
Die Meisterin spürte die Gegenwart des Todes. Etliche Sommer und Winter ihres der Nacht geweihten Lebens im Boscargén ließen sie den Missklang in der Harmonie der Bäume sofort spüren. Das, was sie daraus las, das entsetzte sie.
„Meister Askýn”, sagte sie und pochte an die Tür seiner Hütte. Unruhig sah sie sich um und wartete, bis der jüngere Meister sie einließ.
Wortlos, mit einem Ausdruck der Verwunderung in seinen dunklen Augen trat er zurück und ließ die oberste Meisterin in sein bescheidenes Haus eintreten. Sie eilte an ihm vorbei, in den einzigen, großen Raum seines Hauses und blieb dort mitten darin stehen, während ihr Blick zerstreut über Büchergestelle und Werkzeuge fuhr.
„Meisterin?”, fragte Askýn sacht. „Was ist passiert?”
Sie drehte sich zu ihm um. Askýns eigener, alter Meister war erst vor wenigen Monden in Ehre und Frieden hinter die Träume gegangen und hatte dem Nachfolger die Hütte und Habe überlassen. Einen eigenen Schüler hatte Askýn noch nicht, auch die verwaiste Schülerin war noch nicht bereit gewesen, einem neuen Meister zu folgen. Es war kein verführbarer Geist in diesem Haus, den es ständig zu observieren galt.
„Ich bitte Euch”, sagte sie gefasst und wickelte die Schatulle aus ihrem Mantel, „nein, ich bestimme Euch dazu, dies zu hüten, solange es sein muss.”
Askýn Lagoscyre erschrak, als er erkannte, was die Meisterin dort in der Hand hielt.
„Dazu bin ich weder würdig noch stark genug”, wisperte er ehrfürchtig und entsetzt gleichermaßen.
„Im Etaímalon ist es derzeit nicht sicher”, erklärte sie fahrig. „Und in Euren Händen liegt es geborgen.”
Askýn streckte zaghaft die Hände nach der Schatulle aus. Vorsichtig, so als sei das Kästchen unendlich zerbrechlich, legte sie es in seine Hand.
„Wissen die anderen davon?”, erkundigte er sich nervös.
„Es soll vorerst niemand wissen außer Euch und mir”, raunte sie. „Um es zu schützen … und unsere Unschuld zu bewahren. Denn einer von uns, der hat sie heute verloren.”
Askýn begriff. „Bei Noktáma”, wisperte er betroffen. „Was hat Euer Schüler getan?”
Sie schüttelte den Kopf. „Versteckt es gut”, forderte sie ihn auf und wandte sich ab. „Und folgt mir dann in den Palast. Wir müssen uns beraten. Wir alle.”
*
Er saß, weit fort vom Etaímalon, am Ufer des Lagoscyre und versuchte, die Gedanken zu ordnen, die wirr hervorbrachen und sich gegenseitig niederzuringen versuchten.
Er hatte getötet. Er hatte aus eigenem Gutdünken, willentlich und den Mächten ungefällig Leben ausgelöscht. Nicht im Kampf, nicht in Notwehr. Er hatte einfach eine Gelegenheit genutzt, um Gleiches mit Gleichem zu vergelten.
Schlimmer noch, mehr noch: Er hatte Noktámas Magie angewandt, um den goala’ay umzubringen, hatte das Geschenk der Dunkelheit benutzt, um einen alten, wehrlosen Mann hinter die Träume zu stoßen.
Hätte er nicht Gnade zeigen, nicht einhalten müssen, in dem Moment, in dem er bemerkte, dass der Alte sich nicht zur Wehr setzte? Hatte der goala’ay nicht sogar um Hilfe gerufen? War – und dieser Gedanke beunruhigte ihn am meisten – nicht der Umstand, dass der Greis überhaupt in den Wald hatte vordringen können, ein Zeichen dafür, dass er mit Billigung der Meisterin kam? Eine Botschaft bei sich führte, so wie die Regenbogenritter eine gehabt hatten?
Was ging es ihn an? Der alte Mann gehörte zu denen, die kurz zuvor die hochmütige Schülerin umgebracht hatten. Tod gegen Tod, und der Tausch war nicht schlecht.
Er schaute verstört auf seine Hände hinab. Was er getan hatte, war gut und vernünftig gewesen. Dennoch … Beruhigung stellte sich nicht wirklich ein.
Wie er es auch drehte, von welcher Seite er es betrachtete. Der Alte hatte ihn nicht angegriffen, nicht mit Magie bedroht, hatte nicht einmal eine Beschimpfung hervorgebracht. Vielleicht war er nicht einmal an dem Mord an der Schülerin beteiligt gewesen.
