
Blinzelnd kam er zu sich und rappelte sich auf. Es war hell um ihn herum, ein mildes, schimmerndes, ein angenehmes Licht, doch absolute Schwärze drang hindurch. Und hinter dem Licht, da sah er ihre Schemen, er hörte sie atmen und schweigen.
Er befand sich immer noch an derselben Stelle, an der sie ihn überrumpelt hatten, mitten im Saal, zu Füßen des Thrones der Meisterin. Aber nun hatten sie ihn eingesperrt. Mehr als ein halber Tag musste vergangen sein. Strahlen aus Mondlicht fielen von hoch oben durch das Sternfenster in der Kuppel her auf ihn herab, durchscheinend und fahl schimmernd, aber dennoch massiv wie Barren aus Stahl. Sie fächerten auseinander und umgaben ihn ringsum, ein Kreis, ein spitz zulaufender Kegel aus Licht, den er nicht überwinden würde.
Noch nicht.
Er stand auf, schwankte und spürte Schmerz dumpf durch seine Glieder pochen. Die anderen dort draußen, außerhalb seines magischen Gefängnisses beobachteten ihn. Er spürte Abscheu und Furcht in ihren Seelen. Sie alle waren da, von der Großmeisterin bis zum jüngsten Schüler, einem Kind von fünf Sommern.
Das gefiel ihm. Sie hatten, trotz allem, Angst vor ihm. Oder Angst vor dem, was mit ihm geschehen war. Es kam auf das Gleiche hinaus.
„Eingesperrt habt ihr mich also wie ein Tier”, sagte er und wunderte sich, wie kühl er dabei klang. „Aber denkt ihr, dieser lächerliche Zauber könnte mich auf Dauer festhalten?”
„Nein”, antwortete die Meisterin von weither, aus dem Dunkel, dem Dunkel, das seine Heimat gewesen war. „Das denken wir nicht.”
„Du darfst nicht bei uns bleiben”, klang die Stimme von Askýn Lagoscyre von der anderen Seite. Der emporkommende neue Vertraute der Meisterin wagte es, sich das Wort zu nehmen?
„Ich werde ohnehin freiwillig fortgehen”, sagte er leichthin. „Es bestrebt mich, diese verlogene Gesellschaft hier zu verlassen.”
„Du willst also gehen, um das Böse zu suchen?”, fragte die Meisterin leise.
„Das habe ich vor, ja”, bestätigte er ruhig und löste damit aufgeregtes Getuschel unter den in den Schatten versammelten camat’ay aus.
„Das können wir dir nicht erlauben”, schaltete sich ein anderer von ihnen ein. Er wandte sich in die Richtung, aus der die Stimme erklang.
„Dann”, sagte er und gestattete sich den Triumph, „bleibt euch keine Wahl, als mich zu töten.”
Nun schwiegen sie. Der Nachhall seiner Stimme klang durch den Saal.
Betretenes, atemloses Schweigen.
„Schattensänger”, entschied die Meisterin mit brüchiger Stimme, „töten ihresgleichen nicht. Das weißt du. Das sind Noktámas Regeln. Wir halten uns daran.”
Er lachte. Was sie da sagte, war so lächerlich. Er war ein Schattensänger, und er hatte eine der Bestien zur Strecke gebracht, jämmerlich, wie sie es verdienten. Töten war so einfach. Und es fühlte sich so richtig an.
Der Klang seines eigenen Gelächters machte den Teil von ihm, der als ratloser Betrachter neben sich stand, schaudern. Es war ein belustigtes, ein überhebliches, ein gemeines Lachen, eines, das nicht mehr zu einem Schattensänger passte und schon gar nicht zu der wohltönenden Stimme, mit der er sprach.
Die anderen regten sich unbehaglich, einige wenige Worte wurden getuschelt, verunsichert, verwirrt.
„Ihr steckt in einer Verlegenheit”, ergriff er wieder das Wort. „Ihr könnt mich nicht einsperren. Ihr könnt mich nicht freilassen. Ihr könnt mich nicht töten. Ihr wisst nicht, was ihr mit mir anfangen sollt!” Er grinste spöttisch. „Verwirrte Schattensänger, zu feige zur Tat, zu ängstlich zum Handeln. Was für ein jämmerlicher Haufen ihr doch seid! Ovidáol hatte recht. Ovidáol ist fortgelaufen.”
„Ovidáol ging, das ist wahr”, sagte die ytrara. „Viele Winter ist das her, und all unsere Versuche, ihn zur Vernunft zu bringen, sind gescheitert. Ovidáol haben wir verflucht und ausgestoßen. Du aber, letzter meiner Schüler, hast größere Schande über den Kreis gebracht mit deiner Anmaßung und deiner Tat!”
