
WIJDLANT, DAMALS
Er hatte schon einmal Material vor sich gehabt, das in diesem seltsamen Stadium der Noch-nicht-Vollkommenheit gefangen schien. Die teiranda war voller Verzweiflung gewesen, damals, als seine Wege ihn nach Wijdlant geführt hatten. Zugleich drohte die Bürde auf ihren Schultern die junge Frau zu beugen und zu verbiegen. Eine beugsame teiranda war keine gute Anführerin für ihre Schutzbefohlenen. Gor benötigte keine dreißig Atemzüge, um zu erkennen, welche Möglichkeiten sich ihm boten.
Die teiranda musterte den Rotgewandeten mit einer unschlüssigen Mischung aus furchtsamer Höflichkeit, Unbehagen und zaghaftem Interesse. Kein teirand durfte einem Magier eine Audienz verwehren. Gor wusste, dass ihre yarlay [Ritter] und die übrigen Bewaffneten im Saal nur deshalb da waren, um ihre Herrin im Zweifelsfall mit ihren Leben zu verteidigen. Selbst gegen einen Lichtwächter wie ihn.
Hätte er es nur auf das Leben der Menschenfrau abgesehen gehabt, dann wäre es Verschwendung gewesen. Aber Gor war kein Verschwender, und so hätte sie ebenso gut ohne Gefahr unter vier Augen mit ihm reden können. Nun, ihr Vertrauen zu gewinnen, das sollte nicht schwer sein.
„Majestät”, sagte Gor und verneigte sich.
„Seid gegrüßt”, sagte sie zaghaft. „Wer seid Ihr, und was…”
„Ich bin ytra Gor Lucegath. Ich bin ein Reisender, und ich begehre ein Dach über meinem Kopf, so lange, bis der Sturm vorüber ist. Es gibt nicht viel Deckung für einsame Wanderer, draußen in eurem Land.”
Das stimmte, denn die Burg des teirandon [~ Königreich]Wijdlant lag inmitten einer weiten Ebene, in der der Blick in allen Himmelsrichtungen in eine Weite reichte, die ein Wanderer in einem Tagesmarsch nicht bewältigen konnte. Die Dörfer, Weiler und versprengte Waldstücke lagen auf der Ebene verteilt wie Kinderspielzeug auf einem glatten Fußboden. Von Norden kamen seit Mittag graue, bedrohliche Sturmwolken heran, die sich in der Nacht wohl in einem heftigen Gewitter über der Ebene entladen würden. Regen fiel bereits.
„Das sei Euch gewährt, Meister”, sagte die teiranda vorsichtig.
„Ich biete Euch dafür meine Dienste”, fügte er hinzu und bemerkte belustigt, wie nervös dieses Angebot die Menschen im Raum machte.
Sie lächelte unbehaglich. „Das wird nicht nötig sein. Nichts wäre wichtig genug, um Euch damit zu behelligen.”
„Kein Urteil zu vollstrecken?”, hakte er nach. „Kein Geständnis einzufordern?”
„Nein”, sagte sie rasch. „Es ist alles in Ordnung. Es gibt unter meinen Getreuen niemanden, dem ich misstraue oder der etwas verbrochen hätte.”
Sie fühlte sich unwohl, obgleich sie die Herrin in dieser Burg war, die, deren Wort in diesem Saal Gesetz und Befehl war. Aber es war nicht allein die Gegenwart eines Rotgewandeten, nicht die natürliche Scheu der Unkundigen von jenen, die mit dem Tod umgingen, wo immer sie waren. Die Seele dieser Frau war mindestens so aufgewühlt und zerrissen wie die Sturmwolken am Himmel. Das musste einen Grund haben, und es erweckte seine Neugier.
„Seid Ihr sicher?”, erkundigte er. „Kein Rat zu geben? Kein Leid zu lindern?”
Sie blinzelte überrascht. „Was?”
„Majestät – denkt Ihr, Ihr könntet einen Lichtwächter um Schmerz betrügen? Was, wenn ein Magier wie ich heilen könnte, was Unkundige Eurem Herzen zugefügt haben?”
