
Wir warteten, bis es Nacht war. Während unten in der Burg die Unkundigen zaghaft mit dem Fest, das sie in den vergangenen Tagen vorbereitet hatten den hochedlen Gast ihrer Herrin begrüßten, wurde es in Gor Lucegaths Turmzimmer immer finsterer.
„Müssen wir die beiden tragen?”, fragte ich Yalomiro skeptisch.
„Nein, ihn nicht. Wir lassen uns vom Schatten an unser Ziel bringen. Die Mächte werden uns den Ort zuweisen. Wir müssen nur Geduld haben.”
„Das ist möglich? Warum haben wir dann damals versucht, unter Wijdlant hindurch zu laufen?”
„Weil du damals noch keine eigene Magie hattest. Es wird fortan vieles leichter werden.”
„Was muss ich dabei machen?”
„Nimm du den Beutel mit seinen Dingen und das Schwert. Ich webe den Zauber, wenn es soweit ist.”
Schließlich war es so finster, dass die Dunkelheit mit den Schatten verschmolz. Ich spürte wieder die warme, schützende Dunkelheit um mich herum, so sanft und gut. Aber jetzt fühlte ich mich, als gehörte ich dort hinein.
Diesmal benötigte Yalomiro seine Geige nicht. Er sang und hüllte seine maghiscal behutsam um Arámaú, Gor Lucegath und mich herum, während es um uns dunkler wurde als die Nacht im Zimmer, ohne jede Spur von Mondlicht und Sternen. Wir sanken in Noktámas Domäne ein wie in zarten, substanzlosen Schaum. Den Leichnam der camat’ayra konnten wir einen Moment allein lassen. Noktáma würde auf Arámaú achtgeben. Yalomiro löste sie sanft aus seinem Zauber heraus und griff dann nach dem Körper des Rotgewandeten. Die Dunkelheit klarte samtblau auf.
Als wir wieder in die Welt eintauchten, schien der Mond über einer weitläufigen Wiese mit kräftig aufwachsenden Blumen, über denen Glühwürmchen schwebten und Grillen zirpten. In einiger Entfernung sah ich eine kleine Burg auf einem offensichtlich künstlich aufgeschütteten Hügel als Schattenriss. In der anderen Richtung wurde die Landschaft hügelig und bewaldet.
„Hier wird ihn kein Unbefugter stören”, sagte Yalomiro. „Diesen Landstreifen nutzen nur die Bienen.”
Er beschwor die Erde und schuf mit einem stillen Lied eine Grube, die gerade groß genug war, um Gor Lucegaths Körper in sich aufzunehmen. Ich gab Yalomiro das Schwert und den Beutel. Er legte beides dem goala’ay in die Arme und zauberte den Aushub zurück an seinen Platz. All das geschah ohne Eile, aber schnell und ohne große Geste,
„Müssen wir … irgendetwas sagen?”, fragte ich. „Gibt es rituelle Formeln oder so etwas, um …”
„Willst du ihm denn noch etwas sagen?”
Ich dachte nach. „Ich glaube schon”, kam es mir dann in den Sinn. „Vielleicht kann er es auf irgendeine Weise hören.”
„Dann tu es einfach.”
Einen Moment zierte ich mich. Dann kniete ich nieder und berührte die frische Erde. „Danke, Meister Gor.”, sagte ich leise. „Danke für … alles, was Ihr mir letztlich ermöglicht habt. Ich hoffe, dass Ihr hinter den Träumen Euren Frieden findet und dass das Licht Euch als das annimmt, was Ihr immer sein wollet. Ich glaube, ich habe die Geschichte verstanden, die Ihr mir anvertraut habt.”
Yalomiro regte sich. Dann berührte auch er das Grab.
