
WIJDLANT, DAMALS
„Herrin”, sagte Gor, „ich werde mich für eine Weile von dieser Burg entfernen.”
Sie stand erstarrt und Unruhe ergriff ihren Geist. Gor spürte es flackern. Er fühlte, wie ungläubige, zaghafte Freude von den Unkundigen ausflutete, die in Hörweite standen und seine Worte vernommen hatten.
„Aber wieso?”
Er griff nach dem Sattelzeug seines Pferdes, das bereits auf dem Hof bereit stand und auf ihn wartete. Die teiranda eilte ihm nach, so rasch, dass die Mädchen, die ihre Schleppe über den Stalldreck lüfteten, ihr kaum folgen konnten.
„Ich habe zu tun.” Er legte dem Pferd den Sattel auf. Das Tier scharrte mit den Hufen.
„Was könntet Ihr…”
Er zog sein Schwert, und alle Unkundigen sprangen erschrocken zurück. Die Wehrmänner dachten gar nicht daran, ihrerseits ihre Waffen zu zücken. Eine alte Magd fiel, mitten auf dem Hof, auf die Knie und rief die Mächte an, bis ihr jemand hastig den Mund zuhielt, den Blick panisch auf den Rotgewandeten gerichtet. Nur yarl Moréavals Hand war in Richtung seiner eigenen Waffe gezuckt. Aber er zog sie nicht.
„Das hier”, sagte Gor und betrachtete die schwarzblau glänzende Klinge. „Eine Sache zwischen mir und… alten Widersachern.”
„Und wohin geht Ihr?”
Der Rotgewandete zuckte die Achseln. „Südwärts. Jenseits des Montazíel versteckt sich die Brut. Ich werde ihr Nest ausheben.”
„Ihr ganz allein?”, fragte sie zweifelnd. „Ihr redet von den Schattensängern.”
„Diebsgesindel. Solches, das Euren Plänen schadet, Majestät.”
„Das ist Unfug, Meister Gor”, sagte sie ruhig.
Ihrem Gefolge verschlug es den Atem. Entsetzt wisperte nun doch hier und dort jemand zu den Mächten, die teiranda möge zur Besinnung kommen.
„Unfug, Herrin?”
„Ich zweifle nicht daran, dass Ihr jedem Schattensänger, Euren Erzfeinden, haushoch überlegen seid. Im ritterlichen, direkten Kampf, Mann gegen Mann. Aber wenn die Tücke und Verschlagenheit der Schwarzgewandeten doch so groß und verheerend ist, wie Ihr es immer sagt, wie könnte es dann ausgehen, wenn sie Euch zu mehreren überwältigen?”
Er verkniff sich ein Grinsen und steckte das Schwert weg. Offenbar weckte es in ihr Vorstellungen von einem Waffengeplänkel zwischen eitlen Turnierrecken, wie sie es kannte. Das war niedlich.
Schattensänger kämpften jedoch nicht mit Waffen. Und selbst wenn – keine goala’ay-Waffe konnte von einem anderen Werkzeug besiegt werden. Die Schwerter der Lichtwächter bezwangen selbst das magische Gold, mit dem die Regenbogenritter in den Kampf zogen.
„Meister Gor – Ihr seid erregt und wütend über den Affront, den das Haus Ivaál begangen hat, indem sie einen der bösen Feinde zu ihrem Ratgeber bestellten. Doch tut nun nichts Unüberlegtes. Lasst Euch nicht zu Unvorsicht treiben von Eurem Unmut.”
Unmut? Sie redete von Unmut?
In ihm brannte Hass! Unbändiger, nicht zu stillender, alles verzehrender Hass. Ein Hass, den die Schwarzgewandeten selbst provoziert hatten, als sie die Lichtwächter bestohlen hatten. Hass, genährt durch den Wahnsinn eines der ihren, den sie selbst nicht hatten bändigen können und der sie alle miteinander betrogen hatte. Seinesgleichen, die Mächte – und ihn.
