„Aber als der Mond aufging und sie sich auf den Weg nach Hause machen wollten, fanden sie keinen einzigen Brotkrümel mehr, denn die Vögel des Waldes hatten alles aufgepickt.”

Ich machte eine dramatische Pause, um meinen Worten Gewicht zu verleihen.

„Da werden die Vöglein sich über die leckeren Krümel sehr gefreut haben.”

Ich seufzte. „Ja, natürlich. Aber Hänsel und Gretel standen nun mitten im Wald und wussten nicht, wie sie nach Hause kommen sollten.”

Da ich nicht unterbrochen wurde, erzählte ich weiter, so gut ich mich an die Geschichte erinnern konnte. Den exakten Wortlaut hatte ich natürlich nicht im Kopf, aber im Groben wusste ich, wie es weiter ging. Ich versuchte, es spannend zu machen, schmückte den Irrweg des Geschwisterpaares anschaulich aus und kam schließlich zum nächsten Höhepunkt des Märchens.

„Und weil sie solchen Hunger hatten, brach Hänsel ein Stück von Dach ab und Gretel knabberte am Fensterladen und …”

„Aber die können doch nicht einfach das Haus essen!”

„Natürlich können sie. Sie sind tagelang ohne Nahrung durch den Wald gelaufen, und …”

„Aber das gibt ihnen nicht das Recht, das Haus zu essen. Da wohnt doch bestimmt jemand.”

Dýamirée Märchen zu erzählen war anstrengend. Ich weiß selbst nicht, warum ich es immer wieder versuchte, wenn sie mich darum bat. Das Ergebnis war stets gleich: Früher oder später kam man an einen Punkt, der die Geschichte für sie unglaubwürdig, moralisch zweifelhaft oder schlichtweg absurd machte. Als ich ihr erstmals vom Aschenputtel erzählt hatte, hatte sie sich tagelang nicht darüber beruhigen können, dass der Prinz sich eine hýrdora erwählte, nur weil der ein Schuh passte. Ob er sich während der ganzen wunderschönen Ballnacht denn gar nicht ihr Gesicht angeschaut und wenigstens ihre Augenfarbe gemerkt hätte?

Dýamirée war grundsätzlich von anderen Aspekten meiner aus meiner eigenen Kindheit in dieses Weltenspiel mitgebrachten Geschichten fasziniert als zu erwarten gewesen wäre. Vielleicht waren aber auch die Märchen von Unkundigen einfach unzugänglich für den Verstand von camat’ay [Schattensängern].

„Als ich mit deiner Mutter zum allerersten Mal durch den Boscargén gewandert bin”, mischte sich Yalomiro wenig hilfreich ein, „hätte sie keine Hemmungen gehabt, ein Haus aus Brot zu anzuknabbern.”

Dýamirée runzelte die Stirn. Vielleicht versuchte sie zu entscheiden, was lächerlicher war: Die Idee, Behausungen aus Backwaren zu bauen oder der Gedanke, dass ausgerechnet ihre artige Mutter sich daran vergriff.

„Wollt ihr wissen, wie es ausgeht?”, fragte ich die beiden. „Oder soll ich aufhören?”

Unsere Tochter überlegte einen Augenblick. Es war ihr deutlich anzusehen, wie Gedanken in ihrem Kopf hin und her zuckten. „Ist das Kuchenhaus eine Falle?”, fragte sie dann.

„Nei- … ja. Ja!. Jemand hat den Kindern eine Falle gestellt. Willst du wissen, wer und warum?”

„Natürlich.” Sie rückte begierig näher an mich heran und schaute mit neu aufflammendem Interesse zu mir auf. „Das ist spannend!”

„Es wird gruselig”, warnte ich.

Yalomiro setzte sich demonstrativ zu Dýamirée ins Gras. Nun blickten mich zwei Augenpaare erwartungsvoll an, das braun-silbrige eines erwachsenen Magiers und das auffallend hellgrüne des kleinen Mädchens. Dýamirée kuschelte sich an ihn.

„Erzähl weiter, Mama”, schmeichelte sie. „Ich unterbreche dich nicht mehr.”

Und du?, dachte ich kritisch in Yalomiros Richtung.

Ich bin still. Ich will diese seltsamen Geschichten verstehen.

