„Man soll nicht an Türen lauschen”, sagte Tíjnje vorwurfsvoll.

„Du musst ja nicht mitmachen”, gab Manjév zurück und drückte ihr Ohr gegen das weiß lackierte Holz.

„Das gehört sich nicht, sagt Mama”, beharrte Tíjnje ernsthaft.

„Sei leise! Ich kann nichts hören!”

Tíjnje runzelte empört die Stirn und schaute sich, nach Beistand suchend nach der opayra [~ Gouvernante] um. Aber die ältere Dienerin, die mit der Aufsicht über die beiden Mädchen betraut war, war über ihrer Lektüre auf der Sitzbank am Fenster eingedöst. Warum auch nicht? Was konnten die Kinder schon anstellen, wenn sie brav miteinander und all dem Spielzeug beschäftigt waren, das für sie bereit stand?

„Ich sag’s meinem Papa!”, drohte Tíjnje. „Und … und meinem Opa! Und die sagen es deinen Eltern!”

„Mach das.” Manjév winkte ungeduldig ab. „Dann befehle ich deinem Vater und deinem Opa eben, dass sie es ihnen nicht weitersagen sollen.”

Tíjnje setzte das Püppchen, das sie gerade in der Hand hielt, energisch auf den Boden, stand auf und trippelte auf Manjév zu. „Dann hol ich dich eben selbst von der Tür weg! Wir sollten brav sein und warten.”

Manjév seufzte und wandte sich ihrer Spielgefährtin zu, „Tíjnje, wenn du nicht sofort Ruhe gibst, dann wecke ich die opayra und sag ihr, dass du mich ärgerst. Dann darfst du nie wieder hier spielen.”

Das jüngere Mädchen besann sich und wog wohl die Konsequenzen ab. Dann kam es näher und versuchte seinerseits, zu lauschen. In der Regel war es vorteilhafter, sich dem Willen der teirandanja [~ Prinzessin] zu beugen. Manjév von Wijdlant und Spagor war nicht nur drei Sommer älter als sie selbst, sondern konnte ihren Willen stets wider bessere Argumente durchsetzen, sofern es nicht gerade ihre eigenen Eltern waren, von denen sie etwas einforderte.

Es hatte seine Vorteile, die Spielgefährtin einer teirandanja zu sein. Man bekam hübsche Gewänder, auserlesene Speisen und konnte all das schöne Spielzeug mitbenutzen. Seit einiger Zeit durfte Tíjnje sogar dabei sein, wenn Manjév ihren Unterricht bekam, und sie konnte sogar schon einige Buchstaben selbst niederschreiben und ein wenig rechnen. Alles in allem verbrachte das jüngere Mädchen eine wunderbare Zeit auf der Burg von Wijdlant. Das einzig Ungerechte war, so urteilte Tíjnje, dass es stets die teirandanja war, die ihren Kopf durchsetzte, mit Schmeicheln und Charme, und wenn das nicht funktionierte, mit Trotz und Entschlossenheit. Zum Glück hatten die Mächte Manjév mit einem freundlichen Herzen und angenehmen Wesen versehen. Eine Tyrannin war das Mädchen nicht, obwohl es die Macht dazu besessen hätte.

„Was ist denn da los?”, fragte das kleinere Mädchen. „Worüber reden die?”

„Keine Ahnung. Aber wenn sie die Tür schließen, damit wir nicht mithören, muss es etwas furchtbar Wichtiges sein.”

„Oder etwas sehr Langweiliges.”

„Jetzt sei doch einfach still”, zischte Manjév. „Sonst erfahren wir es nie.”

