
Für eine Weile hatte er den völlig absurden Gedanken gehegt, sich zu verstecken, einfach zu verkriechen wie ein Tier bei Gewitter und abzuwarten, bis die anderen vergessen haben mochten, was er getan hatte.
Wie unsinnig! Wie konnte er erwarten, dass sie jemals vergaßen, was er an Furchtbarem gedacht und verübt hatte?
Zudem waren es gar nicht die camat’ay, die er fürchtete. Viel beängstigender erschien ihm die Stimme, die zu ihm gesprochen hatte. Diese Stimme … so fremd und doch so verlockend, so einlullend, so sehnsuchtsvoll. Eine Stimme, die es gut mit ihm meinte. Die verstanden hatte, was ihn bewegte, was ihn trieb.
Ohne es zu bemerken, hatte er die Kontrolle über seine Schritte verloren. Sein Instinkt führte ihn zurück zum Etaímalon anstatt in ein nur allzu offensichtliches Versteck fernab der anderen Schattensänger.
Was suchte er hier? Was glaubte er, in diesen Mauern noch zu finden, der magischen Halle der Dunkelheit selbst, der unendlichen Nacht, die seine Unruhe und seine Verbitterung so sehr eingeengt hatte?
Was konnte es hier noch geben, was die Unruhe linderte, die ihn nun quälte?
„Ich kann nicht hierher zurück”, sagte er bei sich.
Dann geh fort, empfahl ihm die Stimme leichthin. Niemand kann dich halten. Geh dorthin, wo du lassen und tun kannst, was du für richtig hältst.
Er zögerte, konnte nicht zurückkehren, und er konnte sich auch nicht verstecken. Fortzugehen, ja, das würde die einzige Lösung sein. Recht hatte sie, die Stimme. Jedoch …
„Ovidáol ist verbannt”, sagte er und schauderte. „Sie haben ihn ausgestoßen. Das wird mir auch geschehen.”
Ovidáol ist glücklich, argumentierte die Stimme. Er hat sich aus Noktámas Knechtschaft befreit. Was er nun tut, es geschieht nach seinem Willen. Und so ist es richtig.
„Nein”, widersprach er wütend. „Ovidáol ist wahnsinnig! Ovidáol handelt gegen den Willen der Mächte, die ihm seine Magie schenkten. Ovidáol …”
Ovidáol lässt die Rotgewandeten dafür bezahlen, was sie deinesgleichen antun. Ovidáol ist das Werkzeug, welches die Mächte zu milde waren, gegen die Bestien einzusetzen.
„Nicht nur die Bestien”, widersprach der Schattensänger. „Längst führt Ovidáol einen Krieg gegen alles und alle.”
Und die Schattensänger lassen ihn gewähren. Welche Schuld, welche Verantwortung liegt auf deinesgleichen?
Der Schattensänger schwieg. Dort, nur wenige Schritte entfernt, stand die Hütte, die Fassade, das Tor in die Welt der Dunkelheit, der Ort, der sein Zuhause war. Der sichere Ort, an dem die Großmeisterin ihn zu dem erzogen hatte, was er jetzt war und was ihn unglücklich machte ob der verfluchten Hilflosigkeit, die er empfand.
Du musst gehen, lockte die Stimme. Wenn nicht du, wer hätte sonst allein die Kraft, Ovidáol ins Gewissen zu reden? Du könntest es. Du bist der mächtigste, der untadeligste Schattensänger von allen, und du allein hast die Fähigkeit, einzugreifen und selbst zu bestimmen.
„Nein”, sagte er müde. „Dazu habe ich nicht die Kraft. Genügt es nicht, was ich an Schande auf mich geladen habe? Meinesgleichen kann mir nicht vergeben, und ich bin zu schwach, um dem Wahnsinnigen entgegenzutreten.”
Dann tu dir den Gefallen und laufe vor ihnen weg wie ein verschrecktes Windninchen, sagte die Stimme. Suche deine Sicherheit in der Flucht. Aber wenn du ohnehin den Etaímalon verlässt, solltest du deine Sachen packen.
„Ich habe nicht viel, was sich mitzunehmen lohnt.”
Das ay’cha’ree solltest du nicht liegenlassen.
Er zuckte zusammen. „Das ay’cha’ree? Warum? Was soll ich damit?”
Wenn es nicht mehr hier ist, sagte die Stimme listig, warum sollten sie dann noch herkommen, um zu morden? Und … wäre es nicht praktisch, das zu besitzen, um dessentwillen jeder Lichtwächter alles für dich täte?