„Ich bitte Euch von Herzen, zu bleiben”, schloss die teiranda.
Er blickte sich um. Niemand wagte, ihn anzuschauen, alle mieden seinen Blick. Sie stellte sich gegen den Willen ihrer Schutzbefohlenen, die erleichtert gewesen wären, ihn endlich weit fort zu wissen.
„Herrin.” Er sprach sanft und geduldig zu ihr, wie zu einem Kind. „Was kann ich tun, um Euch zu besänftigen? Was wünscht Ihr Euch, das geschehen soll, damit es Euch leichter wird, meine Gesellschaft für einige Zeit zu missen?”
„Ich habe Angst”, flüsterte sie, vielleicht waren es auch nur ihre Gedanken, die er aufschnappte, so leise war es.
„Ich muss es tun”, antwortete er, „wenn mein Herz nicht zerreißen soll.”
Sie scheuchte die Schleppenmädchen fort und ging nahe an ihn heran.
„Ist das Schmerz in Euer Seele?”, fragte sie.
„Ja”, bekannte er.
„Habt auch ihr etwas verloren, das Ihr nicht zurückerlangen könnt mit all Eurer Magie?”
Er schwieg abwartend. Aber sie gab nicht auf.
„Es ist nicht nur das”, sagte er dann.
Sie seufzte und schaute betrübt zu ihm auf.
„Wenn ihr Euch selbst einen Wunsch erfüllen könntet, Meister Gor”, fragte sie endlich, „nur einen einzigen Wunsch, der Euren Schmerz lindert – was wäre das?”
Das, was er in seinem Geist mit sich trug, regte sich, interessiert, alarmiert. Er hörte es, es sprach zu ihm. Es ergriff seinen Verstand und versuchte, ihn zurechtzurücken, so, dass er eine bestimmte Idee erfasste.
„Wäre es nicht schön”, fragte er leise, „wenn es ein Leben gäbe, jenseits von Schmerz und Enttäuschung, ohne Hoffnungslosigkeit und Verlust?”
Sie dachte darüber nach.
In seinem Geist zerrte etwas an ihm herum.
„Ich werde einen Zauber wirken”, sagte er. „Zusammen mit Euch.”
„Wird dann alles besser werden?”, fragte sie. „Wird mich niemand mehr verlassen und enttäuschen, zurückweisen oder verletzen?”
„Ich brauche Zeit”, sagte er. „Es ist ein großer Zauber.”
Sie nickte. Dann wandte sie sich ab und ging zurück in den Palast.
Gor Lucegath fand sich umgeben von Unkundigen, die ihn mit so gewaltigem Entsetzen anstarrten, als wäre ihnen das Widerwesen persönlich begegnet.
Das, was in seinem Geist ruhte, war geschmeichelt. Und Gor fühlte sich grau und klamm wie die Herbstkälte über den Wiesen, obwohl die Sonne schien und die Vögel zwitscherten, unbekümmert darüber, was geschehen würde, sobald er seinen Bann sprach.
PIANMURÍT, JETZT
„Seid Ihr noch in der Laune, mit uns zu reden?”, fragte Arámaú kraftlos. Sie litt heftige Schmerzen, denn durch die engen Spangen hatte sie sich in all den Stunden verrenkt. Ihr Körper war kaum noch fähig, sich aufrecht zu halten.
„Würde ein Meister einer Schülerin eine Frage verwehren?”, fragte er abwesend. „Ich bin verständiger als mein Meister es mit mir war.”
„Was ist mit Eurem Meister geschehen?”
„Ich habe ihn hinter die Träume geschickt.” Und, wenn er darüber nachdachte, war das damals die erste Gelegenheit gewesen, bei der er erst mal so etwas wie Zufriedenheit über das Werk seiner Hände verspürt hatte.