Ich spürte eine zärtliche Berührung, obwohl er einen Schritt von mir entfernt saß. Seine maghiscal, die magische Energie, die ihn umgab wie eine Aura, überwand die Distanz und streifte jene, die um mich selbst lag, viel zarter und leiser als die seine, aber beständig. Wenn beide sich berührten, gab mir das stets ein Gefühl von Geborgenheit. Von Glück.

Füreinander.

Ich setzte meine kindische Geschichte von Hänsel, Gretel und der Hexe im Knusperhäuschen fort. Mein hýardor und unsere Tochter saßen mir zu Füßen vor dem Etaímalon, Noktámas Weihestätte im Gras und folgten interessiert der wunderlichen Erzählung, die in dem Weltenspiel, aus dem es mich hierher verschlagen hatte, zahllose Generationen von Kindern das Fürchten gelehrt hätte. Es war ein lauer Spätsommerabend. Die Sonne war längst über den Montazíel, das große Gebirge in der Mitte der Welt hinweg gezogen und von Süden folgte ihr der Nachthimmel wie ein blauschwarzer, samtener Schleier. Es war noch etwas Zeit, bis Yalomiro in Noktámas Halle gehen musste, um die Magie zu wirken, die unser Zuhause schützte und stärkte.

Ich fühlte mich behaglich. Das Wispern des Windes in den Ölbäumen, das Plätschern des Wassers am nahegelegenen Seeeufer, die vielen angenehmen Düfte der Pflanzen und die Tiergeräusche, bei denen sich nun das muntere Vogelgezwitscher des hellen Tages mit den geheimnisvollen Lauten der Nachttiere abwechselten – all das war mir in den vergangenen Sommern so lieb und kostbar geworden. Intuitiv wusste ich, dass ich den Ort gefunden hatte, an dem ich heilen konnte, mich von all dem ausruhen konnte, was ich in meiner und dieser Welt erfahren hatte. Eine abgeschiedene Idylle, in der ich nichts anderes erfuhr als Frieden, Schönheit und eben das Füreinander, das mich und Yalomiro verband.

Ihn, mich – und Dýamirée.

Dass Dýamirée bei uns war, schien mir das größte Wunder und Geschenk von allen zu sein. In meinem alten Leben hatte ich mir nie auch nur vorstellen können, eine Mutter zu werden. Kinder waren mir unheimlich gewesen, so laut und impulsiv und wild. Yalomiro hatte es seinerseits für ausgeschlossen gehalten, Nachkommen zeugen zu können. Irgendwie war es dennoch … passiert.

Wir waren glücklich. Und doch … wieso hatte Noktáma uns gewährt, was sie all den Schattensängern aller vergangenen Zeiten verwehrt hatte?

Was hatte sie vor?

Dýamirée war weder laut noch wild noch impulsiv noch unberechenbar. Im Gegenteil. Manchmal erschien sie mir verstörend ernst und erwachsen zu sein. Die Art, wie sie Fragen stellte und über Dinge nachsann, die ihr neu waren, hatte oft nichts Kindliches an sich. Sie war neugierig, wissbegierig und strahlte in allem, was sie sagte und tat, so viel arglose Freundlichkeit aus, dass es mir zuweilen unheimlich wurde.

Vielleicht hätte es ihr gut getan, Kontakt mit anderen Kindern, mit Spielkameraden zu haben. Aber wo sollten die herkommen, hier, mitten im Boscargén, im Wald, den Unkundige nur in Ausnahmefällen betraten, weil sie sich fürchteten?

Dýamirée fürchtete sich nicht, nicht einmal, als ich zu der Stelle kam, an der die Hexe ernsthaft plante, Hänsel aufzuessen, so wie jener zuvor das Lebkuchenhaus. Zumindest ließ sie sich nicht anmerken, ob die Vorstellung, dass böse Hexen kleine Kinder fräßen, für sie etwas Beunruhigendes hatte. Nachdem ich bei vielfältigen Gelegenheiten mit angehört hatte, wie Yalomiro ihr Schattensängermärchen erzählt hatte, wunderte mich das nicht. Geschichten, die Schattensänger einst ersonnen hatten, waren … dunkel. Abstrakt. Beunruhigend. Seine Art von Märchen hatte oft weder eine einfache Handlung noch eine klare Trennung von Helden und Schurken. Ein einziges Märchen aus Yalomiros Repertoire hätte Kinder aus meiner Welt möglicherweise nachhaltig traumatisiert.