Sie warf verwirrte Blicke um sich. Hier und da klang Metall, als die yarlay unschlüssig an ihre Schwerter griffen, ohne sie zu ziehen.
Er lächelte. Ihre Getreuen waren nicht dumm.
„Lasst uns allein”, befahl sie.
Ihr Gefolge war einen Moment wie versteinert. Niemand schien zu erfassen, was sie da angeordnet hatte. Aber sie erhob sich und winkte die Männer, Ritter wie Knechte und auch ihre Zofen im Hintergrund fort. „Geht! Ich habe mit dem Meister zu reden.”
Immer noch zögerten sie, ihr zu gehorchen. Ein älterer yarl mit einem gepflegten silberweißen Bart, der mynstir, der persönliche Berater wohl, der ganz in ihrer Nähe stand, streckte zaghaft die Hand nach ihr aus. Er wollte sie wohl antasten, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, aber sie entglitt ihm, indem sie in einer heftigen Bewegung aufstand und sich hoch aufrichtete.
„Geht!”, rief sie ärgerlich aus. „Ihr auch, yarl Altabete. Ich werde schon nach Euch rufen, wenn ich Euch sehen will!”
Kurz darauf war er allein mit der teiranda im Saal. Unter verstörten Verneigungen und untereinander verunsicherte Blicke tauschend hatte ihr Gefolge die Thronhalle verlassen. Gor spürte, dass die meisten draußen in der Nähe der Tür geblieben waren.
Er wartete schweigend. Sie stand einen Moment lang unschlüssig da und schien selbst verstört darüber, dass sie ihre Getreuen verjagt hatte. Dann sank sie wieder zwischen den Sitzkissen auf dem kalten Steinthron zusammen und ließ die Schultern hängen. Mit der zitternden weißen Hand bedeckte sie ihre Augen.
Der Rotgewandete schaute sich in der Halle um. In Höhe der oberen Geschosse des Palastes wand sich eine Galerie um den Saal, noch weiter oben führte eine Treppe hoch bis fast unter das von mächtigen Holzbalken gestützte Dach. An der oberen Galerie waren große Banner und Wandbehänge befestigt und hingen hinab, zeigten in bunten Farben und mit viel eingesticktem Gold die Wappen der drei yarlmálon des teirandons. Hinter einem davon versteckten sich zwei neugierige Mägde. Gor konnte sie nicht sehen, wusste aber, dass sie da waren und schenkte dem Banner besondere Aufmerksamkeit, so lange, bis er sich sicher war, dass die Mädchen sich voller Grauen über die nach oben führende Treppe fortgestohlen hatten.
Als er sich der teiranda wieder zuwandte, musterte sie ihn scheu mit ihren hellen Augen. Groß und kindlich wirkten sie in ihrem kummervollen Gesicht.
Mit ihrer Gesundheit, das war nicht zu übersehen, stand es nicht zum Besten. Sie war zart, fast hinfällig, nicht sterbenskrank, aber doch so zerbrechlich, dass sie schutzbedürftig wirkte. Doch es gab noch etwas anderes, das sie gezeichnet hatte. Etwas, das ihr auf der Seele lag.
„Es gibt also etwas, das ihr nicht mit den Euren teilen möchtet”, bemerkte er.
Draußen kündigte sich das Unwetter an, ein kurzer Hagelschauer prasselte aus den grauen Wolken hernieder und trommelte auf das schindelgedeckte Dach in der Höhe.
„Mein Vater”, sagte sie leise.
„Ich habe davon gehört.”
„Es… ich habe…” Sie suchte nach Worten, aber sie wusste nicht, was sie zuerst aussprechen sollte: Ihren Vorwurf darüber, dass er sie allein zurückgelassen hatte in dieser Welt oder ihren Schmerz, dass sie etwas verloren hatte, von dem sie erst nun spürte, wie sehr es ihr fehlte.
„Ihr seid die teiranda“, sagte er ruhig. „Alles, wonach Ihr verlangt, wird Euch erfüllt werden.”
