Über der Bucht hatten sich Sturmwolken zusammengezogen, hässliche, gelbliche Wolken. Wie schwebende Felsbrocken hingen sie am Horizont über dem Wasser, das im Abendlicht schimmerte wie goldener Honig, wie Bernstein. Noch war es ruhig, aber die Fischer waren schon lange wieder an Land zurückgekehrt. Mit dem Wetter legte sich niemand an.

Der Junge, der am Fenster stand und gedankenverloren auf das Meer und die schwerelosen Wolkensteine am Himmel blickte, spürte keinen Windzug. Die schlaff hängenden Wimpel oben auf dem Turm. die er von hier aus erahnen konnte, bestätigten ihm, was er schon längst vermutet hatte.

Die Wolken warteten. Sie lauerten. Sicherlich blieben sie so lange über dem Meer, bis Pataghíus Glanz verlosch und Noktáma den Himmel in samtenes Schwarz tauchte. Dann würde der Sturm kommen. Ganz bestimmt. Der Junge seufzte und stützte das Kinn auf seine gefalteten Hände. Die Wolken kamen vom Norden, aus dem Chaos, und sie würden nichts Gutes bringen. Nie wieder würde etwas Gutes geschehen, wenn diese Wolken einmal über die Burg hinweg zögen.

Immer wenn er am anderen Ende des Ganges Türen hörte, zuckte er zusammen, aber er schreckte schon eine ganze Weile nicht aus seiner gebeugten Haltung auf. Es brachte ihm nichts. Sobald er seinerseits zu dem Gemach eilte, wo seit Stunden die doayra [~ Ärztin] und die Mägde ein und aus liefen, würde ihm irgendjemand den Weg versperren. Am Anfang war es noch der Vater selbst gewesen, der ihn unwillig fortgescheucht hatte. Doch zwischenzeitlich war er fortgegangen, vielleicht in den Saal, vielleicht in eine Amtsstube, um mit dem maedlor [ ~ Beamten] irgendwelche Geschäfte zu regeln, die keinen Aufschub duldeten. Der Junge wusste es nicht. Aber er hatte das Gesicht seines Vaters gesehen und darin Sorge. Das verängstigte ihn umso mehr. Niemals zeigte sein Vater Gefühle, niemals.

Warum, bei den Mächten, erschreckte ihn die Bitternis in den Zügen seines Vaters mehr als das besorgte Getuschel der Frauen?

Und warum waren die Wolken so schmutzig, so schlierig und gelb? Der Junge wusste, dass Wolken manchmal so aussahen, wenn der Wind sie mit Gewalt durch das Chaos getrieben hatte, denn dann trugen sie Sand in sich, den Stürme in der Wüste von Soldesér, am anderen Ende der Welt in die Höhe gerissen hatte. So hatte der mestar [~Lehrer] es einmal erklärt, als der Junge über die sonderbare Farbe gestaunt hatte. Wie die Wolken das Chaos queren konnten, ohne ihrerseits zerrissen zu werden, hatte der gelehrte Mann nicht beantworten können. Stattdessen hatte er dem Jungen schwierige Aufgaben zum Rechnen zu lösen gegeben, eine nach der anderen, bis der erschöpft sein Sinnen über die Wege der Wolken aufgegeben hatte.

Heute ließ selbst der mestar ihn in Ruhe. Heute waren die Dinge so grundlegend anders, dass selbst er sich wohl scheute, ihn an seine Pflichten zu erinnern.

Die Tür flog zu. Klappernde Schritte, flinke Füße in groben Holzschuhen wollten an ihm vorbeieilen, zögerten aber, als sie auf seiner Höhe ankamen. Der Junge wandte sich betrübt um.

Die doayra entgegnete seinen Blick. Sie hatte so freundliche blaue Augen und bei allen Gelegenheiten, bei denen er ihr begegnet war, war sie lustig und schwatzhaft gewesen. Der Vater hatte sie eigens holen lassen, vor Tagen schon, er ließ sie im besten Gemach wohnen und hatte ihr die Befehlsgewalt über alles Gesinde gegeben, das ihr zur Hand gehen würde. Es würde nichts nützen, der Vater wusste das und die junge Frau aus Spagor wusste es ebenfalls. Aber beide sprachen es nicht aus.

