bitte. Ich bitte dich, mir deinen letzten Augenblick zu überlassen.”
Der Gefangene lachte. Der Kerl war wahnsinnig, ganz klar. Wahrscheinlich hatte er zu viel von dem Rauschzeug in der Taverne gehabt, vielleicht hatte sich jemand einen Scherz erlaubt und sein Bier damit versetzt. Armer dummer Tropf!
„Meinetwegen”, sagte er leichthin. „Das kann ich dir wohl abtreten. Aber was willst du mir noch nehmen, hä?”
„Deine Angst.”
Das sagte der báchorkor so ruhig und ernsthaft, dass es den Gefangenen schaudern ließ. Ein seltsames Gefühl wallte in dem Mann hoch, so entsetzlich und zugleich so … verlockend. Eine Regung, über die er keine Kontrolle hatte und gegen die sein Verstand sich wehrte, etwa zwei Atemzüge lang.
„Wer bist du?”, wisperte er.
„Mein Name ist Galéon.”
Der Gefangene schauderte. Der Gong auf den Mauern verkündete das unerbittliche Voranschreiten der Zeit.
„Bitte”, bat der Mann. „Lass mich deine Geschichte hören.”
Der báchorkor lächelte. Dann begann er, zu erzählen, während das Nachtleben von Aurópéa um sie herum weiter ging wie hinter Glas.
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