Sie lachte freudlos auf, ein kurzes verächtliches Schnauben, und starrte angestrengt auf das Muster der Bodenfliesen vor dem Thron. „Meister, das Einzige, wonach ich verlange, kann mir niemand erfüllen, und wenn ich es noch so sehr befehlen würde. Niemand kehrt von jenseits der Träume zurück.”
„Ihr seid voller Trauer”, sagte er. „Voller Wut.”
Sie antwortete nicht. Aber über ihre Wange rann eine Träne und gab ihm Recht.
Er kam näher zu ihr und ließ sich zu ihren Füßen auf den Steinstufen nieder, die zu der kleinen Empore ihres Thrones hinaufführten. Von dort konnte er ihr wieder ins Gesicht schauen. So blieb er eine Weile sitzen,
„Wenn Eure Befehle unerfüllbar für Eure Untertanen sind, so ist Euer Wunsch vielleicht etwas, das einer von meinesgleichen bewirken kann. Denkt darüber nach.”
Sie schwieg. Das Getrommel der Eiskörnchen auf dem Dach ging in das sanftere Klopfen eines starken Regenschauers über. Dann gab sie sich einen Ruck und erhob sich.
„Kommt. Ich möchte Euch etwas zeigen.”
PIANMURÍT, JETZT
Meister Gíonar gab sich alle Mühe, aber seine Aufmerksamkeit galt dem Fläschchen sogar, während er es angestrengt nicht anschaute. Gor war zufrieden. Er hatte keine Eile.
„Junge camat’ayra“, sagte er und wandte sich von dem schwarzgewandeten Meister ab, „erzähl mir etwas mehr von diesem ungestümen Dummkopf, der glaubt, das Artefakt verbergen zu können. Wie ich damals sehen konnte, steht ihr euch wohl sehr nahe, fast wie Bruder und Schwester. Wer ist dieser Yalomiro Lagoscyre?”
„Er… nun, er ist der Schüler unseres Großmeisters Askýn Lagoscyre. Er ist der beste von allen Schülern, der Mächtigste!” Die Schattensängerin sagte das so entschieden und kämpferisch, als ob sie ernsthaft glaubte, ihn, Gor, den goala’ay, damit verunsichern zu können.
„Und wo hat Meister Askýn diesen Wunderknaben aufgelesen?”, fragte er belustigt.
„Ihr wisst, dass niemand außer dem Meister etwas über die Herkunft eines Schülers weiß und darüber schweigen muss. Noktáma gebietet es so.”
„Bedauerlich, dass ich Meister Askýn zum Schweigen brachte, bevor mir diese belanglose Frage in den Sinn kam. Was ist die besondere Gabe dieses Meisterschülers?”
„Yalomiro hat große Macht über Pflanzen. Er ist ein Gärtner. So nennen wir jene, die ihre Kraft mit den Pflanzen teilen können.”
„Nun, mir scheint, dass dieses Talent ihm derzeit zu nichts nütze ist. Was für ein Pech für ihn, dass er sich nicht besser auf die Steine versteht.” Gor nahm ein Werkzeug zur Hand, legte es an einen anderen Platz auf dem Tisch und begann, nach und nach alle seine Instrumente neu zu arrangieren. Nur den Flakon ließ er an seinem Platz.
„Es würde mich nicht überraschen, wenn Yalomiro Lagoscyre einen Weg fände, sich aus den Fesseln zu befreien, in die Ihr ihn geschlagen habt in Eurem Frevel”, zischte Meister Gíonar plötzlich.
„Tatsächlich?”
„Wenn ein camat’ay Euer Kunst etwas entgegenzusetzen hat, dann er!”
„Oh. Höre ich da ein gewisses Zutrauen in die Fähigkeiten eures anmaßenden Helden? Wie sonderbar – war mir doch so, als wäret Ihr selbst nicht so angetan gewesen vom Schüler Eures Großmeisters. Als wäret Ihr regelrecht in Eurem eigenen Selbstgefühl zermürbt von seiner bloßen Existenz.”
„Woher… wie könnt Ihr das wissen?”
„Ich habe eine gewisse entsetzte Eifersucht an Euch gespürt, wann immer ich seinen Namen laut aussprach.”