Der Schattensänger begriff, dass der Triumph über einen Wehrlosen bitter schmeckte, bitter und trocken. Das gute, das warme Gefühl, das ihn gerade noch so gestärkt und erregt hatte, es war weg. Stattdessen war ihm über, als habe er sich die Seele an etwas vergiftet. Vielleicht an einem Köder, den ihm jemand genau im richtigen Moment vorgeworfen hatte.
Warum hatte er sich hinreißen lassen? Warum hatte er dem Rotgewandeten nicht nur für einen Wimpernschlag zugehört?
Du hast nichts Falsches getan, redete er sich ein. Sie bringen euch um. Ovidáol hat zu Recht seinen Kampf aufgenommen. Ungerecht haben sie ihn verstoßen. Ovidáol hat den wahren Weg eingeschlagen.
„Ovidáol Etaímalar ist ein Ausgestoßener. Er hat sich gegen seinesgleichen gewendet, und nun zieht er mordend und Unheil bringend durch die Welt.”
Verleugne nicht, dass du den Drang spürst, ihm zu folgen. Sei ehrlich zu dir. Sie widern dich an. Deinesgleichen ist so zaghaft, so schwach, so verängstigt. Große Dinge könnten sie bewirken mit ihrer Magie, und alles, was sie damit tun, ist sich dahinter zu verbarrikadieren.
Er blickte nachdenklich auf die träge ans Ufer plätschernden Wellen, so grau unter dem wolkenverhangenen Himmel, und zog die Schultern hoch. Die Feuchtigkeit des Herbstes zog in seine Gewänder und machte sie klamm, aber er bemerkte es nicht, so aufmerksam lauschte er sich selbst in seinen Gedanken.
Große Kraft hat Noktáma euch gegeben, schreckliche Macht, die eure Feinde zittern lassen sollte. Aber sie zittern nicht, sie werfen sich nicht nieder vor dem auserwählten Kreis der Schwarzgewandeten. Warum sollten sie das auch, wissend, mit welcher Zaghaftigkeit ihr eure eigene Magie anfasst? Die Chaoskriege könntest du allein beenden, mit dem, was du bewirkst und entscheidest!
„Die Dunkelheit gab uns die Kraft nicht, um sie gegen den Gefallen der Mächte zu verwenden”, sagte er ärgerlich.
Du redest wie deine Meisterin, eine kleingeistige, mutlose Frau. Eine schwache Führerin, die zulässt, dass man ihresgleichen unter ihren Augen umbringt.
„Ein Gedanke nur von mir hätte genügt, es zu verhindern …”
… ein Gedanke nur, und du hättest sie ausgelöscht, die Brut der rotgewandeten Bestien …
„Bei den Mächten und Noktáma selbst!” Er sprang auf und schaute sich erregt um. „Ich habe getötet! Ich habe das Tabu gebrochen! Und … und …”
Was?
Er zögerte und horchte in sich hinein, während er sich nervös umschaute. Aber da war nichts. Er war allein, und nur Abendnebel zog langsam zwischen den Bäumen umher.
Zu wem redete er da überhaupt?
„Noktáma, steh mir bei!”, wisperte er. Und ein unbehagliches Gefühl, dumpf und erstickend legte sich um sein Herz wie eine Zwinge aus Eisen.
Und was?
Er keuchte. Was war das? Was war das, was da in seinen Gedanken hallte, so abstoßend fremd und mit verlockender, tröstender Stimme sprach?
„Was bist du?”, hauchte er.
Was denkst du, wer ich bin?
Er versuchte, ruhig zu bleiben und seinen Geist zu versiegeln, legte rasch eine starke Sperre um das, was in seinem Innersten vorging.
Aber es glückte nicht. Es war, als habe etwas Unfassbares, ehe er die Tür zu seinen Gedanken zuschlagen konnte, seinen Fuß dazwischen geschoben.
„Noktáma”, krächzte er und sank in die Knie. „Noktáma, was habe ich getan!”
Klein und verwundbar war er, er, der sich gerade noch für den stärksten und unfehlbarsten Schattensänger aller Zeiten gehalten hatte. Für einen Lidschlag war er nahe daran, zu begreifen, was er getan hatte und was ihn nun verstörte.
„Meisterin”, flüsterte er mit trockener Kehle, „Meisterin … steht mir bei …”
Was brauchst du deine Meisterin? Wie kann sie dir beistehen, das verzagte alte Weib?
Die Stimme in ihm fragte sanft, tröstend, ruhig. Sie sprach zu ihm wie mit einem Kind.
Er wusste nichts darauf zu entgegen.
Ich bin da, sagte, was auch immer zu ihm sprach. Und ich stehe dir bei.