„Mögen die Mächte den hierher führen, der würdig ist, Euer Nachfolger zu sein”, sagte er. „Ihr habt Recht behalten. Ich bin ein anmaßender, eitler und gedankenloser Kerl. Wäre ich Eurem Angebot gefolgt, Ihr hättet bald die Geduld mit mir verloren. Und doch habt Ihr mich mehr gelehrt als ein guter Meister es vermocht hätte. Frieden, Gor Lucegath. Frieden zwischen den Dienern der Dunkelheit und denen des Lichtes. Ad’ree.”
Er erhob sich und holte etwas aus seiner Tasche hervor. Es war das Fläschchen, das er zuvor im Turmgemach gefunden hatte. Er schüttete den Inhalt auf seine Handfläche und warf dann zuerst trockene Krümel und dann einen weiteren Zauber über die frische Erde, so zart, als streue er Saatgut aus. Und tatsächlich: wie Flaum streckten sich im gleichen Moment winzige Pflänzchen hervor.
„Es ist getan”, erklärte er. „Morgen früh wird nicht mehr zu erkennen sein, wo die Erde bewegt wurde.”
„Und wie soll jemand, der … danach sucht, die Stelle finden?”, wandte ich ein und stand meinerseits auf.
Yalomiro lächelte. „Möglicherweise gedeiht hier fortan aus unerfindlichen Gründen die blutrote Traumraute besonders gut und unausrottbar. Äußerst ungewöhnlich auf dieser Seite des Montazíel.”
Den Weg zum Boscargén kannte Yalomiro. Er trug Arámaú nun auf seinen Armen, als sei sie schwerelos. Ich bildete mir ein, ihr helles Haar selbst in völliger Finsternis erkennen zu können.
Der Gang durch den Schatten fiel mir immer leichter. Die völlige Finsternis beunruhigte mich nicht mehr. Ich hatte keine Angst, dabei verloren zu gehen. Die Magie, die es sich nach und nach in meinem Körper einrichtete, überzeugte mich, dass das, was ich gerade tat, völlig normal war.
Meine Befürchtung, dass wir viele Tage lang bis auf die andere Seite des Montazíel laufen müssten, bewahrheitete sich nicht. Zumindest fühlte es sich nicht so an. Obwohl, wer wusste schon, wie unter Sonne und Mond außerhalb des Schattens die Zeit verstrich.
Wir redeten während des ganzen Weges kein Wort miteinander. Möglicherweise klingt das schrecklich, aber tatsächlich schwiegen wir miteinander und hatten uns dabei mehr und Tieferes zu sagen, als wir mit Worten hätten ausdrücken können.
Und dann, Minuten oder Monate später, veränderte sich das Dunkel, wurde fester, massiver, wurde zu Fußboden und Wänden und einer Tür, die Yalomiro kurz besang und dann, da er keine Hand frei hatte, mit der Schulter aufschob.
Milchig-nebliges Tageslicht blendete, und vor uns lag die verwüstete Einöde des Boscargén mit den verdorrten Bäumen und dem brüchigen kahlen Boden. Aber über dem Nebel schien sich heller Sonnenschein Bahn zu brechen. Es war kühl und ein leiser Luftzug strich zwischen den toten Stämmen hindurch.
Yalomiro verließ den Etaímalon und schaute sich um. Dann trug er Arámaú ein Stück weiter weg, die Böschung hinab bis an das Ufer des Sees. Dort legte er sie ab, bettete sie sanft auf den Boden.
Eine Weile verharrte er reglos. Ich stand scheu zwei Schritte entfernt und wartete befangen.
„In Geschichten”, sagte er ruhig, „geht es immer sehr schnell mit der Heilung von Wunden, nicht wahr? Ist es das, was du mit einem glücklichen Ende meintest?”
„Vermutlich. Es war dumm von mir.”
„Nein. Nur ungeduldig.” Er warf einen kleinen Zauber gegen den staubtrockenen Abhang. „Yal!”
