[Inhaltswarnung:In diesem Abschnitt stirbt jemand auf unschöne Weise on-page.]

Er hatte nun den Weg unter den Bäumen hindurch gewählt, um Zeit zu gewinnen. Sie würden sich fragen, wohin er gegangen war und was er sich nur dabei gedacht hatte, sich wortlos zu entfernen.

Was focht es sie an? Was ging es sie an, die Feiglinge, die sich nicht anders zu helfen wussten, als sich hinter ihren magischen Schilden zu verstecken und abzuwarten, was geschah? Sich von den Bestien abschlachten zu lassen für nichts und wieder nichts?

Er ging eiligen Schrittes zwischen den hohen Ölbaumstämmen hindurch, ignorierte Pfützen und Matsch auf dem Boden. In seinem Innersten breitete sich neue Verärgerung aus, die sich nicht mehr nur gegen das unverschämte Gebaren der Rotgewandeten richtete, sondern sich auf die jämmerliche Figur erstreckte, welche die Schülerin abgegeben haben musste. Nun, aus den Worten der Rotgewandeten ließ sich ableiten, dass das Mädchen ihren abscheulichen Künsten widerstanden und alle wichtigen Geheimnisse mit hinter die Träume genommen hatte. Aber, bei allen Mächten, warum hatte sie sich nicht gewehrt? Warum hatte sie, entdeckt und überwältigt von ihnen, den Scheusalen nicht den Garaus gemacht? Zumindest das junge Mädchen hätte doch ein leichtes Opfer sein müssen!

Wozu hatte Noktáma sie ihnen gegeben, ihre Waffe, den tödlichen Blick? Etwas, was die Schattensänger wehrhafter machte als die Regenbogenritter mit all ihren goldenen Waffen?

Natürlich musste er sich die Antwort selbst geben. Weil es verboten war, tabu, ein unermesslicher Frevel gegen die Mächte und die Regeln des Weltenspieles. Niemals durften sie Magie zum Schaden von etwas Lebendigem einsetzen.

Wie lachhaft, wie dumm, wie nutzlos! Was sollte den camat’ay ihre unüberwindbare Waffe taugen, wenn sie sie nicht benutzen durften? Warum, in welchem unbegreiflichen Anfall von Grausamkeit und boshaftem Humor, hatten Noktáma ihnen diese Waffe überhaupt zugebilligt und sie zugleich mit dem Tabu belegt? Das war, wie einem kleinen Kind ein Spielzeug zu geben und ihm zugleich zu verbieten, es anzufassen.

Weil die Wahl zwischen Leben und Tod nicht im Ermessen des Sterblichen liegen darf, belehrte ihn die Stimme seines Gewissens. Sich diese Wahl anzumaßen ist den Mächten nicht gefällig.

Er blieb stehen und wurde sich der Absurdität dieses Gedankens bewusst.

„Ist es etwa den Mächten gefällig, sich abschlachten zu lassen von diesen Ungeheuern?”, fragte er in die Stille des Waldes, „Dient es dem Weltenspiel, wenn die Schattensänger sich ohne Verstand opfern, um ihrer eigenen Unschuld willen?”

Der Wald antwortete ihm nicht. Aber ein Geräusch ließ ihn aufschrecken.

Einige Schritte entfernt war zwischen den Bäumen ein Mann aufgetaucht und blickte den Schattensänger bestürzt an. Er hatte im Gebüsch zwischen den lichten Bäumen offenbar nach Essbarem gesucht, denn eine magere Ausbeute an halb vertrockneten, vom Sommer vergessenen Brombeeren hielt er in der hohlen Hand. Seine Kleidung war rot wie schwerer Wein.

Der achte goala’ay!

Der Schattensänger starrte ihn an. Dieser Rotgewandete sollte nicht hier sein. Es sollte keinem Lichtwächter möglich sein, einen Fuß so tief in den Boscargén zu setzen. Und nun traf er hier einen an, der in aller Ruhe Obst pflückte? Wie konnte Noktáma das zulassen? War der Schutz, den sie den Schattensängern versprochen hatte, denn so einfach zu überwinden?

Gab es diesen Schutz überhaupt?

Der Schattensänger hob die Hände. Energie perlte an seiner maghiscal empor, sammelte sich an seiner Hand.

Der Rotgewandete, nur ein Mann mit grauem Haar und langem Bart kam näher, einen Schritt, noch einen.

„Hör mich an!”, verlangte er mit vom Alter rau und leise gewordener Stimme. Er bewegte sich unsicher, gebrechlich.

Ein Greis, ein Meister offenbar. Verfluchtes Pack!

So dachte der Schattensänger, und sein Bann traf den alten goala’ay mit voller Wucht, zornig und mit aller Kraft, die seine Erregung aufbringen konnte.

Der Bann schlug den Alten nieder und schleuderte ihn mehrere Schritte weit weg in das Gebüsch, aus dem er gekommen war. Dort blieb er atemlos, benommen und zerkratzt liegen.

Der Schattensänger kam vorsichtig näher, die Hände abwehrend und bereit für den nächsten Zauber halb erhoben.

Was war das? Warum hatte der Alte sich nicht verteidigt? Warum hatte er seine maghiscal nicht genutzt, um seinen Bann abzuwehren? Waren sie so arrogant, unterschätzten sie die Schattensänger so, dass sie sich nicht einmal mehr die Mühe machten, elementare Schutzmagie aufzuwenden?