Der Junge war trotzdem froh darüber, dass sie da war. Die doayra war jung und freundlich und hatte immer aufmunternde Worte für ihn gehabt. Aber nun war ihr Gesicht so ernst, dass es ihm fast noch mehr verstörte als die Regungen in dem seines Vaters.

„Du kannst ihr nicht helfen, nicht wahr?”, fragte er leise.

Die doayra schüttelte den Kopf. Wenigstens versuchte sie nicht, ihn anzulügen. „Ich versuche alles, was ich kann. Aber sie ist so schwach. Und es dauert schon viel zu lange.”

Er nickte. Er hatte nichts anderes zu hören erwartet.

„Wenn die Mächte es mir erlauben”, redete sie weiter, „kann ich vielleicht das Kind retten. Aber es ist mehr als ungewiss.”

„Bitte”, entgegnete er leise. „Bitte, versuch, was du kannst.”

„Du solltest nicht hier sein. Warum bist du nicht bei deiner Schwester?”

„Sie wollte allein sein. Ich glaube, sie weiß nicht, was … sie ist noch zu klein.” Er schluckte, bevor seine Stimme kippen konnte.

Die doayra hob die Hand, instinktiv, als wolle sie ihn tröstend berühren. Gerade noch rechtzeitig besann sie sich eines Besseren. Es wäre unangemessen gewesen.

„Ich muss weiter”, sagte sie, entschuldigend, so als müsse sie eine Entscheidung treffen zwischen dem Leben von Mutter und Kind dort hinten im Gemach und seinem Seelenschmerz.

„Ich weiß, dass du es richtig machst”, sagte er, in dieser sonderbaren, erwachsenen Ausdrucksweise, die jeden befremdete, der das Wort an ihn richtete. Andere Kinder ohnehin.

„Ich werde ihr sagen, dass du hier bei ihr bist”, antwortete die doayra.

Er lächelte, so flüchtig, als täte er etwas Verbotenes und wandte sich wieder dem Meer zu, damit sie weitereilen konnte. Was immer sie gerade tat, sie versuchte, die Mutter zu retten, obwohl sie wusste, dass es vergebens war.

Er hörte sie davon klappern, die Treppe hinab, und schaute wieder an den Himmel.

Widerliche Chaoswolken.

Der Junge seufzte, nahm das harte, kalte Glas von seinen Augen und verstaute es in dem kleinen Lederköcher, den er eigens dafür am Gürtel trug. Die steinernen Wolken verschmierten in der Ferne. Das war erträglicher.

Pataghíus Glanz machte Platz für Noktámas Schwärze, und dann brach beides gleichzeitig los, der Sturm und der Tumult. Als habe jemand sie losgelassen wie ein vertäutes Boot, kamen die Wolken näher, viel zu schnell und viel deutlich zu erkennen am samtschwarzen Nachthimmel. Der Junge spürte zunächst nur eine sachte Brise, die sich binnen weniger Augenblicke zu einem an- und abschwellenden Windhauch steigerte. Und hinten, in ihrer Kammer, schrie die Mutter ganz jämmerlich auf und ein Stimmengewirr erklang von ihren Mägden und der doayra, so laut, dass es durch die geschlossene Tür bis zu ihm vordrang. Der Junge starrte dorthin, mit weit aufgerissenen Augen wie ein verschreckter Hase, und eine Bö versetzte ihm einen spielerischen Stoß, fuhr durch das Fenster und brandete den Gang entlang, brachte die Teppiche an den Wänden zum Wogen und die Banner mit dem Wappen, zupfte an den kleinen Flämmchen der Nachtlaternen in den Gläsern an der Wand.

Die Mutter schrie …

Der Junge dachte nicht nach. Er sprang auf und stemmte sich dem Wind entgegen, um den Fensterladen zu greifen.

Die Mägde riefen durcheinander …

Der Fensterladen außen an der Mauer war mit einem Haken gesichert, damit es nicht klapperte, solange er offen stand. Der Junge tastete danach, aber fand ihn nicht sogleich. Es war zu dunkel und sein Blick zu verschwommen.