Vielleicht war es tatsächlich sein Meisterstück gewesen, damals, in der verschneiten Winternacht, als er dem Namenlosen begegnet war, und…
„Meistermorde!” Meister Gíonar keuchte abfällig. „Wie einsame Bären? Wie toll gewordene Ratten, die sich gegenseitig zerfleischen!”
„Wollt Ihr damit fortfahren, mich mit Euren letzten Worten zu beleidigen, Meister Gíonar? Denkt daran, mit einem einzigen Stich in Euren Hals hinab kann ich Euch verstummen lassen und mich der Sache widmen, ohne mir noch weiter Euer stolzes Gekeife anhören zu müssen.”
„Ich bitte Euch, Meister Gíonar, fordert ihn nicht heraus!”, rief Arámaú aus.
„Du bist eine brave Schülerin, Arámaú Boscargén. Aber lass dich nicht von deinem Wissensdurst ablenken, auch wenn ich nicht recht sehe, wie dir die Erkenntnis noch nützen kann.”
Sie regte sich, versuchte, sich in eine angenehmere Position zu bringen und gab es wieder auf.
„Wenn Ihr die camat’ay ausgelöscht habt – was die Mächte mit Yalomiro Lagoscyres Sieg, eines fernen Tages, verhindern mögen – und Ihr selbst der letzte der Rotgewandeten seid, dem seine eigene Sterblichkeit eine Grenze, wie weit auch immer gesteckt, setzen mag – was habt Ihr für das Weltenspiel gewonnen?”
„Für das Weltenspiel?”, fragte er verwirrt.
„Ja. Denn wie kann es den Mächten gefällig sein, dass die Magier ausgelöscht werden? Was soll aus den Unkundigen werden, in einem Weltenspiel, in dem sie schutzlos da stehen, ohne die Magier?”
„Die arcaval’ay sind unbehelligt von alldem”, spottete Meister Gíonar in letzter Aufmüpfigkeit. „Und sie werden leichtes Spiel haben, wenn sie erst einmal bemerkt haben, was dieser hier in seinem Wahnsinn angerichtet hat!”
Gor lächelte. „Aber wer sagt denn, dass ich mit den Regenbogenrittern Unfrieden suche? Wer sagt, dass es überhaupt dazu kommen wird, dass die Regenbogenritter auch nur Anteil an dem nehmen werden, was meine Pläne sind, bis…”
„Pläne?”, fragte der Schattenmeister bestürzt. „Ihr folgt einem Plan, in dem die Vernichtung der Schattensänger nur ein einzelner Schritt ist?”
Gor griff blickte sich verstört zwischen ihm und der geduckt am Boden kauernden Schülerin um.
„Es wird alles enden”, wisperte er dann. „Und niemand wird es verhindern…”
„Ihr sucht also nicht nur das Licht”, sagte Meister Gíonar. „Es ist nicht nur der Wahnsinn, der Euresgleichen angetrieben hat, seit das ay’cha’ree in unsere Obhut gelang. Es ist nicht nur der erbärmliche Versuch der Ausgestoßenen, das Licht mit Opfern und Ködern anzulocken wie ein entlaufenes Tier! Es ist nicht die eigensüchtige, kranke Lust der Besiegten, sich an Schmerz und Angst zu weiden wie durstiges Vieh, das aus einer blutigen Tränke säuft! Ihr wollt nicht das ay’cha’ree zurückgewinnen, um des Lichtes willen! Und Ihr wollt nicht die Schattensänger ausrotten, um die gekränkte Überheblichkeit von Euresgleichen zu sühnen.”
„Seid still”, antwortete Gor ruhig.
„Gor Lucegath!” Der Schattensänger ließ sich nicht beirren und sprach nun mit beschwörender Stimme. „Vielleicht ist es eine letzte Gnade der Mächte, dass ich nun noch zu Euch reden kann. Das, was Ihr tut, ist weder der Wille der Mächte noch Euer eigener. Wessen Handlanger seid Ihr? Für welches Ziel habt Ihr all die Mühen, all das Morden und das Blut auf Euch genommen? Wem dient Ihr?“
„Wem ich… diene?” Der Rotgewandete hob den Blick und starrte durch den Schattensänger hindurch. Seine Hand tastete auf das Tablett und berührte die Flasche.