Die Magie löste einen kleinen Erdrutsch aus und formte einen Hohlraum unter den Wurzeln eines der abgestorbenen Bäume. Ohne sich zu mir umzudrehen, brachte er Arámaú in den Schutz dieser Wurzeln. Dann kniete er nieder und summte beschwörend.
Ich beobachtete fasziniert, aber längst nicht mehr überrascht, wie die Baumwurzeln sich bewegten. Sie griffen nach dem Mädchenkörper, umrankten ihn, zogen ihn nahezu zärtlich an sich. Die dröge, trockene Erde rieselte gegen die Schwerkraft zurück und deckte sie zu wie eine schützende Decke. Der Boden des Boscargén nahm Arámaú in seinen Schutz.
Yalomiro breitete die Arme weit aus. Dann grub er seine Finger tief in die Erde, warf den Kopf in den Nacken und sang, ein Lied mit einer so großen Energie, dass ich erstaunt davor zurückwich.
Dabei geriet ich mit den Füßen ins Wasser. Der See war eiskalt und mir war, als stießen tausend kleine Nadeln zugleich in mein Fleisch. Aber es tat nicht weh. Es war nur ein flüchtiges, ein irritierendes Gefühl. Dann plötzlich umarmte mich das Wasser, ich weiß nicht, wie ich es anders hätte sagen sollen. Das Wasser hieß mich willkommen.
Ich streifte meine Schuhe ab und watete tiefer in den See hinein. Ich dachte nicht nach. Ich wollte nicht nachdenken. Ich folgte einem Bedürfnis, einem Trieb, ich tauchte so tief ein, wie es mir möglich war, um dabei noch zu singen. Überraschenderweise ertrank ich dabei nicht. Der See umarmte mich mit seinen weichen Wellen und hieß mich willkommen.
Über dem Boscargén brachen die starren Wolken auf und es begann, zu regnen.
Als ich wieder zur Besinnung kam, lag ich oberhalb der Böschung und war klatschnass. Yalomiro kniete im Regen unter einem mächtigen Baumstamm auf halber Strecke zu dem Häuschen, das die äußere Hülle des Etaímalon war, und schichtete dort einen kleinen Haufen aus Kieseln vom Ufer zusammen. Ich musste nicht fragen. Ich wusste, er hatte Meister Askýns Knochen begraben, während er darauf wartete, dass ich aus meiner Trance erwachte.
Ich setzte mich benommen auf. Der Regen prasselte heftig auf die Wasseroberfläche. Die Spiegelbilder der Bäume sahen bizarr aus. Zwischenzeitlich hatte sich eine Wolkenlücke geöffnet. Die Sonne projizierte einen zarten Regenbogen auf den Regenschleier.
„Schau”, sagte Yalomiro. Er stand auf und wirkte erschöpft, fast wie damals, als Meister Gor ihn durch den Spiegel auf Pianmurít wieder hinaus geholt hatte. Doch diesmal schien er guter Dinge zu sein. „Auch Pataghíu heißt dich willkommen.”
„Was ist passiert?”
„Ich hätte dich warnen sollen”, sagte Yalomiro und schien nicht im Geringsten reuig. „Obwohl … mich hatte damals auch niemand darauf vorbereitet. Meister Askýn, möge er hinter den Träumen seinen Frieden finden, meinte es sei am besten, wenn jeder seine Gabe für sich selbst entdecke.”
„Was heißt das?”
„Camat’ayra haben Gewalt über das Wasser. Komm mit!” Er zog mich auf meine wackligen Füße und führte mich hinüber zum See.
Dort, wo meine Schuhe noch im Kies lagen, glitzerte das Wasser kristallklar unter Sonnenstrahlen. Der graue Himmel klarte mehr und mehr auf. Die Trübung des Sees schien langsam, sehr langsam zurückzuweichen.
