WIJDLANT, JETZT

Die teiranda [Herrscherin] beobachtete ihn aufmerksam. Neugierig war sie. Lästig war das manchmal, aber er hatte keine andere Wahl. Er musste sie gewähren lassen und ihre Fragen und ihren unkundigen Unverstand dulden, um sein Ziel zu erreichen. Er durfte sich noch nicht zu sicher fühlen, bei allem, was er tat. Noch hatte sie ab und zu eigene Gedanken, manchmal klarte ihr Blick auf und sie äußerte ihm gegenüber Verwunderung, wenn sie etwas bemerkte, das sich verändert hatte.

Aber er konnte das, was er mit ihr vorhatte, nicht beschleunigen. Die Zeit musste ihm dabei helfen. Solange er sie nicht allzu aufmerksam in seine Geschäfte hineinblicken ließ, sollte es dabei keine Schwierigkeiten geben.

„Ich mag es nicht mit ansehen”, sagte Kíaná von Wijdlant.

„Herrin, ich entsinne mich nicht, Euch aufgefordert zu haben, mich in meine Domäne zu begleiten.”

„Ich komme auch nicht mit.” Sie schüttelte sich. „Ich finde es grauenhaft. Auch wenn es sich…”

„Ja?”

„Nun, ich weiß, die camat’ay [Schattensänger] sind Eure Feinde. Aber mir missfällt, dass Ihr sie es auf diese Weise spüren lasst.”

Gor Lucegath blickte auf. In ihren eisblauen Augen stand beinahe so etwas wie Mitleid.

„Majestät, ist es nicht auch Gesetz unter den Unkundigen, Verbrecher büßen zu lassen für ihre Taten?”

„Schon. Aber dennoch, es ist… es dauert mich.”

Er lächelte. Aber er war ein wenig beunruhigt.

„Gefühle, Majestät? Ist es Euer Herz, das Euch schmerzt?”

„Nein”, gab sie rasch zurück. „Nein, es ist eher so etwas wie…”

„Furcht?”

„Ja.” Sie nickte. „Furcht.”

„Sagt”, fragte er, indem er sich wieder seiner Arbeit zuwandte, „wer hat das Gesetz in Wijdlant ausgeführt, bevor ich kam? Meinesgleichen?”

Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn es nötig wurde, ließ mein Vater einen… einen Fahrenden, einen fýntar [freiberuflicher Scharfichter] suchen. Es kam nicht oft vor. Ich glaube, ein oder zweimal nur.”

Er schüttelte geringschätzig den Kopf. „Das, meine teiranda, nenne ich jämmerlich. Und, nebenbei bemerkt, überaus anmaßend.”

Sie schlug beschämt den Blick nieder. „Was hätten wir tun sollen?”

„Meinesgleichen hat sich oft in Menschensold gestellt, für das, was den Unkundigen zuwider war. Ich selbst habe so gelernt bei meinem Meister.”

„Ich weiß. Aber mein Vater wollte nichts mit Euresgleichen zu … ich meine… er wollte keine…” Sie verstrickte sich in ihren eigenen Worten und errötete. „Bei den Mächten. Verzeiht. Wie unverschämt muss das für Eure Ohren klingen.”

Ihre Hilflosigkeit belustigte ihn.

„Sorgt Euch nicht, Herrin. Mit dem, was Euer Vater für sich entschieden hat, könnt Ihr mich nicht kränken. Ich hoffe nur, dass er selbst mit seiner Wahl zufrieden war.”

„Dazu”, versetzte sie unbehaglich, „kann ich nichts sagen.”

Gor fuhr mit seinen Vorbereitungen fort, räumte zusammen, was er benötigte und wartete einen Augenblick, ob sie sich nicht doch entfernen wolle. Aber die teiranda blieb stehen und schaute nachdenklich an ihm vorbei.

„Majestät”, sagte er, warf unter seiner Maske einen kritischen Blick auf den Tisch, hob eines der goldenen Bestecke auf und begann, es sorgsam mit einem Tüchlein zu polieren, „die unkundigen fýntaray sind wie tollwütige Tiere. Ohne Kontrolle, voller ungesunder Empfindungen. Es ist abartig, blutgierigen Menschen ihren Wahnsinn zu entlohnen.”