Die Mutter …

Der Wind achtete nicht auf den Knaben, der sich weit aus dem Fenster beugte und hastig versuchte, das angerostete Eisen zu bewegen.

So kalt …

Metall klirrte, ein Mann in leichtem Rüstzeug eilte am Fenster vorbei, ohne das Kind zu beachten. Der Vater musste ganz in der Nähe gewesen sein.

Die schmalen Finger des Jungen fanden den Haken, aber der saß fest. Wie konnte das sein? Dieser Fensterladen war ständig in Gebrauch, wie konnte dabei etwas einrosten?

Die Frauen … das Klagen …die Mutter schrie vor Pein.

Der Wind, der dem Knaben ins Ohr zischte.

„Nein”, wimmerte das Kind. Rost schnitt in seine Finger. Endlich gab der Haken nach. Aber der Laden … das Scharnier…

Des Vaters Stimme. Keine Worte, nur Befehle, ein Mittelding zwischen Zorn und Angst, mit dem er die doayra und die Frauen anbellte wie müßiggehende Knechte am hellen Tag.

Die gelben Wolken hatten die Bucht fast erreicht. Bei den Mächten, so schnell … so schnell … schnell? Oder dauerte all das hier schon so unglaublich lange?

Das Schreien .. die Mutter … die Frauen …

Der Wind.

Der Knabe reckte sich aus dem Fenster, hing bäuchlings auf der Fensterbank, griff ins Leere, immer wieder. Dieser verdammte Fensterladen, er klappte vor und zurück, als wolle er den Knaben foppen, immer gerade außer Reichweite.

Und der Wind strich über den Korridor vor dem Gemach der Mutter, wie ein lauerndes Tier, nur unglaublich schnell.

Wäre die Dunkelheit nicht gewesen und hätte er besser sehen können, dem Knaben wäre bei seiner waghalsigen Aktion sicherlich schwindelig geworden. Er fragte sich in einem unvollständigen Gedanken, ob es von Nutzen wäre, wenn er sich an der Außenmauer der Burg zu Tode stürzen würde. Vermutlich nicht.

Oder doch?

„Nehmt doch mich”, ächzte er. „Nehmt mich! Um mich ist es nicht schade!”

Der Sturm kam näher. Der rasend schleichende Wind war ein Vorbote gewesen, aber gleich wäre er da, der Sturm vom Chaos, und dann …

Und die Frauen schrien das wunde Gebell des Vaters und das Jammern der Mutter nieder, und …

Die Kinderfinger erhaschten den Riemen, mit dem der Fensterladen sich zuziehen ließ. Der Junge ließ sich zurückfallen, und die dicken Holzbretter gehorchten. Dem Sturm war das nicht recht, er riss und klapperte von außen daran und begann dann mit gruseligem Geheul, um die Mauern zu heulen. Das Kind ließ den Riegel zufallen und stemmte sich von innen gegen das vibrierende Holz.

Am Ende des Ganges wurde die Tür aufgerissen, die klappernden Holzschuhe eilten voran, eine ganze Herde von Frauen, teils mit ebensolchem grobem Schuhwerk, teils mit weichen Ledersohlen versuchte, die doayra einzuholen.

Wo wollten sie alle so schnell hin? Warum schrie die Mutter nicht mehr?

Der Junge verharrte, die blutende Handfläche und die unversehrte gegen den Fensterladen gedrückt.

Der Vater beachtete ihn nicht, als er den Frauen nachging, die im Pulk mit der doayra gerannt waren, hinüber in einen Raum, wo sie mehr sehen und besser arbeiten konnten, wo es einen Kamin gab und Wärme. Der Vater rannte nicht. Aber der Junge konnte hören, wie müde seine Schritte waren, wie kraftlos und bitter. Vielleicht bemerkte er in der trüben Beleuchtung der wenigen Nachtlichter gar nicht, dass sein Sohn da stand und den Wind ausgesperrt hatte, der so unheimlich, so gierig an der Burg vorbei gefegt war. Vielleicht hatte er nicht einmal den Wind bemerkt.

Der Sturm ließ den Fensterladen los. Dann begann Hagel dagegen zu prasseln.