„Ihr seid verflucht”, drang Meister Gíonar in ihn ein. „Etwas ist in Euch, das Eure Taten lenkt. Erkennt das, Gor Lucegath! Erkennt das und befreit Euch aus dem Wahnsinn!”
Gor keuchte auf. Sein Verstand war für einen Wimpernschlag kalt wie Eisen, das im Schnee gestanden hat.
Bring ihn zum Schweigen.
Dann hatte er das Glas in der Hand.
Tu es jetzt!
„Es ist zu spät, Meister Gíonar”, sagte Gor ruhig und stellte die Phiole zurück.
Die Schülerin wimmerte auf. Gor Lucegath lächelte.
WIHDLANT, DAMALS
Gor hatte den Zauber von der kleinen Schreibkammer aus gewirkt, die die teiranda ihn an jenem Tag gezeigt hatte, als er auf die Burg gekommen war. Hier hatte er die Ruhe gefunden, die er benötigte, um seinen Geist mit dem des Gebäudes zu verbinden und seine Magie über die Bewohner des teirandon zu legen.
Die teiranda stand ehrfürchtig neben ihm, ohne zu begreifen, was er tat. Der Magier saß in dem Sessel vor dem Schreibpult und etwas Unsichtbares umgab ihn. Die teiranda fröstelte. Dass draußen kein Wind ging und es nicht die Zugluft war, bemerkte sie nicht.
„Was wisst Ihr über die Rotgewandeten und die Schwarzgewandeten?”, fragte er. Seine Augen hinter seiner Maske waren geschlossen, und sein Atem ging sehr langsam.
„Sie sind Eure Feinde.”
„Und wisst Ihr, wieso?”
„Nein.”
„Dann werde ich Euch, zu Eurem Verständnis, die Geschichte so erzählen, wie ein Unkundiger sie begreifen kann.”
Sie wollte nähertreten, aber die Kälte stieß sie ab. Also zog sie ihren Mantel um sich und bibberte. Seit sie die schönste Frau der Welt war, bevorzugte sie aufreizende Kleider aus leichten, zartbunten Schleierstoffen.
„Es gab eine Zeit, in der die Schwarzgewandeten und die Rotgewandeten unbeeindruckt voneinander lebten und ihre Magie wirkten. Die camat’ay kümmerten sich um ihre Geschäfte, indem sie Noktáma huldigten. Wir goala’ay gingen unseren Geschäften nach und dienten dem Licht.”
Die teiranda warf einen flüchtigen Blick hinauf dem Deckenfresko. Obwohl es keine Kerzen im Raum gab und es draußen Nacht war, konnte sie es schwach erkennen. Ein diffuses Leuchten, wie Glühwürmchenschimmer, fahl und kalt, umgab den Magier.
„Und dann kam der Tag, an dem ein Rotgewandeter ein Artefakt fertigte, das so mächtig war, dass niemand, nicht der größte aller Magier, es beherrschen konnte. Das Ding war gefährlich. Und obwohl es so groß war, dass es nicht für den Gebrauch durch Sterbliche bestimmt war, wollte jeder es in seinen Besitz bringen.”
„War es eine Waffe?”
„Ihr mögt es Euch für Euren Menschenverstand als eine solche vorstellen. Menschenvolk, mächtige Kriegsherren und teiranday, taten das auch. Es begannen die Kriege, und sie tobten um das ay’cha’ree, das dem, der es besaß, unbegrenzte Macht verleihen sollte. Ihr seid unterrichtet über die Magischen Kriege?”
„Die Chroniken meines Hauses sind voll davon, und meine Ahnen – “
„Vergesst alles, was Ihr aus den Aufzeichnungen von Unkundigen jemals über die Magischen Kriege gehört habt. Es ist Kinderei. Am Ende jedenfalls nahmen die Kriege eine entscheidende Wende. Denn es waren die Schattensänger, denen es gelang, das ay’cha’ree an sich zu bringen.”