„Und Ihr? Habt Ihr nie… Erfüllung in dem gefunden, was Ihr tut?”

Das war nun eine geradezu tollkühne Frage. Er schaute sie überrascht an, aber es war keine Provokation in dem, was sie sagte. Es war diese unschuldige, kindliche Neugier, die er bereits am ersten Tag an ihr bemerkt hatte und die sie zu einem so leichten Opfer gemacht hatte. Da stand sie nun, in aller Schönheit, um sie herum die unentwirrbaren Zaubergespinste ihres verwunschenen teirandons, und sie fragte ihn nach Erfüllung? Beinahe hätte er laut gelacht.

Stattdessen legte er das blitzblank polierte Gold zurück an seinen Platz und rückte es zurecht. „Oh ja”, antwortete er. „Und nie so sehr wie in diesen Tagen.”

Eine der ersten Ermahnungen, die ein goala’ay [Lichtwächter]-Schüler anzunehmen hatte, war diese: Suche niemals Lust in dem, was deine Bestimmung ist. Finde nie Gefallen an dem Schmerz, den du zufügst. Kein Lichtwächter darf töten und sich daran berauschen.

Als Gor Lucegath ein Knabe war und zu seinem Meister fand, hatte er nicht verstanden, was damit gemeint war. Und ja, er erinnerte sich, dass er bei den ersten Gelegenheiten, als er seinem Meister bei dessen Handwerk zugesehen hatte, alles andere als Lust empfunden hatte. Widerwillen, Unbehagen, sogar ein wenig Ekel war dabei gewesen. Speiübel war ihm damals manchmal. Damals hatten die Unkundigen noch nicht auf fýntaray zurückgreifen müssen, denn es gab genug von seinesgleichen, die einsprangen, wo ein erbarmungsloser Mensch danach verlangte. Das war oft der Fall gewesen. Zu oft.

Aber mit jedem Tag, an dem Gor mehr und mehr begriff, wer die goala’ay waren, wofür sie selbst auf diese Weise büßten und was sie taten, warum sie es taten, wurde es ihm leichter, es zu ertragen, und schließlich ging es ihm sogar selbst mühelos von der Hand. Aber Lust… nein, Lust war immer noch nicht dabei. Gor, der mit all den Sommern und Wintern immer mehr vom Handlanger seines Meisters zu dessen ausführender Hand wurde, hatte gelernt, sich zu verschließen, zu wappnen, nicht darüber nachzudenken, wie das, was er tat, sich aus Sicht der Unkundigen darstellte. Meisterhaft, wie ein Handwerker, vielleicht sogar wie ein Künstler führte er aus, was sein Meister, was die erbärmlichen Unkundigen von ihm verlangten. Aber er bemühte sich, es nicht an sich heranzulassen.

Der Rausch, die Lust, der Verlust der Würde seines Tuns – das war später gekommen. Jemand hatte ihn dazu verführt. Um sich dafür zu rächen, dafür war es nun an der Zeit. Nie zuvor hatte einer von seinesgleichen so reiche Gelegenheit gehabt, Genugtuung zu erlangen.

Das, das konnte Gor nicht abstreiten, bereitete ihm tatsächlich nicht unerhebliches Vergnügen.

PIANMURÍT, JETZT

Der Mann in den schwarzen Gewändern zuckte zusammen, als der Rotgewandete sich ihm näherte. Das blonde Mädchen in seiner Nähe, nicht älter als zwanzig Sommer, stieß einen kleinen spitzen Schrei aus und versuchte impulsiv, vor ihm zurückzuweichen. Aber bewegen konnten sie sich beide nicht. Ihre Hände waren schräg auf dem Rücken verschränkt und auch ihre Füße und mit einer starren Spange aus Gold fixiert. Der Mann, etwa in seinem fünfzigsten Sommer mochte er sein, saß in einem schlichten Sessel vor einem großen Tisch. Seine Hände und Ellbogen waren mit goldenen Reifen an die Armlehnen gefesselt; seine Knie und Knöchel an die Stuhlbeine. Der Tisch, der Stuhl und ein zweiter, der ihm gegenüber stand, waren alles, das derzeit in Pianmurít, in Gors Domäne, Materie hatte. Auf den Tisch konnte der Rotgewandete nicht verzichten. Und die Stühle … nun, es half, ein Gefühl von oben und unten zu simulieren, das die Leere sonst nicht geboten hätte. Ein kleiner Anker, um nicht die Orientierung zu verlieren. Um den Verstand zu behalten in der absoluten Leere, die sich als hauchzarter, vibrierender Dunst manifestierte.