„Was bist du?”, rief er aus und tastete umher. Er spürte nichts um sich herum, nur Luft, nur den sachten Wind, der über den See strich und die grauen Wellen kräuselte. Da war nichts, keine Magie, keine Existenz, nichts, was von ihm unterschieden war.
Träumte er?
Oder … hatte er eine Vision gehabt? War es … eine neue, eine größere Macht, die sich ihm offenbart hatte?
Entsetzen ergriff ihn. Das war etwas, das er nicht verstehen konnte, worauf er nicht vorbereitet war. Etwas, das er niemandem anvertrauen konnte. Schon gar nicht der Meisterin, diesem feigen, unfähigen Weib.
*
Nachdem Askýn Lagoscyre die Schatulle mit dem mächtigen Artefakt so gut verborgen hatte, wie er nur konnte, machte er sich gemeinsam mit anderen Schattensängern auf die Suche nach demjenigen, den die Meisterin verloren glaubte.
Das war Unsinn, und ebenso unsinnig war es, dass sie glaubte, das ay’cha’ree vor ihm verstecken zu müssen. Wo sollte es hinführen, wenn sie untereinander begannen, sich zu misstrauen und argwöhnisch zu beobachten? Und selbst wenn ihr Schüler den Gedanken hegen sollte, sich des Artefakts zu bemächtigen … was hätte er damit anfangen sollen? Das Artefakt, das die Lichtwächter verloren hatten, war in den Händen von camat’ay völlig wirkungslos. Er hätte es nicht verwenden können, selbst wenn er gewusst hätte, wie und wozu.
Auch die Schülerin war nicht zurückgekehrt. Aber das wunderte niemanden, und keiner sprach darüber. Wenn sie tatsächlich den goala’ay begegnet war, von denen die beiden Regenbogenritter gesprochen hatten und die sich keck in die Nähe des Waldes gewagt hatten, dann stand zu befürchten, dass das Mädchen längst tot war. Nie würden Lichtwächter einen Schattensänger lebendig entkommen lassen. Aber solange sie im Wald bleiben, waren sie sicher,
Askýn seufzte beunruhigt. Die Skrupellosigkeit der Rotgewandeten erstreckte sich nicht nur auf leichtsinnige camat’ay. Rücksichtslos und mit einem schrecklichen Gefallen an ausgesuchten Grausamkeiten töteten sie alles, dessen sie habhaft werden konnten, ohne Gnade, ohne Verstand und meist auch ohne Grund. Der Blutrausch der Rotgewandeten war es, der sie in den Kriegen gefürchtet machte, gefürchtet, aber auch begehrt. Kein teirand, der sich nicht darum bemühte, wenigstens einen der rotgewandeten Magier als fýntar zu befehligen. Wer Rotgewandete im Gefolge hatte, der brauchte sich keine Gedanken mehr über den Gehorsam seiner Leute zu machen.
Es war Askýn unverständlich, warum die mächtigen Rotgewandeten auf die Angebote der mächtigen ujoray eingingen, warum sie sich mit unkundigem Pack abgaben und ihre Magie in deren Dienste stellte. Vermutlich war es für die ewig blutdürstigen Rotgewandeten eine bequeme Methode, an Opfer zu kommen, die sie kunstvoll zu Tode quälen konnten. Und wahrscheinlich amüsierten sie sich insgeheim über das überhebliche Gehabe jener Unkundigen, die glaubten, den Tod zu kontrollieren.
Ovidáol Etaímalar hatte das nicht hingenommen. Eines Tages war er, ganz ohne ersichtlichen Grund, wahnsinnig geworden. Eine entsetzliche Waffe hatte er geschaffen, und gnadenlos hatte er begonnen, die Rotgewandeten und ihre ujoray– Befehlshaber zu verfolgen. Nach dem, was man hörte, war Ovidáols verdammungswürdiger, der Dunkelheit lästernde Rachefeldzug gegen die Feinde außer Kontrolle geraten. Ohne Verstand und grausam metzelte der verfluchte Schattensänger dahin, was ihm nur in die Nähe kam. Zurzeit kämpfte er weit im Westen, dort, wo das Eis begann.
War die Befürchtung der Meisterin, ein Schattensänger könne im Wahnsinn das ay’cha’ree stehlen, denn wirklich so abwegig?
Askýn konnte sich nicht länger Gedanken darüber machen, denn der spitze, erschrockene Schrei einer der Frauen riss ihn aus seinen Gedanken.
Dort, umschlungen und verborgen unter den Ranken eines Dornenbusches, dort hatten sie den zerfetzten Leichnam eines goala’ay gefunden.
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