Die Tür hatten sie in der Eile offen stehen gelassen. Durch offene Türen durfte man hindurch. Der Junge spähte verstohlen hinein. Nicht, dass eine der Damen oder eine Magd zurückgeblieben waren, um nach der Mutter zu schauen.

Aber natürlich war niemand da. Wozu auch noch? Es war vorbei.

Immerhin war es in der Kemenate der Mutter leidlich hell. Eine Feuerschale für die Wärme hatten sie aufgestellt, da es in diesem Gemach keinen gemauerten Kamin gab. Kohle glühte und einige Öllampen versuchten, zum Licht beizutragen, mit mäßigem Ergebnis. Aber es genügte, um das Blut zu sehen, all das Blut auf Laken und Boden, und die in der Hast zurückgebliebenen Handwerkszeuge der doayra auf dem Boden. Es duftete metallisch und dumpf-süßlich zugleich. Irgendein Räucherzeug hatten sie verwendet, vielleicht eines, das der Mutter die Schmerzen linderte.

Der Junge trat an die Liegestatt heran und schaute auf sie herab, auf das das zerbrechliche, blasse Gesicht inmitten von wirrem blondem Haar auf dem verschwitzten Kissen.

So stand er einen Moment und war nicht bereit, zu akzeptieren, was geschehen war. Aber würde es ihm etwas nützen? Hatte es ihm jemals mehr als Scham und Unwillen eingebracht, wenn er gegen irgendetwas aufbegehrt hatte?

Hilflos bedeckte er seine Augen mit den Händen und schluchzte auf. Dies war der Moment, den er in seinem Leben am allermeisten gefürchtet hatte. Und dabei war er erst zehn Sommer alt.

„Osse?”

Er erstarrte. Sein Herz krampfte in einem ganz sonderbaren Schmerz zusammen, aber sofort, panisch, im Reflex zwang er die Hoffnung nieder. Doch er schaute sie wieder an.

„Mama?”

Sie wisperte etwas, aber alles, was er verstand, war „Durst”. Er schaute sich um, fand auf dem Tisch einen Krug und einen Becher und brachte ihn ihr. Sie war zu schwach, um sich noch aufzurichten. Er griff nach ihr, versuchte sie zu stützen, damit sie trinken konnte, aber das meiste ging an ihren Lippen vorbei.

Doch das wenige genügte offenbar. Ihre nächsten Worte waren deutlicher.

„Lebt es?”, fragte sie leise.

„Ja”, behauptete er, obwohl er keine Ahnung hatte, ob das der Wahrheit entsprach. Er hatte das Kind nicht schreien hören, aber möglicherweise waren die Frauen und der Sturm und das entsetzte Gebrüll des Vaters einfach zu laut gewesen und hatten es übertönt. Andererseits – wären die Frauen mit einem toten Kind so schnell davongelaufen?

„Die doayra kümmert sich gut darum”, sagte er daher. „Sei unbesorgt.”

„Du musst es liebhaben”, sagte sie leise.

Er schaute sie verständnislos an. Sie bedeutete ihm, mehr Wasser zu wollen, und er mühte sich, nichts zu verschütten. Das war nicht leicht.

Die Mutter trank in gierigen Schlucken. Ihr Kopf war so schwer, so kraftlos, dass ihr Sohn Mühe hatte, sie zu halten.

„Du musst es liebhaben, Osse”, beharrte sie.

Was verlangte sie da von ihm? Er würde sie verlieren, nur weil sie dieses neue Wesen geboren hatte. Sicher, das war nicht die Schuld des Kindes. Aber …

„Dich hab ich lieb, Mama”, sagte er, seine Stimme so ruhig, so unbeteiligt wie nur möglich. „Dich hab ich lieb und niemand anderen!”

„Wenn ich gegangen bin, musst du sie beschützen, Osse”, beharrte sie.

„Wie sollte ich jemanden beschützen?”, fragte er leise. „Truda könnte das besser als ich.”

„Du musst beiden ein guter Bruder sein, Osse. Es …”

Sie unterbrach sich. Ihr Blick schwebte unstet an ihm vorbei und richtete sich vage auf einen Punkt irgendwo rechts hinter seiner Schulter.