„Arámaú”, mahnte der Schwarzgewandete scharf. „Disziplin!”

„Lasst sie nur, Meister Gíonar”, sagte Gor und stellte sein Tablett und einen Leuchter mit mehreren dicken Kerzen seinem Gefangenen auf den Tisch. „Ich bin solche Verzagtheit von Euresgleichen wohl gewohnt.”

„Was Ihr Verzagtheit nennt”, entgegnete der Schwarzgewandete grimmig, „ist nichts als der von den Mächten gewollte Abscheu vor Euresgleichen.”

Gor schaute zu dem Mädchen hinüber und lächelte. Sie bebte am ganzen Körper.

„Ich glaube doch, dass sie Angst hat”, sagte er schließlich. „Doch es ist noch nicht an der Zeit, dass sie um ihr Leben fürchten müsste.” Er zog das Tüchlein, das über dem Tablett gelegen hatte fort und faltete es sorgsam zusammen. „Dazu kommen wir später.”

Der Schwarzgewandete wollte etwas entgegnen, etwas ziemlich Unverschämtes wahrscheinlich. Aber sein Blick streifte das, was auf dem Tablett lag und blieb unwillkürlich daran hängen.

„Ich muss sagen”, fuhr Gor fort, „dass ich dem heutigen Tag mit großer Erwartung entgegen gesehen habe. Ihr, Gíonar Boscargén, seid der letzte ytra der camat’ay, der noch übrig geblieben ist. Ihr seid, vergebt mir den profanen Ausdruck – der Höhepunkt meines bisherigen Erfolges. Vielleicht sogar der, der mich ein großes Stück weit meinem Ziel zuführen wird.”

„Die anderen sind… alle?”, fragte der Schwarzgewandete leise.

„Alle, die den Fehler gemacht haben, bei Benjus von Valvivant Hilfe zu suchen. Das wisst Ihr. Die übrigen, die es in Aurópéa versucht haben oder sonst wo verstreut umherirrten, sind mir schon zuvor begegnet. Außer Euch und Eurer Schülerin ist da nur noch dieser Unglückselige, der mir im Etaímalon in die Quere kam. Eingeschlossen in Eurem Heiligtum, entkommt auch er mir nicht.”

Der Schattensänger seufzte und ließ die Schultern sinken, soweit das in seiner Haltung möglich war. Den Blick konnte er dabei immer noch nicht von den Werkzeugen lösen.

Die junge camat’ayra gab ein hilfloses Schluchzen von sich.

„Nun”, fuhr Gor fort, „das Weltenspiel hat eine überraschende Wendung genommen. Wer hätte gedacht, dass der Tag kommen würde, an dem meinesgleichen die Genugtuung für das erlangen würde, was Euer Kreis dem meinen angetan hat. Dass es an mir sein würde, Generationen von goala’ay zu rehabilitieren.”

„Mir scheint”, versetzte Meister Gíonar, „Ihr bringt ganz gehörig Dinge durcheinander.”

„Ich mag Euch Eure Meinung zu diesem Thema nicht nehmen. Denn selbst mir wird es nicht gelingen, einen Schwarzgewandeten von dem Irrglauben zu befreien, in dem er unterwiesen wurde.” Gor rückte den zweiten Stuhl zurecht und ließ sich darauf nieder. Beiläufig stellte er eine kleine Flasche aus dunkelrotem Glas neben sein Handwerkszeug, das auf der Tischplatte im Schein des Kerzenleuchters funkelte. Im Widerschein der kleinen Flammen war zu erkennen, dass sich eine klare Flüssigkeit darin befand. Genaugenommen hatte der Rotgewandete die Kerzen, die hier, in Pianmurít so sinnlos waren wie sie es unter strahlender Sonne gewesen wären, nur mitgebracht, damit der Schattensänger die Flüssigkeit erahnen konnte.

Sie schwiegen. Das Mädchen wimmerte leise unter seinem Atem, während die beiden Magier einander anschauten.