Doch Dýamirée liebte es, ihrem Vater zuzuhören. Was ich zu erzählen hatte, von kinderfressenden Hexen in Lebkuchenhäusern und dergleichen, brachte sie eher zum Staunen und Lachen. Trotzdem bestand sie immer wieder darauf, dass auch ich erzählte. Das ließ ich mir nicht nehmen, so frustrierend es war, erklären zu müssen, warum Rotkäppchen nicht angesichts der plötzlich bepelzten Großmutter misstrauisch geworden war oder warum sich fallende Sterne in etwas so Profanes wie Goldtaler verwandeln sollten.

Allerdings erzählte ich ihr die entschärfte Version, bei der die Kinder die böse Hexe am Ende nicht umbrachten. Ich ließ ihnen stattdessen eine erfolgreiche Flucht gelingen.

Warum verdrehst du die Geschichte?, fragte Yalomiro überrascht. Natürlich spürte er, dass ich improvisierte. Ich hatte ihm einmal die unzensierte Fassung erzählt, um ihm zu erklären, wie Magie in meiner Welt interpretiert und dämonisiert wurde. So etwas wie Hexen gab es in seiner Welt nicht.

Es ist zu grausam. Sie ist zu jung.

Er erhob sich. „Das war eine erbauliche Geschichte. Aber nun habe ich zu tun. Er würde mich freuen, wenn du mit mir kämest, Salghiára. Dyámirée?”

„Ich gehe lieber zum See”, sagte sie stand auf und klopfte sich Staub vom Rock. „Ich will mir die Sterne im Wasser anschauen. Danke für die Geschichte, Mama.”

„Gerne.”

Sie schickte sich an, fortzulaufen, besann sich aber und blickte noch einmal fragend in meine Richtung. Ihre hellgrünen Augen musterten mich skeptisch.

„Aber wenn jetzt die Hexe immer noch in dem Wald wohnt und die nächsten Kinder das essbare Haus finden …”

„Es gibt keine Hexen, Dýamirée. Die haben sich die Leute in meinem alten Weltenspiel nur ausgedacht, damit Kinder sich gruseln.”

Das schien ihr nicht zu reichen.

„Ihr lasst mich nicht alleine, oder? Ihr würdet mich doch nicht im Wald stehenlassen und hoffen, dass ich nicht nach Hause finde?”

Das war ein neuer, ein irritierender Gedanke, der mich beunruhigte. Tatsächlich ging es in meinen Märchen übermäßig häufig um Eltern, die auf die eine oder andere Weise versuchten, ihre Kinder loszuwerden, auch durch gezielte Mordanschläge.

Yalomiro schien zu spüren, dass ich mich für einen Moment schuldbewusst fühlte. Er kniete sich zu Dýamirée hin und fasste sie sacht bei den Schultern. Stirn an Stirn verharrten die beiden einen Moment.

„Solange du uns brauchst”, versprach er, „werden wir bei dir sein. Wir werden nie erlauben, dass dir ein Leid geschieht, mein kleiner Stern.”

„Auch nicht, wenn eine Hexe mich holen wollte, oder ein hungriger Wolf?”

„Egal, wer es wäre, egal wer es wagt. Wir würden dich beschützen.”

„Würdest du gegen den Wolf oder die Hexe oder die böse Königin kämpfen, Papa?”

Yalomiros Augen flackerten silbrig auf. „Ich würde sie bezwingen.”

„Dann ist es ja gut”, antwortete sie zerstreut. Sie lächelte und rannte los, einem blau glimmenden Glühwürmchen hinterher. In ihrem schwarzen Kleidchen und ihren langen blauschwarzen Haaren verschmolz sie augenblicklich mit den Schatten des Waldes.

Ich musste mir keine Gedanken machen, dass sie plante, allein mitten in der Nacht am Ufer eines bodenlosen Sees im tiefen Wald zu spielen. Im Boscargén konnte ihr nichts zustoßen. Weder der See, noch die Bäume noch die Finsternis würden nach ihr greifen. Hier waren auch keine Hexen und gierigen Wölfe, nichts, was Yalomiro würde bezwingen müssen. Sie war sicher.

Ich folgte ihm in den Etaímalon, durch den Korridor, von dem unsere Wohnräume abgingen, zum großen Saal, der Noktáma geweiht war, blieb aber vorerst am Portal stehen. Bei dem, was Yalomiro nun, wie jeden Tag bei Einbruch der Nacht tun musste, wollte ich ihn nicht stören. Es sah immer so kompliziert aus, dass ich mir einbildete, es erforderte seine absolute Konzentration.