Die beiden kleinen Mädchen waren nun mäuschenstill. Die opayra schlummerte weiter. Die Tür zum Vorraum war fast nie geschlossen und übte somit auf die Kinder eine unwiderstehliche Faszination aus. Asgaý von Spagor und Kíaná von Wijdlant hatten in dem Zimmer dahinter die Boten empfangen hatten, die fast zeitgleich aus den yarlmálon [~ Herrschaftsbereich eines yarl] des teirand [~ König] eingetroffen waren. Die Kuriere waren schon lange wieder gegangen. Die Tür hatte sich hinter ihnen jedoch wieder geschlossen. Beunruhigend lange, wie Manjév fand. Sie hatte bei der Gelegenheit einen kurzen Blick ins Zimmer werfen können, das Gesicht der Mutter für einen ganz kurzen Moment gesehen und war erschrocken vor der Betroffenheit, dem Ernst darin.

Die Botschaften, die aus Spagor gebracht worden waren, bekümmerten die Mutter. Das war nicht gut. Die Mutter sollte fröhlich sein. Manjév ahnte, dass die teiranda sich nicht, wie es ihre Art war, im Anschluss an die langweiligen Audienzen zu den Mädchen gesellen und mit ihnen gemeinsam auf dem Teppich mit den schönen Püppchen und der großen hölzernen Burg spielen würde. Das luxuriöse Spielzeug hatten Tíjnje und sie selbst vorhin noch mit allerlei selbstgebastelten Bannern und Fahnen geschmückt.

Zu ihrer Enttäuschung konnten die Mädchen kaum ein Wort verstehen. Das dicke Holz dämpfte die Stimmen des Herrscherpaares zu einem strukturlosen Murmeln.

Ab und zu redete eine dritte Person. Dass die Eltern den mynstir [~ yarl in der Funktion eines persönlichen Beraters] bei sich behalten hatten, war ein weiterer Hinweis darauf, dass etwas anders war als sonst.

Manjév wandte sich frustriert von der Tür ab. Tíjnje atmete erleichtert auf. Neugierde war eine Untugend, das wiederholte die opayra so oft. Bestimmt hätte sie gescholten, wenn sie die Kinder mit dem Ohr an der Tür erwischt hätte. Erleichtert wollte das kleine Mädchen schon wieder zum Spiel zurückkehren, doch die teirandanja schritt entschlossen an der Puppenburg vorbei und aus dem Raum. Nur einen ganz kurzen Moment hatte die Kleine, um sich zu entscheiden, die schlummernde Kinderfrau zu wecken oder ihrer jungen Gebieterin zu folgen. Aber Tíjnje war keine Petze.

„Warte!”, rief das kleine Mädchen, während es sich bemühte, mit Manjév Schritt zu halten. „Wo willst du denn hin?”

„Ich suche die Boten. Wir fragen nach.”

Das war mit größter Sicherheit wohl nichts, was die Majestäten gut geheißen hätten, aber das forsche Ansinnen überraschte das kleine Mädchen nicht. „Die sind doch bestimmt unten in der Schankstube”, protestierte es schwach. „Da dürfen wir nicht hin!”

Ich darf überall hin.”

„Die opayra wird schimpfen! Und deine Eltern auch. Und … und mein Opa!”

„Na und?”

„Dann schicken sie uns beide in unsere Stuben!”

„Aber wir wissen dann wenigstens, was los ist.”

Manjév lüftete ihr bodenlanges Kleidchen aus schneeweißem Leinen, um nicht auf der Treppe über den Saum zu stolpern und stapfte unbeirrt weiter. Die Kinder verließen den Wohnbereich der Burg und gelangten auf die Galerie, die die große Halle im Erdgeschoss umlief. Von dort aus führten an den Ecken hölzerne Wendeltreppen abwärts; von der Halle aus würden sie leicht hinaus auf den Hof gelangen, sofern sich ihnen niemand in den Weg stellte. Dass die Mädchen ohne Begleitung in der Burg herumliefen, war ihnen eigentlich nicht erlaubt. Zwar konnte den Kindern hier im Haupthaus nichts geschehen, aber seine Ordnung hatte es nicht.