„Das ist Wahnsinn!”
Wahnsinn, gab die Stimme zu bedenken, kann befreien.
Der Schattensänger zögerte. Auch Ovidáol hatte den Boscargén verlassen, den Kreis durchbrochen, hatte sich befreit. Ovidáol hatte eine Macht erlangt, eine Macht gefunden, die er in der Dunkelheit nicht suchen konnte.
Er ging hinüber zum Haus, leise, verstohlen, wie ein Kind, das sich mit einem ausgesprochen schlechten Gewissen an der Mutter vorbeimogeln will.
*
Die Meisterin hatte ihn erwartet, wusste, dass er da war, noch bevor er lautlos in die Halle geschlüpft war. Er zuckte überrascht zusammen, als sie ihn ansprach. Er hatte nicht erwartet, sie hier und jetzt in Noktámas Saal anzutreffen, wo doch die anderen den Wald durchstreiften und gewiss seine Schandtat schon entdeckt hatten.
„Sohn”, sagte sie, ihre Stimme eine bittere Anklage, durchsetzt mit mitleidigem Trost.
„Ich gehe fort”, antwortete er und mied ihren Blick.
„Du kannst nicht fortgehen. Was sollte aus dir werden, außerhalb des Heiligtums?”
Er kam näher. Unwillen ergriff ihn. Wie konnte sie dort sitzen und solche Dinge sagen, sie, die zweifelsohne genau wusste, was mit ihm geschah?
„Wie sollte ich fortbestehen innerhalb des Heiligtums?”, fragte er hart.
„Warum hat du es getan?”, wollte sie wissen.
Er stutzte und schaute sie überrascht an. Sie fragte nach dem Grund? Er selbst hatte sich noch keine rechten Gedanken über das Warum gemacht. Musste man sich Gedanken machen, wenn die Bestien sich eine Blöße gaben? Musste man nicht viel eher … einfach zuschlagen, bevor sie es taten?
„Sie haben das Mädchen ermordet”, sagte er zornig.
„Und ist sie nun wieder lebendig, nachdem du deine Magie mit Blut besudelt und dein Herz beschmutzt hast?”, fragte die alte Frau ernst und ohne erkennbare Anteilnahme am Schicksal der Toten.
„Ein Leben gegen das andere”, schnappte er. „Das ist nur ein gerechter Ausgleich!”
Sie schüttelte den Kopf. „Du verstehst es nicht. Wie viele Sommer habe ich versucht, dir Noktámas Regeln zu zeigen …”
„Die Regeln von Noktáma sind falsch!”, behauptete er erregt. „Noktáma verlangt von uns, Opfer zu sein! Die Rotgewandeten kehren sich nicht daran, wie vorbildlich wir unsere Regeln einhalten! Die Rotgewandeten wollen nichts anderes als unser Blut!”
„Möglich”, sagte sie sanft. „Aber hast du sie gesehen, die Rotgewandeten? Hast du gesehen, welchen Schmerz ihnen die Verachtung ihrer Schutzmacht bereitet? Hattest du den Eindruck, die triumphierenden Sieger vor dir zu haben?” Sie lehnte sich zurück und seufzte. „Ich habe sie gesehen, Sohn. Viele, viele Male. Ich sah sie töten und ich sah, wie sie dabei leiden. Ich kenne ihre Bürden. Wenn du Noktáma verlässt, mein Schüler, wirst du dieselbe Qual erleiden wie jeder einzelne derer, die du so verachtest. Du wirst werden wie einer von ihnen, und wir werden alle verabscheuen.”
Er betrachtete sie, wie sie da saß, auf dem Thron des Großmeisters, sie, die stärkste, die mächtigste der lebenden Schattensänger.
Sie hielt Fürsprache für die, die ihresgleichen meuchelten, Schüler wie Meister. War das im Sinne ihrer Bestimmung? War sie überhaupt auf der Seite der so empfindlich angreifbaren Gemeinschaft der Schattensänger?
Er fühlte sich angewidert und verspürte das Bedürfnis, den Saal zu verlassen. Sie war nicht würdig, hier zu sitzen und über die anderen zu bestimmen. Ihre Schwäche, ihre Anleitung, bestimmt von Untätigkeit und Sanftmut würde den Schattensängern den Untergang bringen.