Er ließ sich auf dem schwarzen steinernen Sessel auf dem Podium in der Saalmitte nieder und beschwor mit ernstem, dunklen Gesang ein silbriges Licht herauf. Im Gegensatz zu den kleinen Gebilden, die er oft nebenher als Beleuchtung oder Spielzeug entstehen ließ, war dieses größer und massiver, sah ein wenig aus wie ein Wollknäuel aus leuchtendem Garn. Yalomiro lenkte das Licht in einem mir nicht nachvollziehbaren Muster kreuz und quer durch den Raum; die Spur, die es dabei hinterließ, bildete ein wirres Zickzackmuster, das sich zwischen den Rändern des sternförmigen Dachfensters und den Stufen des Thronpodestes aufbaute, wie das Netz einer chaotischen Spinne.

Ich wartete, bis Yalomiro damit fertig war, kam dann hinzu und setzte mich vor ihm auf den schwarzen Steinboden. Bei den ersten Gelegenheiten, bei denen ich angeschaut hatte, wie er Noktámas Magie mit dem Etaímalon verwob, war ich beunruhigt gewesen. Er saß auf dem Thron des Großmeisters, die Augen in stetem Silber schimmernd, unbeweglich. Anfangs hatte ich gedacht, er sei in diesem Zustand weggetreten und nicht ansprechbar. Was genau er da tat, verstand ich auch nach zehn Sommern noch nicht in allen Details. Aber ich wusste, dass es ihn körperlich erschöpfte und damit zu tun hatte, die Weihestätte zu erhalten, den Boscargén ringsum vor Eindringlingen abzuschirmen.

Es sei eine Meisterpflicht, hatte er erklärt, etwas, wozu meine eigene flüchtige maghiscal noch nicht ausreichte. Ich war nicht mit Magie geboren worden, jene, die ich in mir trug war eher eine Art Erbstück, etwas, das man mir anvertraut hatte. Yalomiro hatte mich in den vergangenen Jahren zwar geduldig angeleitet, sodass ich durchaus eine Reihe kleinerer Alltagszaubereien wirken konnte, aber das war längst nicht das selbe, als wenn ich als Kind damit angefangen hätte. Zum Glück würde ich im Boscargén wohl niemals in die Verlegenheit kommen, einen mächtigeren Bann zu wirken oder gar zu kämpfen.

Er hatte mir anvertraut, dass es ihm gut tat, wenn ich anwesend war. Früher, als sein Meister Askýn diesen kryptischen Zauber wirkte, hatte es noch weitere Schattensänger gegeben, die alle in der Halle versammelt gewesen waren. Manchmal saß Dýamirée nachts bei mir und leistete uns Gesellschaft. Aber nicht allzu oft. Ich stellte mir vor, dass es für sie ähnlich langweilig war wie einem Erwachsenen bei Büroarbeiten zuzuschauen. Draußen war es nachts spannender.

„Hattest du befürchtet, Dýamirée könne Mitleid mit der alten Frau aus deiner Geschichte haben?”, fragte er plötzlich.

Ich blickte auf. Dass ihn das alberne Märchen gerade jetzt beschäftigte, erstaunte mich.

„Ich weiß nicht so recht. Ich hätte nachdenken müssen, bevor ich ausgerechnet diese Geschichte begonnen habe.”

„Es wäre darauf hinausgelaufen, dass die Kinder sie besiegt und umgebracht hätten, nicht wahr?”

„Es … ja. Nachdem sie übergriffig in deren Heim eingedrungen sind. Ich habe als Kind nie darüber nachgedacht. – Meinst du, ich sollte es mit meinen alten Märchen lassen?”

„Nein. Die Geschichten gehören dir. Und auch wenn sie dir nicht mehr gefallen, sind sie dir doch kostbar. Warum solltest du sie Dýamirée nicht zeigen, damit sie deine Freude teilt?”

„Wie kommst du darauf, dass sie mir kostbar sind?”

„Weil du glücklich warst, als du sie gehört hast.”