Die teiranda wartete.
„Sie haben es gestohlen. Sie sind Diebsgesindel.”
„Und durch das magische Ding wurden sie mächtiger als alle anderen?”
„Nein. Oder nicht so, wie Ihr es Euch denkt. Denn die Schattensänger wollten das ay’cha’ree und seine Macht nicht zu ihrem eigenen Gebrauch. Sie hätten mit der unbezwingbaren Macht des Artefakts nichts anfangen können. Sie wollten es nur in ihrem eigenen Besitz haben, um die Kriege zu beenden. Denn die Kriege beeinträchtigten auch ihre dunklen magischen Geschäfte”
„So, wie man streitenden Kindern das Spielzeug fortnimmt, um das sie sich prügeln?”
Gor lachte bitter. Die teiranda schaute verlegen beiseite.
„Doch das alles ändert nichts daran, dass das ay’cha’ree den goala’ay gehört. Das Diebsgesindel weigert sich, meinesgleichen sein Eigentum zurück zu geben.”
„Warum?”
„Weil sie in ihrer Arroganz und Anmaßung uns maßregeln wollen. Sie können es nicht benutzen. Wir sollen es nicht haben. Seit vielen hundert Wintern schwelt diese Fehde. Und sie wird nicht eher enden, bis dass das ay’cha’ree wieder in den Händen eines…”
Er unterbrach sich. Wieder wurde sein Verstand eisigkalt. Sogar die teiranda bemerkte es.
„Das ist der ewige Streit zwischen den Rotgewandeten und den Schwarzmänteln”, fuhr der Magier fort. Sein Bann legte sich Schicht um Schicht, wie fallender Schnee, über die Burg und den Verstand der teiranda, die betäubt seinen Worten lauschte. „Doch es gibt noch mehr, das Ihr nicht im Einzelnen zu wissen braucht. Denn es waren nicht nur die alten Schattensänger, die meinesgleichen ihr Eigen raubten. Es gibt da auch einen besonderen Schattensänger, der mir selbst begegnete. Und dem ich einen Schmerz verdanke, der dem Euren sehr ähnlich ist, Majestät. Einen Schmerz, so tief, dass ich alles darum gäbe, ihn zu lindern.”
„Es… tut gut”, sagte sie träumerisch.
„Alles wird so werden, wie ich es brauche, und wie es Euch entgegen kommt”, wisperte der Magier. „Nichts soll sich mehr ändern. Alles soll so bleiben, wie es nun ist, taub und ohne Angst und Schmerz.”
„Ohne Angst und Schmerz…”, echote sie.
„Ihr seid die schönste Frau der Welt, umgeben von euch liebenden Getreuen, in eurer eigenen Welt…”
„Meine Welt…”
„Keine Veränderung, kein Abschied, kein Schmerz…”
„Nein…”
Kein Schwarz, kein Weiß. Alles ist gleich, alles ist gut…”
Sie seufzte wohlig.
„In Eurem teirandon soll nichts geschehen, das Euch traurig macht. Nichts wird enden in Pianmurít.”
Sie lächelte abwesend. Er erhob sich und berührte ihre Stirn.
„Ihr seht”, hauchte er. „Alles ist nun so, wie Eure Augen es sehen!”
Sie schloss die Augen. Als sie sie wieder aufschlug, war ihr Blick wie Rauchglas.
„Eines, Herrin, benötige ich noch von Euch, um die Magie zu besiegeln. Wollt Ihr es mir geben?”
„Sagt nur, was es ist”, murmelte sie träumerisch.
Er zog sein Schwert, aber sie war zu bestrickt, um davor zu erschrecken. „Einen einzigen Tropfen Eures Blutes, Herrin. Es wird eine kleine Narbe hinterlassen, daher lasse ich Euch entscheiden, von wo ich es nehmen darf.”