„Weißt du eigentlich, warum sie uns töten?”, fragte sie unbeeindruckt von seinem Ärger und zweifellos bestens unterrichtet über seine Gedanken, seine frevelhaften Ideen.
Er zögerte. Es widerstrebte ihm, das Gespräch weiter zu führen, aber gleichzeitig meldete sich etwas tief im Innersten seines Herzens, zu leise, um sich gegen die schweigende, lauernde Stimme seiner Gedanken zu artikulieren. Aber, was immer es war, es war wie ein kleiner Stachel. Etwas, das ihn dazu anhielt, sich zu erinnern und zuzuhören.
„Sie schimpfen uns Diebsgesindel. Dabei sind sie es, die uns das Artefakt rauben wollen.”
„Bist du ein Dieb? Auch du bist gekommen, um nach dem ay’cha’ree zu greifen.”
„Woher wisst ihr das?”
„Ich höre deine Gedanken.”
Er schwieg, da er keinen Grund hatte, ihr zu widersprechen.
„Sie haben Angst”, fuhr sie leise fort. „Sie haben Angst vor demjenigen, der etwas begonnen hat, worin sie untergehen werden, wie in einem Sog, einem Mahlstrom. Sie suchen unseren Rat gegen einen gemeinsamen Feind. Einen schrecklichen, monströsen und unerbittlichen Feind, hervorgebracht aus unseren Reihen.”
„Recht geschieht es ihnen”, sagte er hart.
Sie atmete ein, ein erschrockenes Aufstöhnen. Er betrachtete sie mitleidlos.
„Sind die Schattensänger nicht frei von Liebe und von Hass?”, fragte sie ernst. „Was ist es, was sich deines Geistes bemächtigt hat, mein Sohn? Was ist es, was dich dazu treibt, so zu sprechen?”
„Seid Ihr es nicht, die allwissend ist?”, fragte er mit bissigem Spott.
Sie legte die Hand an die Stirn und schaute einen Moment wortlos zu Boden.
„Der, den du getötet hast”, sagte sie dann leise, „kam, um in Frieden zu uns zu sprechen. Er kam, um unsere Hilfe zu erbitten.”
Der Schattensänger lachte freudlos auf. „Also wart Ihr es! Ihr habt zugelassen, dass ein rotgewandeter Unhold den Wald betritt!”
Sie neigte den Kopf. „Er war reuigen Herzens”, sagte sie. „Er kam, als Meister zu Meistern, als Botschafter. Er konnte nicht ahnen, dass seine Gefährten unsere Schülerin gefangen hatten, wahrscheinlich nach einem erbitterten Kampf. Er war unschuldig.”
„Ihr selbst habt die Gemeinschaft verraten, den Ihr so wertschätzt!”, stieß er hervor.
Sie schüttelte langsam den Kopf.
„Sie haben die törichte Schülerin getötet!”, fuhr er sie unbeherrscht an. „Ist es das, was Ihr Frieden nennt?”
Sie blickte auf. Nun waren Augen silbrig und ihre Miene hart.
„Du, mein Schüler”, sagte sie leise, „hättest der Schlüssel sein können. Du wärest der gewesen, der die Botschaft des rotgewandeten Meisters gehört hätte. Doch du hast deine Chance nicht genutzt. Die Rotgewandeten werden uns jetzt nicht nur Diebs- sondern auch Mördergesindel schimpfen. Zu Recht!”
„Sollen sie es doch!”, entfuhr es ihm. „Sollen sie doch begreifen, dass nicht alle Schattensänger feige Kriecher vor Noktáma sind!”
Sie schnellte mit bemerkenswerter Beweglichkeit vom Thron hoch. „Du wagst es, Noktáma zu lästern?”
„Ich tue noch viel mehr!”, gab er erregt zurück, während sein Geist sich zweiteilte. Die eine Hälfte trat verschüchtert beiseite und beobachtete entsetzt und machtlos, was die andere tat, nämlich, sich von seinem Verstand abspalten und seine Zunge bewegen, eine Zunge, die der Meisterin entgegenhielt: „Ich brauche die Mächte nicht! Und ich brauche auch nicht die Regeln der camat’ay! Ein Gefängnis ist der Etaímalon, ein Kerker, der die wahrhaft Mächtigen und Tapferen davon abhält, sich für die Gerechtigkeit zu engagieren.”