Meister Gíonar warf einen zornigen Blick zu dem Rotgewandeten hinüber. „Das ist wahr”, gab er dann zu. „Ich war bei Weitem nicht immer einer Meinung mit Meister Askýn, was Yalomiro Lagoscyre anbelangte. Aber ich habe keinen Anlass, die Fähigkeiten seines Schülers in Frage zu stellen. Schon als Knabe übertraf alle anderen an Talent und Macht.”
„Und so kränkte es Euch, dass jener Schüler dem Großmeister diente, während Ihr Euch um die… weniger begabte Jugend zu kümmern hattet? Oder wart Ihr einfach nur neidisch, als sich abzeichnete, dass ein unbeschwerter junger Magier Euch bald in seinem Können überflügeln würde?”
„Unfug. Aber Askýn war zu nachgiebig mit dem Jungen. Seine Macht hat Yalomiro übermütig gemacht.”
„Übermütig?”
Meister Gíonar schwieg verärgert. Arámaú wagte einzuwenden: „Yalomiro hat nie etwas getan, was den Mächten ungefällig gewesen wäre.”
„Du hast doch gesehen, wohin es geführt hat!”, fuhr Meister Gíonar sie an. „Du hast gesehen, was aus uns geworden ist, nachdem…”
„Nachdem es Meister Askýn selbst war, der mich in den Boscargén hinein gelassen hat”, unterbrach Gor. „So gerecht solltet Ihr dem übermütigen Genie gegenüber sein. Es war nun wirklich nicht sein Verschulden, dass ich den Etaímalon betreten konnte.”
„Und womit habt Ihr Meister Askýn betrogen, dass er Euch die Tür öffnete, damit Ihr uns das Verderben bringen konntet? Mit welcher Lüge habt Ihr Euch in das Vertrauen des Großmeisters eingeschlichen? Wie habt Ihr es vollbracht, einen aufrechten, gesunden Geist so zu verwirren, dass er sich Eurer Falschheit auslieferte?”
„Meister Askýn selbst war es, der mich einließ. Ich habe ihn weder belügen noch mich anpirschen müssen.”
„Das ist eine Lüge!”, entgegnete Gíonar Boscargén.
„Ihr hättet gern, dass dem so wäre. Aber ihr wisst genauso gut, dass mein- und euersgleichen voreinander keine Unwahrheiten aussprechen können.” Gor nahm ein weiteres goldmetallenes Gebilde zur Hand und betrachtete es unverwandt. „Ich war einfach im richtigen Moment gekommen…”
WIJDLANT, DAMALS
Sie gingen nicht weit. Zwischen den Wandbehängen, die hinter dem Thron die Stirnseite der Halle schmückten, gab es eine nicht verborgene, aber unauffällige Tür, die zu einem kurzen Korridor führe. An deren Ende befand sich eine Pforte aus schwerem Holz, hinter der wahrscheinlich ein Außenbalkon oder der Zugang zu einem Wehrgang lag. Sie war fest verschlossen und der Regen peitschte dagegen. Doch die teiranda wollte nicht ins Freie. Links und rechts von dem Gang führten schlichte Türen in weitere Kammern. Offenbar war keine davon verschlossen, denn die teiranda musste nur sacht gegen das Holz drücken, um den Raum rechts hinten zu öffnen. Gor folgte ihr interessiert in ein winziges Gemach, in dem sich außer einem verwaisten Schreibpult und einem Sessel, auf dem derzeit keine Kissen bereit lagen, keine weiteren Möbel befanden. Ein verschlossener Holzladen hielt leidlich den Regen draußen und ließ ein paar Streifen kümmerlichen trüben Tageslichtes ein.
„Ein Schreibzimmer”, erklärte Kíaná von Wijdlant und sah sich nach etwas um, womit sie Licht machen konnte. In einem Winkel stand ein Leuchter, in dem noch einige Kerzenstummel steckten. „Für eilige und vertrauliche Schriftstücke, die im Rahmen von Audienzen aufgesetzt werden mussten. Meine maedloray [Beamte] nutzen den Raum nicht mehr, weil es hier so zieht.”