„Was immer Ihr mit mir vorhabt”, sagte Meister Gíonar endlich und gab ihm damit unaufgefordert ein Stichwort, „das Artefakt wird es jedenfalls nicht in eure Hände spielen”.

„Das ist nicht gesagt. Ich habe Zeit. Sehr viel Zeit.”

„Yalomiro Lagoscyre hat…”

„Der hochmütige Bursche wird beizeiten die Gelegenheit bekommen, sich ausgiebig mit mir über das Versteck zu unterhalten, in dem er das ay’cha’ree verborgen hat”, fuhr der Rotgewandete ihm ins Wort. „Wo immer es sich nun befinden mag, ist es sicher und kann meinetwegen auch noch eine Weile verborgen bleiben. Mindestens so lange, bis ich dies hier beendet habe. Ist es nicht geradezu eine Ironie, dass er mit seiner unbedachten Tat auch seinesgleichen die Möglichkeit nahm, das ay’cha’ree an sich zu bringen und an meinesgleichen vorbei zu schmuggeln? Gibt ihm das nicht eine gewisse Schuld daran, wie leicht es mir fiel, mit Euresgleichen abzurechnen?”

„Das ist nicht wahr!”, begehrte da das Mädchen mit zitternder Stimme auf. „Yalomiro hat…”

„.. schlichtweg keine Zeit mehr gehabt, um andere an seiner Arroganz teilhaben zu lassen. Arme junge Schattensängerin. Hättest du noch die Möglichkeit, weitere Lehren anzunehmen, so sollte dir das Bespiel deines unglücklichen Gefährten vor Augen führen, wie schnell Hochmut die Magie zu Fall bringen kann. Dein Meister hat ganz Recht, wenn er so viel Wert auf Demut und Disziplin legt. Nicht wahr, Meister Gíonar?”

Die Schattensängerin wimmerte. Gíonar Boscargén seufzte tief. Offenbar war ihm die mangelnde Tapferkeit seiner Schülerin peinlich.

„Ich habe viel Zeit”, wiederholte der Rotgewandete. „So lange hat meinesgleichen gewartet. Doch das Warten wurde von der Ungewissheit zur Vorfreude, binnen weniger Augenblicken. Dafür, Meister Gíonar, danke ich Euersgleichen.”

WIJDLANT, FRÜHER

Kíaná von Wijdlant war verwirrt gewesen, damals, als sie die Domäne der Schattensänger eilig verlassen hatten. Gor wusste, dass sie nicht begriff, wieso er erst auf diese Reise aufgebrochen war, um dann scheinbar unverrichteter Dinge umzukehren.

„Das, weshalb Ihr hergekommen seid, das habt Ihr nicht bekommen”, hatte sie ernüchtert festgestellt.

Nun, das nicht, zumindest nicht sofort. Aber dafür hatte er eine Dreingabe für seine Mühen erhalten, für die der Aufwand bis hierher sich gelohnt hatte.

„Seid beruhigt, Majestät. Es fügt sich alles zu unseren Gunsten.”

Eine Weile ritten sie wortlos nebeneinander her. Die Ölbäume, die ungewöhnlich hoch gewachsen waren und deren lichte Wipfel mit den silbrig flirrenden Blättern sich hoch über ihren Köpfen verflochten wie das Dach einer riesigen Halle, wuchsen spärlicher. Dieser verzauberte Bereich ging nach und nach in einen gewöhnlichen Wald über und würde sie schließlich in die weitläufige Heidelandschaft zu Füßen des Gebirges, des Montazíel entlassen.

Gor sammelte seine Gedanken. War seine Mission erfolglos gewesen? Beileibe nicht! Immerhin hatte er den Großmeister des verhassten Diebsgesindels hinter die Träume gebracht. Wenn er es nun geschickt anstellte, sollte dies nur der erste Schritt zu einem noch viel größeren Teilerfolg auf seinem Weg sein.

Schattensänger neigten dazu, sich wie ein Rudel scheuer Tiere zu verhalten. Sie suchten die Gemeinschaft, den Schutz, die Sicherheit unter ihresgleichen und in ihrem mit mehrfachen Bannen gesicherten Versteck. Sie gaben sehr viel auf die Meinung, die Führung und die Erfahrung dessen, den sie für den klügsten und mächtigsten in ihren Reihen hielten.