Sie brachte diese Worte mit zorniger, lauter Stimme hervor. Aber als sie Atem geholt hatte und weiter sprach, da klang Trauer aus jeder Silbe.
„Wir haben über dich nach unseren Regeln das Urteil zu sprechen, den Regeln unserer Schutzmacht, der du entfliehen willst. Doch dies ist mehr, als wir mit sterblichem Verstand entscheiden könnten. Es ist nicht möglich …”
„Dann sucht euch doch einen Richter, der befugt ist, meine Strafe zu bestimmen”, höhnte das, was sich in ihm selbstständig gemacht hatte, während das, was noch bei Verstand war, dies alles aus der Distanz resigniert beobachtete, als ginge es es unmittelbar gar nichts mehr an. „Wer könnte wohl Macht haben, die die der hier versammelten ytraray übertrifft?”
Einen Augenblick brachte er mit seiner Rede jeden Laut, jeden Atemzug, jedes Rascheln von Gewändern zum Verstummen.
Dann erloschen schlagartig die Mondlichtkäfigstangen und sein Gefängnis aus Licht brach zusammen. Völlige Finsternis umgab ihn und versetzte ihm einen heftigen Schock.
Ich habe diese Macht, raunte eine Stimme, so dunkel, so schön, so magisch, dass ihm ein Schauer des Entsetzens über den Rücken lief.
Im Dunkeln spürte er die Körper der anderen, und nicht nur derer, die in der Halle waren. In diesem völligen Dunkel warteten sie, warteten sie alle, alle jene, die jemals geboren worden waren und im Etaímalon gewirkt hatten. Sie alle waren erstarrt vor Ehrfurcht und an Panik grenzender Verehrung für die Kraft, der sie geweiht waren und die sich ihnen zeigte, oder vielmehr: Nicht zeigte. Etwas Unfassbares, ein Wunder ging hier vor. Grimmiger Stolz erfüllte ihn. Er war also so wichtig, dass Noktáma selbst sich seiner annahm.
Er schwankte einen Moment zwischen ungläubigem Entsetzen und Entzücken, als er begriff, dass sie es war, leibhaftig sie, Noktáma, die Lebendige Nacht. Ein Teil von ihm wollte demütig vor ihr auf die Knie fallen, aber das, was sich in ihm eingenistet hatte, versicherte ihm, dass dieses Wesen, so rein und magisch es auch war, letztlich nicht mehr war als eine dumme Schwätzerin, als eine lästige Inkarnation einer abergläubischen, vergangenen Ideologie. Aber war das nicht Beweis, dass er mehr war als ein kindischer, ein unwichtiger, ungezogener Junge, der gegen die Regeln rebellierte? Zeigten die Mächte durch diese unverhoffte Aufmerksamkeit nicht, dass sie Angst vor ihm und vor der neuen Schutzmacht in seinem Geist hatten?
Es stand zu befürchten, sagte Noktáma, dass es erneut geschehen würde. Der Weltenspielverderber wird niemals Ruhe geben. Ich hätte nicht erwartet, dass trotz allem ausgerechnet erneut einer der euren der Strohhalm ist, an den er sich klammert. Ihre Stimme schwebte um ihn herum, war überall gleichzeitig. In ihr schwang Enttäuschung mit, Enttäuschung und Ärger, der nicht zwingend ihm galt.
Er wollte etwas entgegnen, aber er wagte es nicht, in ihrer Gegenwart den Mund zu öffnen. Auch die anderen, sie waren da, aber sie verstummten angesichts der reinen Dunkelheit.
Gezüchtigt sollst du sein, Schattensänger, der hochmütig auf die Suche nach dem Bösen gehen will, sagte sie, und ihre schattenhafte, gütige Stimme wurde kalt und schneidend wie ein Schwert. Verstoßen sollst du sein aus dem Kreis meiner Diener, und nie wieder sollst du deinen Fuß in diesen Wald setzen! Geh und krieche am Boden vor dem, dem du dich zuwendest, dessen giftiger Rede du zugehört hast. Geh und suche nach dem Ruhm, der dich verlockt, nach dem Ziel, das du dir gesteckt hast. Scheitern wirst du, und wenn du es erst begreifst, dann wirst du daran zerbrechen. Du wirst deine Qualen vielleicht nicht spüren. Aber dein selbstgewähltes Schicksal wird dich in den Wahnsinn treiben.