Der Magier beschwor beiläufig und wortlos die Kerzen, noch bevor die teiranda ein Zündholz anreißen konnte. Sie zuckte zurück, als die Flammen hell herauf züngelten, aber sie nahm es hin.
„Als ich noch ein kleines Mädchen war”, fuhr sie stattdessen fort, „habe ich mich manchmal mit meiner Amme hierher zurückgezogen, wenn die Audienzen gar zu langweilig und ermüdend wurden und ich zu quengeln begann. Jedenfalls habe ich mir dann oft die Bilder angesehen.”
„Die Bilder?”
Sie deutete nach oben. Gor schaute hin und entdeckte die Malereien, die sich wie eine Bordüre rings um den kleinen Raum zogen. Vom Mittelpunkt der Zimmerdecke aus verästelte sich ein Ornament aus Ranken, Blumen und allerlei Getier, unter dem sich verschiedene Szenen höfischen Lebens abspielten. Die Bilder waren sehr alt, wie er an der Art der Darstellung erkannte und auch daran, wie verblasst die einst strahlend bunten Farben im Kerzenschein waren. Die Bilder zur Fensterseite hin waren stärker beschädigt, die Witterung und Schimmel hatten einen Teil der Geschichte zerstört. Doch immerhin, es deutete darauf hin, dass das Gemälde nicht allzu lange Zeit nach der Erbauung der Burg angelegt worden waren.
Gor betrachtete Szenen aus Jagd, Fest und Familienleben eines namenlosen und längst vergessenen teirand und entdeckte dann das, worauf die teiranda wahrscheinlich hinaus wollte. Er zauberte die ungeachtet der Zugluft kerzengerade züngelnden Flammen etwas heller und schritt unter das Bild in der hintersten Raumecke.
„Was ist Eure Frage?”
„Meine Amme hat immer behauptet, der alte teirand unter dem Rosenstrauch würde nur ausruhen und schlafen. Ich habe mich immer gefragt, wieso sein Gefolge deshalb weint.”
„Und Eure Amme hat darauf keine Antwort gewusst?”
„Ich glaube, sie wollte mich kleines Kindlein nicht auf die Idee bringen, alte teiranday könnten einst aus ihrem Ruheschlaf nicht mehr aufwachen.”
„Und nun habt Ihr einen alten teirand sehen müssen, der aus seinem Schlaf nicht mehr zurück fand?”
Sie strich sich verstohlen eine Träne aus dem Gesicht. „Er hat mich allein gelassen. Ich bin ohne Mutter aufgewachsen, Meister, und er war alles, was ich hatte. Er … er fehlt mir so.”
Gor schaute die verblasste rotgewandete Gestalt an, um die das Gefolge des teirand sich geschart hatte. Kriegsvolk, Gesinde und Familie waren ihr, voller Gram und Tränen zugewandt. Der Lichtwächter, von dessen Mantel bereits ein paar Brocken Putz verlorengegangen waren, schien mit ruhiger Geste zu ihnen zu reden. Sein Schwert hielt er gesenkt. Er hatte es bereits verwendet.
Das Irritierende an dem Bild war das Vertrauen, die Ruhe die es ausstrahlte. Vielleicht auch der Umstand, dass der goala’ay hier nicht inmitten eines Gemetzels zwischen verfeindeten Kriegern stand, ganz gegen die Gewohnheit aus den Malereien, die die Künstler in den vergangenen Generationen in Burgen und vornehmen Häusern angefertigt hatten.
Trost.
„Was macht der Rotgewandete da?”, fragte die teiranda. „Erklärt es mir bitte.”
„Er erzählt den Gefolgsleuten des schlafenden teirand vom Licht, Majestät.”
„Nimmt das denen, die nicht schlafen, den Schmerz?”
Der Rotgewandete zögerte.
„Vielleicht”, sagte er dann unverbindlich.
Sie ließ ihre Blicke nachdenklich über die verschlungenen Zierbilder schweifen.
„Könnt Ihr das nicht auch, Meister Gor? Ich meine… mir vom Licht erzählen?”
Nicht mehr, dachte Gor bitter.