Sie schaute nachdenklich an sich herab. Dann streckte sie ihm ihre Hand entgegen. “Hier”, sagte sie entrückt. „Ich kann einen Ring darüber tragen.”
Er neigte den Kopf. Sacht ritzte er ihre Haut mit so leichter Hand, dass sie es nicht einmal spürte, eine winzige Wunde auf ihren Handrücken oberhalb ihres Ringfingers, nicht länger als eine Wimper. Ein rubinfarbener Tropfen ihres Blutes quoll hervor und netzte die Schwertspitze.
Mehr brauchte es nicht, um ihm diesen Zauber so lange zu erhalten, wie es ihm nützte. Er lächelte ihr zu und hasste sich dafür, was er gerade getan hatte.
„Und nun geht”, forderte er sie auf. „Mein Bann ist gewirkt, und er wird Euch vor allem beschützen, was von außen in Eure Welt eindringen könnte. Wir lassen nichts zu uns, dem wir nicht selbst den Zugang erlauben. Wir lassen nichts heraus, was andere nicht zu wissen brauchen.”
„Ja”, sagte sie und zupfte an den Schleiern ihres Gewandes herum, die nun grau wie Spinnweben waren. „Ich danke Euch, Meister Gor.”
„Morgen werde ich die Burg verlassen”, sagte er. „Aber nicht für lange. Ich werde schneller wieder bei Euch sein, um Euch zu beschützen und zu beraten, als Ihr es denkt.”
Sie verneigte sich. „Ich wünsche Euch eine gute Reise, Meister Gor”, sagte sie. „Begleitet Ihr mich hinüber ins Haupthaus?”
Er reichte ihr seine Hand. Auf ihrem Weg durch lange, graue Korridore und bizarr verworrene Stiegenhäuser begegneten Ihnen Edle und Gesinde, die die teiranda ehrfürchtig grüßten und ihm verzagt auswichen. Um sie alle schimmerte es grau wie ein Schleier aus grauem Nebel.
Niemand bemerkte es. Niemand konnte es sehen. Für sie hatte sich nichts geändert, weder an ihrem Aussehen, noch an der Burg selbst, noch an den Dingen darin. Sie waren unkundig. Sie waren blind. Sie irrten durch einen Traum.
Gor hingegen fand seine Seele abgebildet in den Mauern und Menschen, auf denen sein Bann lag. Ein gewaltiger Bann, einer, den nur ein mächtiger Magier wirken konnte.
Ein Bann, vor dem selbst die Regenbogenritter Respekt haben würden.
PIANMURÍT, JETZT
„Mir ist nicht entgangen, Meister Gíonar, dass Ihr eine gewisse Furcht vor meinen Künsten nicht verbergen konntet.”
Gor Lucegath saß nun wieder dem Schattensänger gegenüber und prüfte mit der Fingerspitze die Schärfe eines Werkzeugs.
„Muss ich mich dafür schämen?”, fragte der Schwarzgewandete bitter. „Wir sind nicht unverwundbar. Und die Grausamkeit, mit der Euresgleichen Leben auslöscht, sucht ihresgleichen.”
„Ein Kompliment aus Eurem Mund?”
„Abscheu. Doch wen nimmt es Wunder, dass Euresgleichen es zu hohen Rängen gebracht hat. Als fýntaray in Diensten von Unkundigen, bei solch widerlichen Fertigkeiten.”
„Ihr mögt davon halten, was ihr wollt, Meister Gíonar, aber Ihr solltet wissen, dass kein goala’ay sich jemals ohne eigenen Nutzen von Unkundigen dazu hat entlohnen lassen, unliebsame Personen hinter die Träume zu bringen und dabei noch ein paar Wahrheiten zu erfahren, zumal Unkundige in unserer Gegenwart nicht lügen können. Wir sind niemals jemandes fýntaray gewesen, wenn das auch für den unwissenden Betrachter so ausgesehen haben mag.” Abgesehen von meinem Meister, Czirisko Lucegath, möge er sich hinter den Träumen auf die wahre Bestimmung eines Lichtwächters besinnen, fügte Gor für sich in Gedanken hinzu.