Ich blickte auf den schwarzen, glänzenden Boden. Glücklich? Vielleicht. Meine Oma hatte mir damals vorgelesen, Wort für Wort, aus einem altmodisch illustrierten Märchenbuch. Frei erzählen konnte sie nicht, hinterfragt hatte sie auch nichts. Aber ich hatte mich geborgen gefühlt. Die verstörenden Geschichten kamen aus einem alten Buch und waren tot. Sie veränderten sich nicht. In meiner Welt gab es keine Lebkuchenhäuser im dunklen Wald. Es gab nicht einmal mehr einen dunklen Wald. Die Märchen konnten mir nichts zuleide tun. Und Oma hätte mich auch nie allein zurückgelassen. Bis sie es schließlich doch tat und hinter die Träume ging.

„Ich will nicht, dass sie sich fürchtet. Vielleicht erzähle ich es richtig, wenn sie etwas älter ist.”

„Dies hier ist keine heile Welt, Salghiára”, erinnerte er mich sanft. „Sich zu fürchten, gehört dazu.”

Wir schwiegen eine Weile. Das Lichtgewirr um ihn herum verglomm langsam.

„Wovor fürchten sich Schattensängerkinder?”

„Vor dem Üblichen. Vor Gold. Vor Chaosgeistern. Vor Rotgewandeten.”

„Hast du Dýamirée etwa von Lichtwächtern erzählt?”, fragte ich überrascht.

„Nein. Noch nicht. Sie würde es nicht verstehen.”

„Weil sie zu klein ist?”

„Weil es vergangen ist.” Er erhob sich und wechselte das Thema. „Wir bekommen bald Besuch.”

„Woher weißt du das?”

„Ich spüre, dass jemand kommt und zu uns will.”

Das war ungewöhnlich. Es kam äußerst selten vor, dass Unkundige den Boscargén betraten. In den ersten Jahren nach unserer Rückkehr hierher, nachdem der verödete und verdorrte Wald nach und nach wieder zum Leben erwacht war, hatten sich vereinzelt Unkundige herangewagt. Der grüne Schimmer der frischen Blätter musste an klaren Tagen deutlich zu sehen gewesen sein. Yalomiro hatte versucht, mit ihnen zu reden, aber als sie seiner gewahr worden waren, waren sie panisch geflohen.

Anfangs.

Zwischenzeitlich kamen ab und an Menschen an den Waldrand. Näher heran wagten sie sich nicht. Aber einige ganz Mutige hatten begonnen, in Sichtweite des Waldes erste Felder neu anzulegen und zu bestellen. So, wie es früher gewesen war. Yalomiro beobachtete sie aufmerksam aus der Ferne. Ich wusste, er würde sie gewähren lassen, solange er ihr Treiben als den Mächten gefällig bewertete. Aber er würde sie zurechtweisen, wenn sie Grenzen übertraten. Vielleicht wie Hänsel und Gretel, die das Lebkuchenhaus anknabberten.

Nur eine einzige Gelegenheit hatte es gegeben, an denen tatsächlich eine Unkundige einige Tage im Etaímalon verweilt hatte. Ich habe nie herausgefunden, wie Yalomiro es fertiggebracht hatte, Isan zu uns zu rufen, gerade rechtzeitig, bevor es so weit war. Die doayra war damals noch ein ganz junges Mädchen gewesen, deutlich zu jung, um ohne fremde Hilfe als Hebamme zu fungieren. Aber Isan wäre nicht Isan gewesen, wenn sie das in irgendeiner Weise davon abgehalten hätte, es zu versuchen, denn immerhin hatte sie schon mehrfach erfahreneren Frauen assistiert. Eines Tages war sie aufgetaucht, forsch und furchtlos mitten durch den Wald geritten, auf einem schönen, gepflegten Damenpferd, offensichtlich einem großzügigen Geschenk von yarl Althopian. Ich konnte es nicht fassen, dass sie für mich die weite Reise aus dem teirandon Spagor auf sich genommen hatte und war unendlich erleichtert gewesen. Yalomiro hatte Isan ihre Hilfe reich entgolten, indem er sein Wissen über heilkräftige Pflanzen mit ihr geteilt und ihr seltene Samen für ihren eigenen kleinen Kräutergarten am Meer geschenkt hatte. Isan würde damit eine geachtete Ärztin werden.

„Weißt du, wer es ist?”

„Nein. Er ist noch zu weit weg, doch er kommt in Frieden. Aber es ist etwas Wichtiges.”

Ein kurzer silberner Schimmer flog über seine Augen, aber nicht schnell genug, dass es mir entgangen wäre.

Nichts Wichtiges also. Etwas Beunruhigendes.