Nun, sowohl den weisen Großmeister als auch dessen Schüler hatte er ausgeschaltet. Das würde sich schnell herumsprechen, dafür würde diese zaghafte Schülerin sorgen, die zumindest einen Teil seines Wirkens mit eigenen Augen gesehen hatte. Nicht umsonst hatte er das blonde Mädchen davonkommen lassen. Es war immer klug, Optionen für … später bereitzuhalten.

Und ja, er hatte gefrevelt, und es war ihm eine Lust gewesen. Im Zentrum der Macht der verhassten Schwarzgewandeten, mitten in Nóktamas [die Manifestation der Dunkelheit] Heiligtum hatte er Magie gewirkt, seine Magie. Magie, die die aufgescheuchte, nun führerlose Schar der Schwarzgewandeten verstören würde, sie zu unbedachten Handlungen treiben würde. Er musste nichts anderes tun als zu warten, bis sie ihm entsetzt und orientierungslos in die Arme stolpern würden.

Gor lächelte, zufrieden mit sich selbst. Was würden sie denken, die camat’ay, wenn sie begriffen, mit welchen Kräften er geweiht war? Wenn die junge Schattensängerin ihnen berichtete, was er mit dem wehrhaften, so sonderbar vertraut wirkenden Meisterschüler getan hatte? Fleisch in Stein, Klang in Stille, Etwas in Nichts – das waren Zauber, so gewaltig, so geächtet und so unmöglich, dass sie die Schwarzgewandeten in schieren Unglauben versetzen würden. Wenn sie schließlich doch begriffen, dass etwas Fremdes, etwas so unendlich viel Mächtigeres sich in das Weltenspiel eingebracht hatte, durch sein Wirken, mit ihm als Medium – dann würden sie Angst haben.

Angst machte sie zu leichter Beute. Diese Beute sollte sein Lohn sein. So war es ihm versprochen worden.

Um den gefährlich mutigen und talentierten Schattensänger, der seinen eigentlichen, ursprünglichen Plan durchkreuzt hatte, um den würde er sich später kümmern. Der büßte seine Tollkühnheit nun gebannt in toten kalten Stein und umgeben von ewigem Schweigen. Für diesen außergewöhnlichen Magier wollte er sich Zeit nehmen. Viel Zeit. Die Zeit würde seinen Triumph köstlicher machen, so wie einen guten Wein.

„Wohin?”, fragte die teiranda.

Meister Gor dachte kurz nach.

„Nach Valvivant”, entschied er dann. „Ich haben mit dem teirand Dinge zu bereden.”

PIANMURÍT, JETZT

Gor war nun aufgestanden und hatte eines seiner Werkzeuge zur Hand genommen, eine sichelförmig gebogene, hauchdünne und dabei messerscharfe Klinge. Er spielte gedankenverloren damit. Die bodenlos dunklen Augen seines Gefangenen waren starr darauf gerichtet.

„Ich will nicht darum herum reden, und es wird Euch nicht weiter überraschen, Meister Gíonar”, sagte der goala’ay endlich. „Aber ich werde nun beginnen, Euch zu töten.”

Der Schattensänger entgegnete darauf nichts, aber sein Atem beschleunigte sich.

„Ich werde es halten wie mit jenen, die mir zuvor begegneten. Es ist mir eine liebgewonnene Gewohnheit geworden, die Schüler anschauen zu lassen, wie ihre Meister hinter die Träume gehen. Bei dieser Gelegenheit erkennt die Jugend, wie es mit der Achtbarkeit ihrer Lehrer wirklich bestellt ist. “

Das Mädchen war gesprächiger. „Bitte”, flehte es, „lasst uns gehen!”

Diese Forderung war so naiv, dass Gor darüber schmunzelte wie über einen gelungenen Scherz.

„Arámaú”, sagte ihr Meister schroff, „nimm dich zusammen!” Und an Gor gewandt ergänzte er: „Die Mächte werden die Rotgewandeten zur Rechenschaft ziehen für ihre Frevel. Das Licht wird sie in seiner Verachtung bis zum Ende des Weltenspiels ächten und strafen.”

Einen Lidschlag später spürte der Schattensänger die gebogene Klinge an seinem Hals.

„Reizt es nicht aus”, zischte der Rotgewandete.