„Was du sagst, Noktáma”, brachte er hervor, so gleichgültig und unbeeindruckt, als rede er im Traum oder als rede ein anderer mit seiner Stimme, „kehrt mich nicht. Denn ich habe einen neuen Weg betreten. Einen Weg, ein Ziel, das mich am Ende über die Mächte erhebt.”
Was machst du da, was sagst du?, begehrte etwas ganz Kleines und verschwindend Flüchtiges entsetzt in seinem Herzen auf. Aber es war zwecklos, und es verlosch vor der Gewalt des anderen, was ihn in Besitz genommen hatte und ihn fortan lenkte.
Noktáma schwieg, aber die Dunkelheit verklang nicht, also war sie noch da.
Camat’ay, sagte sie dann kalt, zerbrecht seinen Namen. Und dann jagt ihn fort aus meinem Haus.
Ein Aufraunen ging durch die Reihen der Schattensänger, erschrocken über die Grausamkeit, mit der sie ihren Urteilsspruch verkündete.
Unerbittlich ist der Schatten gegen das, was hier Gestalt angenommen hat, sagte sie. Und dir, Verstoßener, Namenloser, sei eines gesagt: Erst dann, wenn du erkennst, was du dir selbst angetan hast, erst, wenn du wahrhaft bereit bist, zu schauen und zu wissen, dann werde ich mich dir wieder zuwenden. Diese letzte, diese kleine Chance will ich dir gewähren. Doch aus dem Kreis meiner Diener sollst du für alle Zeiten verbannt sein. Und wisse, Namenloser, welche Chance du dem Kreis verdorben hast und dir selbst.
Ihre Stimme war nun leise, als ob sie sich entfernte. Aber sie alle konnten sie noch hören.
Du solltest der sein, der Weltenspiel geeint hätte, raunte das Dunkel. Wenn du dem Rotgewandeten zugehört hättest, ihm und der Botschaft, die er bringen wollte. Doch deine Tat beleidigte die Mächte. Mag ein anderer mit dir sein Spiel bestreiten. Wir werden es bemerken, wenn du betrügst.
Er nahm ihren Vorwurf mit einem Lächeln hin. Was kehrte ihn, was die Macht von ihm hielt, solange es die größere Macht gab, ihr zu folgen?
Er hörte, wie die Schattensänger in der Dunkelheit näher kamen. Er spürte die Gedanken der Einzelnen, unterschied die von Askýn von denen der Großmeisterin. Die ytrara war bestürzt, enttäuscht. Ihr Schüler hatte sie betrogen. Und dennoch… immer noch schien sie keinen Groll gegen ihn zu verspüren. Sie alle konnten keinen Hass empfinden, genauso wenig, wie einer von ihnen jemals geliebt hatte. Es war Angst, die mit Güte stritt. Oh, wie schwach sie waren!
Der Schatten verblasste und wurde wieder zur ganz normalen Nacht. Noktáma war fort. So schnell, wie sie gekommen war, war sie wieder gegangen und hatte in den Schattensängern nichts anderes zurückgelassen als das dumpfe Gefühl von Enttäuschung. Wahrscheinlich war sie nichts weiter gewesen als eine Vision, eine, die die kollektive Verwirrung und Angst der Kreisgeschwister ausgelöst hatte.
Er stand und schaute sich um. Fremd erschienen die Männer und Frauen, mit denen er sein Leben lang zusammen gewesen war. Die ihn umringten, alle nun furchtsam mit silbernen Schutzbännen gewappnet, und alle bemüht, ihm nicht direkt in die Augen zu blicken.
Askýn Lagoscyre, der Mutigste von ihnen allen, kam ihm am nächsten und zögerte.
Dann griff er zu und zog ihm das Amulett, das Zeichen des Kreises vom Hals.
„Nie wieder”, sagte der jüngere Meister, „sollst du dich mit dem Zeichen der Schattensänger schmücken und auf ihre Macht berufen!”
Der Schattensänger lächelte spöttisch. Dann hob er die Hand und sang einen kurzen Zauber.
Das silberne Amulett in Askýns Faust verwandelte sich in glänzendes Gold. Der Meister ließ es mit einem verblüfften Aufschrei fallen und umfasste seine schmerzenden Finger mit der anderen Hand.
Der Schattensänger hob sein Schmuckstück auf und legte es sich um den Hals. Kühl und glatt fühlte das Gold sich an.
„Warum hat sie das getan?”, wisperte irgendwo eine furchtsame Stimme. „Wieso hat sie ihm seine Magie gelassen?”