Dýamirée saß derweil am Ende des Findlings, der vom Ufer aus ein Stück weit in den See ragte. Das Wasser war fast unbewegt. Im hellen Mondlicht spiegelten sich die Bäume am Ufer, ragten hinein in eine unendliche Tiefe. Dies war der Lieblingsplatz der Eltern am See, und das Mädchen verstand instinktiv, wieso dem so war. Dies war ein wahrhaft magischer Ort.

Das kleine Mädchen hatte ein Bötchen aus Rinde und einem großen Blatt gebastelt und ließ es auf dem schwarzglänzenden Wasser schwimmen. In seiner Vorstellungskraft war es ein großes, feines Schiff mit starken Segeln, das über das weite grüne Meer segeln könnte, hin zu den Inseln von Ovéstola und vielleicht weit darüber hinaus. Der Vater hatte ihr vom Meer erzählt und die Mutter auch, von einem anderen Meer zwar, einem, das Dýamirée niemals zu Gesicht bekommen würde, weil es irgendwo außerhalb des Chaos in einem fremden Weltenspiel lag. Aber Dýamirée stellte es sich vor, das Rauschen der Wellen, ähnlich wie bei Wind hier am See, nur lauter und regelmäßiger. Sie versuchte, sich auszumalen, wie salziger Wind roch und wie es wohl sein mochte, keinen einzigen Baum im Blick zu haben. Sie war acht Sommer alt und hatte den Wald nie verlassen, aber ihr Vater konnte Erinnerungen mit ihr teilen. So hatte das Mädchen Bilder gesehen, von den Orten, an denen er einmal gewesen war. Die endlose Weite hatte das Kind zutiefst beeindruckt.

Die Mutter konnte keine Bilder teilen. Es wäre zu verwirrend, zu kompliziert, behauptete sie. Ihre Welt sei so sehr anders gewesen als diese hier. Aber die Mutter schenkte ihr Gefühle, so warme, zärtliche Empfindungen. Dýamirée hatte keine Worte, um all das zu benennen, denn sie kannte nichts anderes als die Geborgenheit, die ihre Eltern ihr gaben, als das Füreinander, das sie mit ihr teilten. Niemals hatte sie sich einsam gefühlt. Den Gedanken, Geschwister zu haben oder zumindest anderen Kinder in ihrer Nähe, fand sie allerdings faszinierend. In den Märchen der Mutter hatten die Figuren oft Brüder oder Schwestern.

Das Borkenboot segelte still über das Wasser, genau auf den Streifen Licht zu, den der Mond auf das Wasser warf. Ein paar Glühwürmchen begleiteten seine Fahrt, schwebten darüber, und ein besonders vorwitziges ließ sich auf der Mastspitze nieder. Das Kind lächelte, wartete noch eine Weile und entschied dann, es sei an der Zeit zurück ins Haus zu gehen. Sicher war der Vater zwischenzeitlich zum Ende gekommen mit seinem Dienst an Noktáma, der Lebendigen Nacht.

Sie legte sich bäuchlings auf den Stein und tauchte ihre Fingerspitzen ins Wasser.

Komm her, beschwor sie das Boot. Komm zu mir.

Aber das Schifflein setzte seine Fahrt fort, immer weiter. Es fuhr auf dem Mondlicht wie auf einer Straße.

Komm zu mir! Ich will, dass du zu mir kommst!

Kaum noch waren die Glühwürmchen auf ihrer Seereise zu erkennen. Viel zu weit waren sie schon vom Ufer entfernt.

Bringt es mir zurück, wandte Dýamirée sich an das Wasser. Ich will es zurückhaben!

Und nun waren ihre Augen nicht mehr in der Lage, das kleine Spielzeug noch auszumachen.

Bitte, flehte Dýamirée. Bitte!

Aber niemand hörte auf sie, nicht das Boot, nicht das Wasser, nicht die Nacht.

Enttäuscht setzte Dýamirée sich auf. Eine Weile blickte sie schweigend in die Dunkelheit, die ihr das Boot genommen hatte.

Warum bist du böse mit mir, Noktáma?, dachte das kleine Mädchen verbittert. Aber niemand antwortete ihm.

Das Kind seufzte tief auf, erhob sich und kehrte dem See den Rücken, trottete enttäuscht zurück zum Haus. Niemals würde es glücken. Es gab keine Magie. Nicht für Dýamirée Lagoscyre.