„Ich habe dich lieb, Osse”, sagte sie. „Wenn ich gegangen bin …”

„Ruh dich aus, Mama”, sagte er und zwang seine Gefühle zurück in die Bande, aus denen sie freizubrechen drohten. „Die doayra kommt gleich zurück, und …”

„Raýneta”, wisperte die Mutter, ihr Blick immer nebliger, die Stimme so zart. Sie schaute so intensiv an ihm vorbei, dass er sich irritiert umdrehte. Aber da war niemand.

„Raýneta?”, fragte er.

„So soll sie heißen”, hauchte die Mutter und lächelte an ihm vorbei. Und dann: „Mir ist so kalt …”

Allzu warm war es tatsächlich nicht im Raum, aber er hatte sie im Arm, und sie glühte noch geradezu, so fiebrig.

„Osse”, sagte sie plötzlich kläglich. „So kalt …”

Der Junge sah sich im Raum um, aber nirgends war irgendetwas, was nicht ohnehin schon als Decke gedient hätte. Am Ende wusste er sich nicht anders zu helfen. Er legte sich neben sie und umarmte sie, wohl wissend, dass sein schmächtiger kleiner Körper nicht viel ausrichten konnte gegen die Kälte, die nach ihr griff.

„Mama”, flüsterte er ratlos. „Mama … bitte geh nicht weg …”

Sie antwortete ihm nicht. Er zwang die Tränen nieder, die in ihm aufwallten. Sie durfte unter keinen Umständen jetzt bemerken, wie schwach er war. Nicht, nachdem sie ihm das Kind, ob es nun lebte oder nicht, anvertraut hatte.

Das Laken raschelte leise. Sehr, sehr langsam mühte sie sich, die Hand zu heben und ihm über die Stirn zu streicheln.

„Osse?” Ihre Stimme war kaum zu verstehen. „Was ist mit deinen Augen?”, sagte sie erstaunt und dann nie wieder etwas mehr.

Er blieb noch neben ihr liegen, bis kein Atem mehr zu spüren war. Erst dann musste er sich nicht mehr um Disziplin bemühen. Der Junge weinte sich seinen Schmerz von der Seele, so verzweifelt und wehrlos, bis er erschöpft einschlief oder die Trauer ihm das Bewusstsein nahm, wer wusste das schon.

So fand ihn Herr Alsgör, der yarl von Emberbey, auf dem Lager und Totenbett seiner yarlara. Der Anblick seines Sohnes, der da lag und den Leichnam so fest umklammerte, als wolle er ihn niemals loslassen ,verstörte den Ritter. Siebzig Sommer hatten die Mächte ihm geschenkt, und nie hatte ihn etwas so sehr angerührt. Die yarlara war weniger als halb so alt gewesen wie er. Mehr hatten ihr die Mächte nicht zugestanden.

Der Ritter zog einen Stuhl heran und setzte sich, betrachtete die Tote, die ihm diesen Sohn als Nachkommen hinterlassen hatte. Alsgör Emberbey seufzte schwer und barg sein Gesicht in seinen Händen. So saß er, sinnend und voller Gram. Wecken wollte er das Kind nicht. Es wäre ihm respektlos vorgekommen.

Aber der Knabe schien die Präsenz seines Vaters zu spüren. Er regte sich und schlug die Augen auf. Als er seinen Vater bemerkte, setzte er sich auf und fingerte schuldbewusst das kalte Glas wieder aus dem Täschchen hervor.

Diese Augen, stets so still und graubraun wie Rauchquarz und jetzt rotgeweint und verquollen, sie schauten ihn durch diese verfluchten Glasscheiben an und ließen nicht erkennen, ob sie ihn anklagten oder ihn fürchteten.

„Warum bist du nicht bei deiner Schwester?”, fragte der yarl.

„Truda wollte allein sein”, sagte der Junge leise und richtete seinen dünnen, schwachen Körper auf. „Da hab ich sie gelassen.”

„Dann geh jetzt und tröste sie”, sagte Alsgör Emberbey und war sich bewusst, wie lächerlich das war. Wie sollte der Junge seine Schwester, wie sollten sie alle einander trösten, nun, da es so dunkel in seiner Burg geworden war. Nun, da das Licht verloschen war, das diese Frau hergebracht hatte.