„Erzählt mir zunächst mehr von Eurem Schmerz”, entgegnete er. „Lasst mich sehen, ob ich die richtige Geschichte für Euch weiß.”
PIANMURÍT, JETZT
Gor Lucegath fuhr damit fort, Meister Gíonar nervös zu machen, indem er vor dessen trübsilbern schimmernden Augen die Werkzeuge sortierte und es der Phantasie des Schattensängers überließ, wozu genau sie wohl dienen mochten. Immer wenn er dabei an der Phiole rückte, schien der Atem seines Gefangenen für einen Augenblick auszusetzen.
„Angenommen”, fragte der goala’ay, „dieser wunderlich begabte Yalomiro Lagoscyre brächte es fertig, seinen Körper wieder in Fleisch und Blut zu bringen. Was denkt ihr, würde er als nächstes tun?”
„Wahrscheinlich würde er nichts unversucht lassen, um das Artefakt an sich zu bringen.”
„Dazu, Meister Gíonar, müsste er erst einmal die Mauern überwinden, die ich um Euer Heiligtum gelegt habe.”
„Das wird ihm gelingen”, sagte Arámaú trotzig. „Yalomiro fällt etwas ein.”
„Ihm fällt etwas ein, was euch allen nicht in den Sinn kam, um eurerseits in den Etaímalon hinein zu kommen?”
Die Schülerin nickte tapfer.
„Gut. Nehmen wir an, Askýn Lagoscyres Schüler gelingt eine überaus spektakuläre und fantasievolle Flucht. Nehmen wir weiterhin an, er bringt es fertig, das ay’cha’ree [das Artefakt] zu bergen, bevor ich es verhindern kann.” Gor neigte sich vor und schaute Meister Gíonar eindringlich an. „Was wird er damit machen, sobald er feststellt, dass er der letzte Schattensänger im Weltenspiel ist?”
Gíonar Boscargén hielt dem marmorgrauen Blick des Rotgewandeten hinter dessen Maske nicht lange Stand. Die Beherrschung des Schattensängers erlahmte zusehends.
„Was geschieht mit einer Biene, die eine ungünstige Fügung von ihrem Volk trennt? Ist sie nicht dazu verdammt, ihr Verderben zu finden?”
„Sie kann versuchen, sich einem anderen Volk anzuschließen”, wandte das Mädchen ein.
„Dem Schwarm der arcaval’ay, der Regenbogenritter? Oder dem der Unkundigen, die den armen hochbegabten Schwarzmantel bereits einmal verstoßen haben?”
„Die arcaval’ay?” Meister Gíonar schnaubte.
„Ihr habt Recht. Ein alberner Gedanke. Nein, es gibt wohl keinen Regenbogenritter, der einen Schwarzgewandeten in seiner Nähe dulden würde. Welch ein Glück für meinesgleichen, dass wir den arcaval’ay nie Anlass zu übertriebener Feindseligkeit geboten haben.”
„Auch die verlorene Biene hat noch einen Stachel, mit dem sie sich in der Not zu wehren weiß.”
„Sicherlich, junge Schülerin. Aber über einen einzelnen kleinen Bienenstachel kann der große Bär nur müde lächeln.”
„Yalomiro hätte das ay’cha’ree. Das ist besser als ein Bienenstachel.”
Gor lächelte und zückte seinerseits eine goldene Nadel.
„Das ay’cha’ree in der Hand eines Schattensängers? Wird er es benutzen? So, wie Ovidáol Etaímalar den Stab benutzt hat? So wie…”
Er unterbrach sich. Meister Gíonar horchte gespannt auf. Gors Blick verfinsterte sich. Nein. Anmerken lassen durfte er sich nichts.
„…so, wie der Namenlose selbst zum Werkzeug wurde?”
WIJDLANT, DAMALS
„Es tut weh, zu verlieren, was man liebt”, sagte die teiranda. „Könnt Ihr das verstehen?”
„Mehr, als Ihr vermutlich erwarten würdet, Majestät.”
Sie schaute ihn fragend an, aber er beließ es dabei.