Tíjnje erwartete, dass die teirandanja eilig herunter stürmen würde, aber zu ihrer Überraschung verlangsamte das ältere Mädchen seinen Schritt und blieb schließlich mitten auf der Längsseite der Galerie stehen. Auf der gegenüber liegenden Seite machten sich gerade zwei Knechte an den bunten Bannern zu schaffen, die dort zum Schmuck hingen. Mehrere Bedienstete, die unten in der Halle zu tun hatten, beobachteten das Tun ebenfalls, mit beunruhigend ernstem Blick.

Die Männer auf der Galerie drapierten schweigend dunkelrote Tücher über dem blauen Wappen mit dem silbernen Pferd und dem honiggelben mit den drei weißen Fischen. Manjév hatte etwas Ähnliches vor drei Wintern schon einmal gesehen. Damals hatten die Tücher das Wappen mit den Ähren verdeckt, und Daap Grootplen, der getreue mynstir und Tíjnjes Großvater, war lange fort gewesen und schließlich sehr, sehr traurig zurückgekehrt. Asgaý von Spagor hatte seiner kleinen Tochter damals in einfachen Worten erklärt, dass der alte Vater von Herrn Daap den Weg hinter die Träume gefunden habe. Die teirandanja hatte das sehr traurig gefunden und aufrichtiges Mitleid mit dem etwas behäbigen, immer freundlichen Ritter gehabt, aber die Trauer des Mannes war ihr fremd geblieben. Sie konnte sich damals nicht vorstellen, dass Eltern Eltern haben, denn sowohl Kíaná vor Wijdlant als auch Asgaý von Spagor waren Waisen. Jetzt, mit fast neun Sommern und mehr Verstand als damals, verstand die teirandanja, dass nun in den Häusern Emberbey und Althopian jemand sehr, sehr traurig war.

„Tìjnje! Herrin? Hat es seine Ordnung, dass ihr hier seid?”

Ein Ritter, der unten in der Halle stand, hatte die Kinder auf der Empore entdeckt. Er wartete die Antwort jedoch gar nicht erst ab und eilte sich, schnell die Treppe hinauf zu kommen.

„Papa!”, jubelte das kleine Mädchen freudig und stürmte auf den Mann in grün-gelbem Waffenkleid zu. Sein Wappen, das mit dem Rehbock, hing unbehelligt gerade dort, wo die Kinder standen.

Yarl Jóndere Moréaval hob seine Tochter liebevoll auf und musterte die teirandanja dann fragend. „Nun?”

„Nein”, sagte Manjév ehrlich. „Wir dürfen nicht hier sein. Was ist passiert?”, wechselte sie nahtlos das Thema und deutete auf die verschleierten Wappen.

„Ich weiß nicht, ob ich der erste sein darf, von dem Ihr es erfahrt, Herrin.”

„Ich habe es doch schon gesehen. Ich will es von Euch hören. Sagt es mir.”

Yarl Moréaval strich seinem Töchterchen zärtlich über den Kopf. Tíjnje hatte ebenso dunkles, lockiges Haar wie er selbst. Aus der Art, wie er zögerte, schloss die teirandanja, dass er nach Worten suchte, die das jüngere Kind nicht beunruhigten.

„Die yarlaraé aus Emberbey und Althopian werden diese Halle nicht mehr betreten”, sagte er dann schlicht.

„Oh,” machte Manjév betroffen. Sie hatte die Damen bei einigen Gelegenheiten, vornehmlich bei Festen gesehen, aber es waren flüchtige Begegnungen gewesen. Die Frauen, das hatte Kíaná von Wijdlant ihr einmal erklärt, hatten wenig Muße für die weite Reise nach Wijdlant, besonders die Herrin aus Emberbey, der die Mächte schon zwei Kinder geschenkt hatten. Das Mädchen, hatte Asgaý von Spagor hinzugefügt, würde im nächsten Sommer wohl für einige Monde nach Wijdlant kommen.