„Ich mag mir solche Reden nicht anhören”, gab der Schattensänger kraftlos von sich.
„Wie dem auch sei”, fuhr Gor fort, „es liegt mir fern, Euch mit grundlosen Grausamkeiten zu behelligen. Ich habe Respekt vor Euch, Meister Gíonar, und ich mag auch in Rücksicht auf die zarten Augen Eurer Schülerin es nicht übertreiben mit meinen Fertigkeiten. Darum biete ich Euch etwas an.”
Die fánjula hob den Kopf. Misstrauische Hoffnung stand in ihren jadegrünen Augen.
„Ihr bietet mir einen Handel an?”, fragte Meister Gíonar.
„Nein. Eine Gnade. Ich kann Euch Pianmurít nicht lebendig verlassen lassen. Aber ich fühle mich durchaus in der Laune, Euch selbst die näheren Umstände Eures Todes wählen zu lassen.”
Der Schattensänger schaute verwirrt. Der Rotgewandete schob das Tablett zu ihm hinüber.
„Wählt das Mittel, mit dem ich mein Werk an Euch beginnen soll”, sagte er. „Ein einziges der Dinge, die Ihr in dieser Auswahl seht.”
Die trübsilbernen Augen wagten es kaum, den rotgläsernen Flakon anzublicken.
„Nicht”, wisperte das Mädchen. „Das ist eine Falle!”
„Ich habe Euch berichtet, dass meinesgleichen nicht gnadenlos ist. Dass wir unsere Mittel hatten, selbst Unkundige, die uns mit ihrem Blutdurst beleidigten, zu täuschen, und den Grad der Schmerzen nach unserem eigenen Gutdünken zu bestimmen.”
Gíonar Boscargén schluckte. Arámaú versuchte erfolglos, sich auf die Füße zu stellen.
„Meister”, rief sie leise, „Meister, es…”
„Trefft eine weise Wahl und lasst Euch von Eurer Schülerin nicht ablenken.”
Meister Gíonars Körper bebte. Es war eine Schmach für den Schattensänger, dass der Rotgewandete ihn nicht im Kampf getötet hatte. Doch nun, vor die Wahl der Mittel gestellt, konnte er nicht mehr tun, als sich für das Gnädigste zu entscheiden.
„Die Flasche”, flüsterte er.
Arámaú wimmerte. „Meister”, kam es schwach von ihren Lippen.
Gor nahm den Flakon zur Hand. „Mir war doch, als habet Ihr die ganze Zeit übermäßiges Interesse an dieser Flüssigkeit gezeigt. Ihr seid Euch sicher in Eurer Wahl?”
„Nimmt euch das Wunder?” Meister Gíonar lächelte grimmig. „Dass ich von all Euren Werkzeugen das ausgesucht habe, das Euch wohl den Spaß am meisten verdirbt?”
„Tut es das?” Gor erhob sich, schnippte den Korken von der Flasche und trat hinter seinen Gefangenen. „Das werden wir sehen. Da Eure Hände gefesselt sind, kommt mir bitte entgegen.”
Meister Gíonar schloss die Augen. Dann lehnte er den Kopf zurück und öffnete seinen Mund. Der Rotgewandte griff nach dem bärtigen Kinn.
„Ihr habt es nicht gespürt, unter all dem sichtbaren Gold auf dem Tisch, nicht wahr? Ich war gespannt, ob Ihr Euch täuschen lasst. Nun gut. Es wird Euch noch genug Zeit lassen, mich an einem Eurer letzten Geheimnisse teilhaben zu lassen. Wie man den Schatten betritt, zum Beispiel.”
Und Meister Gíonar begann, qualvoll zu sterben.
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