„Ich hatte alles immer als selbstverständlich hingenommen”, fuhr sie fort. „Ich dachte, es würde immer alles so weiter gehen, und nichts würde sich ändern. Und dann änderte es sich plötzlich. Die Krankheit, und…” Sie seufzte. „Ich hatte das Gefühl, dass ich etwas verloren habe, von dem ich gar nicht recht begriffen habe, dass es da war.”
„Und nun seid Ihr in Trauer.”
„Ja. Mir ist, als sei alles, was mir jemals Freude bereitet hat, entzwei, vergangen und käme nie wieder.”
Sie stand am Fenster des Turmzimmers, das Gor Lucegath als Gast in der Burg von Wijdlant bezogen hatte und blickte hinaus in die Ebene. Zäher Nebel schwebte über den Feldern wie die wattige Oberfläche eines Sees, und die Sonne war nichts als ein verschwommener grauer Lichtfleck irgendwo hinter den Wolken. Der Herbst war klamm und kalt. Kíaná von Wijdlant fröstelte.
Der Rotgewandete stellte sich neben sie, so nahe, dass die Zofe, die sie hierher begleitet hatte, unruhig wurde und dem yarl an der Tür einen hilfesuchenden Blick zuwarf. Aber sie beide hatten die Anweisung, alles geschehen zu lassen, was ihre Herrin nicht mit eigenen Worten abwehrte.
„Wie kann ich Euch Freude bereiten”, fragte der Rotgewandete leise, nahe bei ihrem Ohr. „Welchen Wunsch kann ich Euch erfüllen, um Euch Zerstreuung zu bereiten in dieser allumfassenden Traurigkeit?”
Sie wandte sich vom Fenster ab.
„Ich kann mich selbst nicht mehr leiden”, wisperte sie. „Was gäbe ich darum, aus dieser Haut heraus zu können, eine andere zu sein. Vielleicht wäre mir dann wohler.”
„Das, Majestät, ist ein gefährlicher Wunsch.”
Sie nickte enttäuscht. „Ich weiß. Und es war auch nur eine Eingebung, eine kurze Laune…”
„Ich habe nicht gesagt, es sei ein unerfüllbarer Wunsch, Herrin.”
Sie lächelte vorsichtig über diese Anrede, die ihm als Magier nicht zufiel und die sie als große Ehrerbietung deutete. Wenn er sie seine Herrin nannte, dann war er bereit, ihre Befehle zu erfüllen. Deshalb hatte er diese Worte bedachtsam gewählt.
„Und Ihr könntet mir zu einer solchen neuen Haut verhelfen, Meister Gor?”
„Das ist nicht schwierig für mich. Aber ob sie Euch glücklich machen würde, das müsst Ihr selbst herausfinden.”
Die Kammerfrau zuckte hoch. Die teiranda wurde auf die Frau aufmerksam, die sich mühsam hatte bezähmen müssen, nicht herauszuplatzen.
„Herrin”, kam es nun, „macht Euch nicht unglücklich!”
„Deine teiranda gedenkt, sich mit meiner Hilfe glücklich zu machen”, sagte Gor ruhig.
„Herrin”, drang die Zofe auf die teiranda ein, „von den Rotgewandeten kommt kein Glück! Ihr werdet Euch verderben, wenn Ihr Euch auf den hier einlasst…”
„Schweig”, befahl die teiranda.
„Herrin”, mischte sich nun auch der Ritter ein, „tut nichts Unbedachtes! Die Rotgewandeten bringen nur Unheil und Leid!”
„Seid Ihr mein mynstir, Moréaval?”, fuhr sie ihn an, aber Unsicherheit mengte sich in ihre Stimme. „Habt Ihr mir Rat zu erteilen?”
„Wenn Ihr meinen aufrichtigen Rat nicht wollt, Herrin”, gab der Ritter tapfer zurück, „so sprecht mit yarl Altabete und yarl Grootplen, aber hört Euch deren Meinung an! Vertraut nicht auf die Künste von dem da!”
Gor lachte belustigt. „Welche meiner Künste meint Ihr? Die, mit denen ich Eurer teiranda Glück und Linderung verschaffen kann? Oder die, mit denen ich einem wie Euch den Weg hinter die Träume zu einem nicht enden wollenden Labyrinth voller Abgründe machen könnte?”