„Wenn du so redest”, sagte sie, und das Entsetzen über seine Äußerungen stand ihr ins Gesicht geschrieben, „dann verleugnest du die Dunkelheit, die Mächte und das Weltenspiel, schmähst das Geschenk, was sie dir gewährt haben, seit du deinen ersten Atemzug getan hast!”
„Ich werde noch viel mehr tun”, schleuderte er ihr entgegen. „Ich werde gehen, um das Böse zu suchen. Denn den Glauben an das Gute habe ich verloren.”
Sie starrte ihn an, mit einem Entsetzen, das sich nicht annähernd in Worte fassen ließ. Er lachte leise. Da war es wieder, dieses trunkene Gefühl, das sich so angenehm im Herzen ausbreitete. Der Tod des Rotgewandeten hatte sich so angefühlt, aber die Furcht der Meisterin war fast noch besser. Sie, die Mächtigste … sie fürchtete ihn!
„Ich will die Macht, das Gute wieder herstellen, und dazu brauche ich wohl das Böse. Das Böse wird mich stark machen. Durch mein Wirken wird der Kampf beendet werden, und ich werde nicht nur der Schlüssel zum Frieden, ich werde das Fundament einer neuen Macht sein”, fügte er, etwas sanfter, und immer noch lächelnd hinzu. „Ihr werdet das verstehen, Meisterin.”
„Es gibt nichts Gutes”, sagte sie leise. „Und es gibt nichts Böses. Beides besteht nur geschaffen durch eines jeden Herz, Geist und Tat. Hast du denn gar nicht zugehört, wenn ich zu dir geredet habe?” Dann verbarg sie das Gesicht in Händen und schwieg.
„Wo ist das ay’cha’ree?”, fragte er unbeeindruckt. „Ich brauche es auf meinem Weg.”
„An einem Ort”, murmelte sie, „wo du es nicht finden wirst.”
Er hob die Brauen, und mit einem Wimpernschlag änderte sich seine Sicht. Es war, als sei er von einem Herzschlag zum anderen in eine neue Haut geschlüpft, in eine Hülle, die nicht mehr an das gebunden war, was Noktáma den Schattensängern aufbürdete. Diese alte Frau hier, Meisterin mochte sie sich nennen, die ging ihn nichts mehr an. Von der vermochte er sich loszusagen.
„Ich will es wissen”, fuhr er ruhig fort.
Sie blickte auf. Das Silber in ihren Augen flackerte.
„Ich erkannte deine Bestimmung in deinen unschuldigen Kinderaugen, damals, als ich dich zu uns holte”, sagte sie. „Das Zeichen, das Noktáma uns Meistern auftrug, zu suchen. Da war Wille in dir, starker Wille, und sehr, sehr viel Kraft. Aber ich habe versagt, denn jetzt hat offenbar etwas anderes nach dir gegriffen. Es ist nicht mehr an mir, dich zu retten.”
„Ich bedarf keiner Rettung!”, erinnerte er sanft. „Ich will nur das Artefakt!”
„Du bekommst es nicht!”, entschied sie, und sie duldete keinen Widerspruch. „Geh fort, wenn es dir beliebt, aber greife nicht nach Dingen, die nicht für dich bestimmt sind.”
Er ballte die Fäuste.
Und ehe er begriff, was er tat, schrie er ihr einen Bann entgegen, schrill und dissonant. Ein Ausläufer seiner maghiscal, die bis gerade zart wie ein Schleier um ihn herum gelegen hatte, schoss auf die Meisterin zu und war sonderbar verfärbt.
Sie prallte zurück und schlug mit dem Hinterkopf fest gegen die steinerne Lehne des Thrones. Aber ihre eigene maghiscal bewahrte sie vor ernsthaftem Schaden.
Benommen lediglich durch die körperliche Einwirkung rappelte sie sich hoch.
„Der Schüler richtet die Kraft also gegen den Meister, und noch dazu im Innersten des Heiligtums”, stieß sie hervor. „Welcher Wahnsinn macht dich besessen?”
Er hörte nicht hin, sammelte bereits Kraft – Kraft, die seinen Blick erfüllte und durch den Glanz seiner Augen hervorbrechen würde.
Aber er kam nicht mehr dazu, sie anzublicken und auch sie auszulöschen, sie, die sich nicht anmaßen durfte, ihn zu halten.
Die vereinte Energie von Askýn Lagoscyre und weiteren Schattensängern, die in den Saal stürmten, blitzartig sahen und begriffen, traf ihn und streckte ihn zu Boden.
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