„Was sollen wir denn dann nun tun?”, rief ein anderer.
Sie standen herum wie eine Schar verwirrter, verängstigter Tiere. Das erheiterte ihn. Er war keiner mehr von diesen Jammergestalten. Ein höheres, ein freies Wesen war er nun.
Was war das für ein herrliches, für ein erregendes Gefühl! Er war frei! Frei, zu gehen und frei, mit ihnen zu tun, was er wollte. Mit ihnen. Und mit den Rotgewanderten. Ganz besonders mit den Rotgewandeten, ay’cha’ree hin oder her. Es ging auch ohne das.
Er lachte schallend, und seine maghiscal loderte um ihn herum auf wie schwarzer Wind.
Kreischend wichen die Magier ringsum zurück. Etwas ergriff ihn, flutete wie herrliches Feuer durch seine Adern. Oh, wie stark er war! Wie herrlich! Welche Gnade erwies die bessere Macht ihm, ihrem Bewunderer und Diener!
„Seine Augen”, klang es irgendwo verängstigt, „oh, Mächte, seht nur seine Augen …”
„Was immer es ist”, hörte er die Meisterin aufstöhnen, „es hat ihn in Besitz genommen! Er ist verloren!”
Er wandte sich ihr zu und betrachtete sie. Sie stand da, alt, gebeugt und dennoch aufrecht, wie es einer Anführerin zukam. Wie niedlich!
„Ytrara“, spottete er, „Eure Besorgnis beleidigt mich! Was macht Ihr Euch Gedanken um den mächtigsten Magier dieser Welt?”
„Ma’al traýmíon!”, schallte Askýn Lagoscyres Stimme laut durch die Halle, ein zorniges, mächtiges Lied, „ma’al mor! Ma’al gal! – Zerbrochen dein Zeichen, deine Stimme, dein Name!”
Er sprang herum, aber der Bann des jungen Meisters war stark. Askýn musste seine komplette Macht darin konzentriert haben, er kostete ihn all seine Kraft. Es war ein Zauber, der ihn ernsthaft verletzte, und das auch nur, weil er unvermutet traf.
Der Schattensänger taumelte wie blind zurück. Es war kein Schmerz, der ihn traf, eher eine Betäubung, die ihn sich für einen Moment wie einen Volltrunkenen fühlen ließ.
Dann verklang der Bann.
Alle standen still in Entsetzen. Meister Askýn zitterte. Seine maghiscal, nun kaum mehr als ein Hauch, flimmerte. Er war verletzlich, nachdem er so viel Kraft auf einen Streich verschwendet hatte.
Sollte er ihn töten? Würde er es später bereuen, wenn er es jetzt nicht tat?
Er hob die Hände. Die Schattensänger keuchten auf, doch Askýn Lagoscyre wich keinen Schritt beiseite.
„Ma’al verée!”, sang der nun Namenlose spöttisch, beißend. „Zerbrochen dein Lied!”
Und wandte sich ab, bahnte sich einen Weg durch die Menge. Das war nicht schwer, denn sie wichen so impulsiv vor ihm zurück, fürchteten sie, auch nur von seinem Mantel gestreift zu werden.
Und so verließ er den Etaímalon, um für immer fortzugehen.
Einen Augenblick lang war es still im Saal. Erstarrt und gelähmt vor Fassungslosigkeit waren die Schattensänger. Es war schwer, zu begreifen, was soeben geschehen war, und viele von ihnen würden es nie richtig erfassen.
*
Der Namenlose verließ den Wald und machte sich auf die Suche nach der einer besseren Schutzmacht, wie es ihm die neue Stimme auftrug, die in seinem Herzen und seinem Geist klang. Sie schalt ihn dafür, dass er das ay’cha’ree nicht genommen hatte, aber schon bald schien sie sich für andere, ebenso brauchbare Dinge zu interessieren. Als er den Bannkreis des Etaímalon verlassen hatte, suchte der Namenlose das Lager der Rotgewandeten, er, der zweite Schattensänger, Noktámas Weltenspielfigur, die geschlagen worden war. Er tötete sie alle, allein durch die Kraft seines Blickes. Er tötete, freute sich an dem berauschenden Gefühl in seinem Herzen und ging fort.
Er sammelte Gefährten um sich, ein Gefolge nach seinem Geschmack. Er nannte sich selbst nur noch den Schwarzen Meister. Und es dauerte nicht lange, und jeder im Weltenspiel fürchtete diesen Namen.
Manchmal versuchte er, sich an seinen wirklichen Namen zu erinnern. Doch der war zerbrochen.
Für alle Zeit.
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