Der yarl wich voller Grauen und Abscheu zurück.
„Erschreckt ihn nicht, Meister”, bat die teiranda betroffen. „Sie meinen es alle nur gut mit mir.”
„Eure Fürsprache macht Euch sehr gütig, Herrin”, sagte Gor.
„Ich kann für mich selbst entscheiden”, wandte sie sich rasch an die beiden Unkundigen. „Ihr habt euch um den Willen eurer teiranda nicht zu kümmern.”
Der Ritter und die Kammerfrau senkten die Blicke zu Boden. Die Atmosphäre im Raum verdichtete sich. Der teiranda war unwohl, vielleicht, weil sie instinktiv ahnte, dass sie besser beraten gewesen wäre, Vorsicht walten zu lassen wie es ihre Schutzbefohlenen empfahlen. Die Unkundigen wiederum fühlten sich zu Unrecht zurechtgewiesen. Ihre ernsthafte Besorgnis um den labilen Geist ihrer Herrin überschritt die Grenzen, die ihre Befugnisse ihnen setzten.
„Lasst uns allein”, gebot Kíaná von Wijdlant. Ihre Untergebenen zogen sich zurück. Widerstrebend, beunruhigt und enttäuscht, aber gehorsam. Als sie fort waren, schaute die junge teiranda bedrückt drein.
„Es tut mir Leid, dass die beiden Euch beleidigt haben.”
„Ich fühle mich nicht beleidigt von dem, was Unkundige über meinesgleichen in Gedanken führen. Ich kann schlecht in Abrede stellen, dass meinesgleichen in der Vergangenheit in einer Weise in Erscheinung getreten ist, die furchtsames Volk in Angst versetzt.”
Sie nickte unbehaglich.
„Ihr seid da ganz anders”, fügte er hinzu. „Ihr wisst wohl zu schätzen, in welcher Weise ein goala’ay wie ich euch von Nutzen sein kann.”
„Ich bin froh, dass Ihr hier seid”, gab sie zu. „Es… nun, ich fühle mich gut, indem ich zu Euch reden kann. Ich glaube, dass Ihr mich und meine Sorgen besser versteht als meine yarlay und Vertrauten es tun.”
Das, dachte Gor, hatte sie richtig erkannt. Sie war so leicht zu durchschauen.
„Wenn Ihr meine Gegenwart als tröstend empfindet, meine traurige teiranda“, sagte er leise, „dann erlaubt mir, an Eurer Seite zu bleiben. Als Euer Berater, als Euer Diener. Als Euer Freund, wenn Ihr mögt.”
In ihrem Blick glomm Überraschung auf. Es war, als habe er aus freien Stücken etwas vorgeschlagen, um das sie ihn umständlich hätte bitten wollen, ohne die Worte dafür zu finden.
„Aber führte Euer Weg Euch nicht nur auf der Durchreise in mein teirandon?”, erkundigte sie sich zaghaft.
„Das, wessenthalben ich aufbrach, braucht seine Zeit. Um es angemessen vorzubereiten benötige ich Ruhe. Es käme mir zupass, wenn ich eine Weile an einem Ort wie diesem bleiben könnte. So lange Ihr meine Gegenwart duldet und wünscht”, setzte er hinzu.
Sie lächelte scheu.
„Und als Dank für Eure Güte und Euer Wohlwollen sollt Ihr Eure neue Haut haben. Schon bald, wenn Ihr festen Willens seid. Euer Leben kann sich ändern. Eure Trauer kann vergehen, wenn Ihr mich dafür Sorge tragen lasst.”
Die teiranda blickte aus dem Fenster, auf ihr nebeldurchflutetes, heute so tristgraues Land.
„Eure Wünsche und die meinen, Herrin, sind einander ähnlicher, als ihr vermutet. Eine glückliche Fügung, dass wir sie an diesem Ort vereinen können.”
Sie nickte. Doch weil sie ihm den Rücken zukehrte, entging ihr, wie seltsam sein Blick und sein Lächeln sie streiften, als sie beschloss: „So soll es sein.”
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