Meister Gíonars Atem ging stoßweise. „Nur zu”, presste er hervor. „Schneidet mir nur die Kehle durch! An der Wahrheit ändert das nichts!”

„Bin ich ein Meuchelmörder, wie sie in den finsteren Gassen von Aurópéa auf Beutezug gehen?” Gor war ernsthaft verärgert. „Abgesehen davon, Meister Gíonar, hiermit würde ich Euch die Stimme zerstechen. Nützlich, wenn man des Wehgeschreis überdrüssig wird.”

„Das ist abscheulich”, ächzte Meister Gíonar.

„Möglich.” Gor nahm das Messer fort. Ein Tropfen silbernen Blutes quoll dort hervor, wo es die Haut des Schattensänger-Meisters geritzt hatte. „Schätzt Euch glücklich. Ich benutze dieses Ding ungern. Mir gefällt es besser, aufmerksam zuzuhören, wenn Euresgleichen schließlich beginnt, Geheimnisse gegen mein Erbarmen zu tauschen. Bei dieser Gelegenheit: habt Ihr jemals von zhya’ma gadray, der flüssigen Gnade gehört?”

Meister Gíonar schwieg misstrauisch.

„Es ist ein Elixier”, fuhr Gor fort, „das den Verstand eines Sterblichen von seinem Körper trennt. Könnt Ihr Euch denken, wie es wohl ist, seinem eigenen Tod in friedvoller Gleichgültigkeit beizuwohnen, ohne die Schmerzen spüren zu können, ganz gleich, wie sehr der Körper zappeln und schreien mag? Es ist eine sehr interessante Erfahrung. Ich kann das mit Gewissheit sagen, denn mein Meister, der mich das Rezept lehrte, hat meine erste Zubereitung an mir selbst getestet. Natürlich nicht bis ans Ende, denn dann stünde ich nun nicht vor Euch. Aber ich habe ein seltenes Lob von ihm dafür erhalten.”

„Das klingt … reizvoll”, sagte der Schattensänger mit vorsichtigem Interesse.

Gor ließ sich wieder auf seinem Stuhl nieder, legte das Werkzeug beiseite und faltete die Hände. „Wieso denkt Euresgleichen eigentlich immerzu, meinesgleichen sei ohne Mitgefühl? Ohne Barmherzigkeit?”

„Das fragt Ihr einen Wehrlosen, dem Ihr gerade noch einen grausamen Tod angekündigt habt?”

„Nun, ihr werdet mir zubilligen, dass meinesgleichen einen gewissen Groll gegen das Diebsgesindel hegt.” Gor strich mit dem Finger nachdenklich über den Korken, der den Flakon verschloss. „Doch manchmal ist es nützlich, von diesem Mittel bei sich zu haben. Aber reden wir nicht von Dingen, die Ihr von mir nicht zu erwarten habt. Schließlich seid Ihr doch wohl kein schwacher Unkundiger, die den amüsanten Versuch unternehmen würde, mich um Erbarmen anzuflehen?”

Meister Gíonar entgegnete nichts, aber sein Blick klebte nun förmlich an der Flasche fest. Stattdessen wagte seine Schülerin einen kümmerlichen Handel.

„Können wir… irgendetwas…”

Der Rotgewandete blickte auffordernd in ihre Richtung. „Sei nicht zaghaft, junge Schattensängerin. Du hast meine Aufmerksamkeit.”

„Was müssen wir tun, damit ihr uns am Leben lasst?”

„Arámaú!” Der Schattensänger regte sich heftig, aber er konnte sich nicht zu ihr hinwenden. „Sei still!”

„Was… was kann ich tun, damit Ihr meinen Meister verschont?”, kam es, wesentlich leiser noch, und mit zitternder Stimme.

„Gar nichts. Es gibt nichts, was einer von deinesgleichen bewirken könnte, was mir selbst nicht möglich wäre. Aber es ehrt dich, dass du deine letzten Gedanken an das Schicksal deines Meisters verschwendest.”

„Bitte…”, kam es von ihren Lippen. So wie sie da stand, gefangen in unschlüssigem Flehen um ihre kleine Existenz und instinktiver Angst von dem Schmerz, wirkte sie gleichsam verletzlich als auch auf eine sonderbare Weise unfertig. Der goala’ay verschränkte die Finger und betrachtete sie nachdenklich.

Unfertiges ließ sich vollenden.