Oder war dieser hier einfach schon so tatterig und senil, dass ihm die einfachsten Zauber nicht mehr gelangen? War seine maghiscal erschöpft? Aber wenn das der Fall wäre – wovon?

Der Alte stöhnte und versuchte, sich aufzurichten.

„Bitte”, sagte er, und seine Stimme war das dünne Röcheln des Alters, „Schattensänger … hör mich an!”

Er war schwach. Er war alleine.

Und er, der Schwarzgewandete, wurde seiner eigenen Macht gewahr. Die Rotgewandeten hatten die Schülerin getötet. Einer ihrer gebrechlichen Meister gegen ein dummes kleines Mädchen … was für ein Tausch!

Er lächelte grimmig, und in seinem Herz sprengte etwas auf wie eine Blütenknospe, etwas, das sich berauschend gut anfühlte.

Er sang einen Zauber, und die Ranken des Brombeerstrauches erwachten zum Leben, wanden sich schnell wie die Nattern um die Glieder des Alten und zogen zu.

Der Greis keuchte, eher überrascht als ängstlich.

Doch dann begann er, zu kämpfen, versuchte, sich von dem Dornengestrüpp loszureißen. Aber der Schattensänger besang die Pflanzen, ließ seinen Willen und seine Kraft in die Fasern des Gewächses fließen. Das war die Gabe von Schattensängern, die über die Pflanzen geboten. Er umschlang den alten goala’ay mit herbstzähen Brombeerranken, seinem Unwillen und dem gierigen Bedürfnis, ihn seine Macht spüren zu lassen.

„Du machst einen schrecklichen Fehler”, flüsterte der Greis. War da eine Spur von Entsetzen in seiner brüchigen Stimme?

Die Dornen bohrten sich tief in das Fleisch des alten rotgewandeten Magiers. Ein Ausläufer des Brombeerbusches wickelte sich um seinen Hals und zog fest zu.

Der Rotgewandete rang nach Luft und zappelte. Sein eigenes Blut begann, seine Gewänder röter zu färben, als sie ohnehin schon waren.

Warum setzte er immer noch keine Magie ein? Warum versuchte er nicht, mit seiner Zauberkraft die Kontrolle über den Busch an sich zu reißen? Oder ihn einfach verdorren zu lassen? Warum wehrte das Monster sich nicht?

Der Schattensänger beobachtete den Todeskampf des goala’ay-Meisters fasziniert. Er empfand keinen echten Hass auf die Rotgewandeten, kein Schattensänger tat das. Noktáma hatten ihnen Liebe und Hass weggenommen, auf dass keiner von ihnen von einem der beiden verführt werden konnte. Aber das, was sich nun wie ein warmer, angenehmer Strom einen Weg durch seinen Geist und seine Adern bahnte und seine maghiscal einfärbte, das war etwas anderes. Das war … so beruhigend. So tröstend … so fremd und begehrenswert.

Der goala’ay röchelte, Blut rann über seinen Hals, benetzte den Stoff seiner Gewänder, breitete sich kreisförmig um die Stellen herum aus, an denen die Stacheln sich in seinem Fleisch festbissen wie Hunde. Er wand sich auf dem schlammigen Boden und erinnerte den Schattensänger mehr an ein Tier, das sich im Dreck suhlte als an einen würdigen Magier.

Doch immer noch unternahm der Alte nicht einmal den Versuch, den Busch zu bezaubern. Es war, als habe der goala’ay-Meister gar nicht vor, sich selbst zu retten, und sein Zucken und Winden, was der Schattensänger beobachtete, war lediglich der hilf- und sinnlose Kampf des Menschenkörpers gegen den Schmerz, losgelöst von dem Willen und der Kontrolle des alten Magiers.

Der Schattensänger war verwirrt. Aber die wohlige Wärme in seinem Herzen füllte ihn immer mehr aus. Er machte, dass ein Lichtwächter sein Leben geben musste. Was für eine Genugtuung!

„Verfluchtes Pack”, wisperte der camat’ay, trunken vor Befriedigung, „nichts Besseres hast du verdient!”

„Lass …”, stieß der Rotgewandete hervor. „Nicht …”

Doch der Schattensänger hörte nicht hin. Er ergriff Besitz von der Kraft des Strauches und sah ungerührt zu, wie die Dornen dem Alten langsam das Fleisch von den Knochen rissen.

Eine Weile schallten die Schreie des Rotgewandeten durch den Wald.

„Fühlst du es?”, zischte der Schattensänger, „oh, wie gut, dass du fühlst, was deinesgleichen tut! Wie viele von meinesgleichen hast du getötet? Wie viele meinesgleichen habt ihr verschwendet?”

Doch der Rotgewandete konnte ihm nicht mehr antworten. Erwürgt, zerfleischt und verrenkt lag der alte Mann endlich in seinem Blut, ohne einen letzten Zauber gewirkt zu haben. Und ohne preisgegeben zu haben, was ihn allein in den Boscargén geführt hatte.

Lange Zeit starrte der Schattensänger auf ihn hinab, bis die Wärme in seinem Inneren verklang und zu etwas anderem wurde, einer schalen, traurigen Leere. Für einige Zeit war sein Geist bar jeglicher Gedanken.

Dann bemerkte er den übel zugerichteten Leichnam zu seinen Füßen, spürte den Tod, der noch so nahe war und den er auf diesen seiner eigenen Schergen gehetzt hatte.

Das hatte er gemacht. Er hatte einen Menschen getötet.

Gewiss hatten die anderen die Schreie des Alten gehört.

Entsetzen durchwogte den Schattensänger, und verstört lief er davon.