Ich wandte mich um. Dort, wo Yalomiro vorhin gekniet hatte, reckten sich kleine grüne Blättchen aus der Erde. Weiter oben am Baum entdeckte ich eine einzelne, saftigbraune Blattknospe. An der Stelle, wo Arámaús Grab im Hang war, blühte eine einzelne, mondweiße Blume, so strahlend und fröhlich, dass ich glaubte, Arámaú lachen zu hören.
„Ich bin ein Gärtner”, sagte er. „Ich habe Macht über Pflanzen. Dir wird das Wasser gehorchen. Wir werden all das hier in Ordnung bringen.”
„Das ist wunderschön”, antwortete ich leise.
„Es wird Zeit brauchen. Aber wir haben nun alles getan, was wir tun konnten. Wir müssen jetzt warten. Wir können uns ausruhen.”
„Ausruhen?”
„Wir sind im Boscargén. Wir sind beim Etaímalon, im Haus Noktámas. Wir sind in Sicherheit. Wir sind … beieinander.”
Ich lehnte mich an seine Schulter und betrachtete die Blume. „Ich muss so viel lernen.”
„Dafür haben wir nun Zeit, Ujora. Viel, viel Zeit.”
Wir blickten eine Weile still auf den glitzernden Flecken im See, auf das zarte Grün am Fuß des wiederbelebten Baumes.
„Ich habe etwas für dich”, fuhr er fort. „Ein Geschenk.”
„Ein Geschenk?”, entgegnete ich verwirrt.
Er vollführte eine elegante Geste und legte es mir in die Hand. Es war kalt und metallisch. Der Weltenschlüssel. Er hatte ein zierliches Kettchen daran befestigt.
„Es ist Silber”, sagte er sanft. „Es ist nichts weiter mehr als ein leeres Stück Silber. Ich dachte mir, es mag noch als Schmuck, als Erinnerungsstück taugen.”
„Danke”, sagte ich leise. Der Schlüssel war tatsächlich sehr hübsch anzusehen. Ich hängte ihn mir um und machte mir klar, dass ich nie zuvor ein so persönliches Geschenk erhalten hatte.
„Ich denke, es ist nun auch in Ordnung, wenn du mir deinen Namen sagst.”
Ich dachte kurz darüber nach.
„Nein”, entschied ich dann. „Ich bin aus meiner Welt weggegangen. Vermutlich bin ich dort mittlerweile ein mysteriöser Vermisstenfall, der niemals aufgeklärt wird. Aber das ist mir egal. Ich habe abgeschlossen mit diesem anderen, öden Weltenspielkasten. Ich habe meinen Ort gefunden.”
Er hob die Brauen. „Wie du meinst.”
„Kann ich nicht weiterhin Ujora sein?”
„Nein. Du bist keine ujora, keine Unkundige mehr. Du bist meinesgleichen.”
„Dann gib mir einen neuen Namen. Einen, der besser passt.”
„Darüber muss ich nachdenken.”
„Lass dir nur Zeit dam-“
„Salghiára. Salghiára Lagoscyre.”
So hörte ich das erste Mal meinen neuen Namen von seinen Lippen. Es war ein unendlich schöner Klang.
Er legte seine Arme um mich und seine Stirn an die meine. Ich schmiegte mich an ihn und lauschte seinem Geist.
Du duftest so gut, dachte er. Wie Regen, der auf trockene Erde fällt.
Und während der Boscargén mit jedem unserer Atemzüge ein winziges bisschen lebendiger wurde, ging das Weltenspiel weiter. Pataghíu, der Helle Tag, war nun am Zug.
Weit im Süden, dort wo die Wüste Soldesér an die Stadtgrenzen von Aurópéa stieß, horchte eine alte Frau auf. Einen Moment stand sie still und lenkte ihre Gedanken hin zu der Störung, die sie getroffen hatte wie ein Wespenstich.
Dann gab sie ein verächtliches Schnauben von sich und ging ans Werk. Es gab viel zu tun!
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