Manjév erinnerte sich nur vage an eine schüchterne Frau an der Seite von yarl Emberbey, dem alten, hageren Ritter mit dem harten Blick und den harten Gesichtszügen, auf den ihr Vater so große Stücke hielt. Die Dame hatte freundlich ausgehen, aber kaum gesprochen, und wenn, dann sehr leise. Sie hatte ein langweiliges Gewand getragen und einen so strengen Kopfputz, dass die teirandanja sich nicht einmal an ihre Haarfarbe erinnerte. Einen bleibenden Eindruck hatte sie nicht hinterlassen, ganz anders als die schöne Dame an der Seite von yarl Althopian mit den schwarzen Haaren, hellblauen Augen und den bunten Kleidern. Anmutig wie eine schwebende Blume war sie an der Seite ihres hýardor gewesen. Ihren Sohn, von dem Althopian immer wieder so stolz erzählte, wenn er den Hofdienst versah, hatten sie damals nicht dabei gehabt. Allerdings hörte Asgaý von Spagor mit großem Interesse zu, wenn die Rede auf ihn kam.

Láas Grootplen und Jándris Altabete, die Söhne der beide anderen yarlay von Wijdlant, waren etwas älter als Manjev. Dass auch Emberbey einen Sohn hatte, hatte die teirandanja nur beiläufig erfahren. Herr Alsgör schwieg stets, wenn die Herren miteinander über ihre Familien redeten.

„Das ist traurig”, sagte Manjév.

„Ist es Euch recht, wenn ich Euch zurückbringe, bevor jemand bemerkt, dass Ihr fortgelaufen seid?”

„Wir sind nicht fortgelaufen”, behauptete Manjév.

„Sie aber wohl”, widersprach Tíjnje.

„Es waren …. wichtige Besorgungen.”

„Wie dem auch sei, Herrin, außerhalb der Familiengemächer bin ich für Eure Sicherheit verantwortlich. Erlaubt Ihr mir, dem nachzukommen?”

„Ich bitte darum”, sagte die teirandanja würdevoll und schritt betont anmutig gehorsam vor dem Ritter her. Tíjnje wurde getragen und streckte ihrer älteren Freundin und Herrin aus der Sicherheit der väterlichen Umarmung frech die Zunge heraus.

„Herr Jondére”, fragte Manjév, während sie den Rückzug zur Spielzeugburg antraten, „glaubt Ihr, meine Eltern wollen nicht, dass wir davon erfahren?”

„Nein. Es ließe sich doch kaum verheimlichen, Herrin.”

„Aber warum dann die geschlossene Tür? Und warum ist Herr Daap dabei?

„Ich weiß es nicht. Ich hatte auch keine Ahnung, dass Herr Daap noch in der Audienz ist. Und nun vergesst, dass ihr wichtige Besorgungen hattet.” Er setzte Tínje ab, verneigte sich und bedeutete der teirandanja dabei, sich wieder der Spielzeugburg zu widmen. Die kleinen Mädchen wechselten einen enttäuschten Blick miteinander und griffen gehorsam nach ihren Püppchen. Moréaval lächelte, ging hinüber zur opayra und räusperte sich dezent. Die Frau schreckte auf, warf einen verstörten und fand zu ihrer sichtlichen Erleichterung die ihr anvertrauten Mädchen brav beim Spiel.

Der yarl neigte sich ihr zu und wollte wohl einige Worte mit ihr wechseln, aber er kam nicht dazu. Die Tür zum Audienzgemach öffnete sich. Daap Grooplen trat heraus und bemerkte den hýardor seiner ältesten Tochter.

„Eben nach dir wollte ich gerade schicken lassen”, sagte der mynstir. Manjév hob den Kopf, so ernst klang seine Stimme.

„Was gibt es?”, fragte Moréaval, ebenso aufmerksam.

Asgaý von Spagor erschien hinter dem mynstir im Türrahmen. Der teirand nickte den Mädchen zerstreut zu, wandte sich dann dem Ritter zu und fragte. „Herr Jóndere, wie würde Euch ein Ritt zum Boscargén gefallen?”