Der Junge gehorchte, ohne zu zögern. Er stand auf, Blut seiner Mutter auf seinem honigfarbenen Hemd, und wollte gehen. Aber der yarl hielt ihn zurück, legte ihm die Hand auf die schmale Schulter und spürte, wie das Kind darunter zusammenzuckte.

„Deine andere Schwester lebt”, sagte er. „Die doayra hat ein Wunder gewirkt.”

„Ich weiß”, antwortete der Junge. „Sie hat gesagt, dass sie alles versuchen wollte.”

Der Ritter nickte. Sein Sohn zögerte.

„Darf ich sie anschauen?”, fragte er.

„Sie ist im Nebenhaus, bei der Amme. Geh nur. Lass mich jetzt mir deiner Mutter allein.”

Sie schauten einander an. Es war seltsam und dauerte nur einen Augenblick, aber Alsgör Emberbey ahnte, dass sie einander niemals wieder so nahe sein würden.

„Raýneta”, sagte der Junge. „Sie heißt Raýneta.”

„Raýneta.” Alsgör Emberbey betrachtete die tote yarlara. „Hat deine Mutter das bestimmt?”

Der Junge nickte.

„Dann soll es so sein. Wenn die Mächte sie uns lassen. Und nun geh. Lass mich allein.”

Osse Emberbey, der künftige Herr des yarlmálon an der bernsteinfarbenen Bucht, verneigte sich förmlich vor seinem Vater und verließ das Geburts- und Totenzimmer, schloss taktvoll und leise die Tür hinter sich. Keinen Lidschlag zu spät, bevor auch der alte Herr Alsgör nicht mehr an sich halten konnte und unter Tränen die Mächte verfluchte, die die junge Frau genommen, ihn, den alten Mann gelassen und den Jungen so sinnlos gestraft hatten.

Als der Junge sein Ziel erreichte, war die Amme nicht anwesend, aber Truda stand bei der doayra und betrachtete neugierig das winzige Wesen, das da in einem Körbchen fest in warme Decken eingepackt lag und offenbar schlief. Es war nicht größer als eine von Trudas Puppen, und möglicherweise sah die jüngere Schwester auch keinen wesentlichen Unterschied. Truda Emberbey war gerade einmal fünf Sommer alt. Vielleicht würde es eine Weile dauern, bis sie begriff, dass die Mutter hinter den Träumen war. Gesagt hatte es ihr offensichtlich noch niemand.

„Schau nur, Osse”, rief Truda, die Stimme voller unschuldigem, arglosem Staunen. „Schau, wie klein und niedlich das Kindlein ist!”

Er trat neben sie und warf einen Blick auf das schwache, schutzlose Etwas, das seine geliebte Mutter das Leben gekostet hatte und das er lieb haben sollte. Der Säugling regte sich ungelenk.

„Sie ist sehr klein”, erklärte die doayra. „Aber sie ist gesund. So die Mächte wollen, wird es gut gehen. Ich denke, es wird gut gehen.”

„Fass es doch mal an”, forderte Truda aufgeregt. „Es ist ganz weich und warm.”

Der Junge schüttelte den Kopf.

„Traust du dich nicht?”, lästerte Truda. „Osse hat nämlich immer Angst, weil er so ungeschickt ist”, erklärte sie der doyara.

„Es ist so zerbrechlich! Ich wage es nicht!”

„Du sollst es ja nicht aufheben”, sagte die doayra. „Das würde ich auch nicht erlauben. Aber es wird wohl nicht schaden, wenn du es berührst.”

Die junge Frau lächelte aufmunternd.

Osse Emberbey neigte sich zaghaft über den Säugling. Vorsichtig streckte er die Hand aus und streichelte sachte mit der Fingerspitze über ihre winzige Handfläche. Augenblicklich schlossen sich ihre Fingerchen und hielten ihn fest.

Der Junge erstarrte. Für einen kostbaren Moment vergaß er die Gegenwart seiner Schwester und der jungen Frau.

Raýneta, dachte er mit der ungelenken Zärtlichkeit eines älteren Bruders.

Laut sagte er: „Ich muss gehen. Den mestar darf ich nicht warten lassen.”