„Nun?” Gor Lucegath schaute einen Ritter nach dem anderen herausfordernd an. „Wer nimmt es mit mir auf? Bedenkt doch, was für ein Preis dem Sieger winkt! Ist Euch dieser Ort nicht unerträglich? Entsetzt Euch nicht das, was hier in diese Welt eingedrungen ist, was ich heraufbeschworen habe? Setzt Ihr nicht alles daran, wieder in Eure eigene Ebene, ins Weltenspiel zurückzukehren? Weg von diesem verfluchten, unwirklichen Platz, der Euch alle wahnsinnig machen wird? Hin zu Euren Familien, Euren Schutzbefohlenen, zu dem, was Ihr zu behüten und erhalten habt? Zu dem, was Ihr liebt? Der einzige, der Euch dabei im Wege steht, bin ich.”

Die Männer zögerten. Asgaý von Spagor ließ die teiranda los und schob das Mädchen zu ihr hinüber. Den Damen durfte nichts zustoßen, was immer in den nächsten Augenblicken an diesem alptraumhaften leeren Ort losbrechen mochte. Er selbst, er wollte nicht abwarten, dass seine Ritter sich der Gefahr stellten. Er wollte ihnen beistehen, wie es sich für einen teirand gehörte!

„Was wollt Ihr?”, fragte er mutig.

„Ihr wollt von hier fliehen. Das liegt nicht in meinem Interesse. Aber ich bin bereit, mit Euch um Eure Freiheit zu streiten.”

„Nein”, sagte Jóndere Moréaval plötzlich. „Solange Ihr dieses Schwert führt, haben wir keine Chance. Damit täuscht Ihr uns nicht! Ihr wollt uns nur weiter verspotten!”

Der jüngste der sieben auserwählten Ritter war es also, der sein Schicksal besiegelte. Der Lichtwächter lächelte, hatte beinahe damit gerechnet. Der junge Mann war würdig, es zu vollbringen.

„Wenn es nur das ist? Wenn Ihr meint, meine schlichte Waffe würde mir einen unfairen Vorteil verschaffen, so lasst uns tauschen.” Der Lichtwächter nahm sein Schwert vorsichtig bei der Klinge und reichte es dem jungen Mann, den Knauf voran, hinüber. „Gebt mir die Eure dafür.”

„Wie? Aber …”

„In Eurer nichtmagischen Hand ist mein Schwert nur ein lebloses Stück Metall. Nehmt.”

„Kein Sterblicher darf das Schwert eines Lichtwächters berühren! Es … es bringt Verderben!”

Gor Lucegath lachte. „Bei den Mächten, hat Eure Mutter Euch das erzählt? Was für alte Geschichten! Was könnte Euch schon zustoßen, was ich nicht auch mit einer gewöhnlichen Klinge an Euch vollziehen könnte, oder mit meinen bloßen Händen? Meinem puren Willen?”

„Nehmt es, Moréaval”, sagte Waýreth Althopian plötzlich. „Möglicherweise ist es den Versuch wert, ihn mit seinen eigenen Waffen zu schlagen.”

„Warum nehmt Ihr es dann nicht?”, fragte Moréaval gereizt.

„Weil ich Euch die Ehre lassen möchte, Euren Peiniger und den Mörder Eures Vaters zu richten, zur Genugtuung Eurer Mutter!”

„Nehmt Ihr es nun oder nicht?”, fragte der Rotgewandete spöttisch. „Nicht zu fassen: Ein Ritter, der sich fürchtet, ein Schwert anzufassen. Wie jämmerlich.”

Moréaval zierte sich. Aber die anderen yarlay schauten ihn erwartungsvoll an.

„Bitte, tut mir die Freude. Ihr seid sicherlich derjenige unter Euresgleichen, dem ich am übelsten mitgespielt habe. Nun ist der Moment, an mir zu vollenden, was Ihr all die Zeit in Euren bittersten Träumen ersehnt habt.”

„Aber …”

„Ich habe oft genug des Nachts an Eurem Lager gestanden und mich über Eure blutigen Rachephantasien amüsiert. Es ist erstaunlich, zu welcher exquisiten Brutalität ein so sanfter Mann wie Ihr in seiner Vorstellungskraft fähig ist, wenn der disziplinierte Verstand ruht. Kommt. Zeigt mir, wie ernst ihr es meint.”

„Tu es, Jóndere”, sagte yarl Altabete plötzlich. „Nimm dir die Vergeltung, Junge!”

„Ja”, fügte yarl Grootplen hinzu. „Aber lass uns noch etwas übrig.”

Moréaval schaute verstört in die Runde. Dann streckte er zaghaft seine Hand nach dem schimmernden Schwert aus. Mit der anderen reichte er das seine dem Rotgewandeten hinüber. Kaum hatte der junge yarl das goala’ay-Schwert berührt, verschwand das Glimmen. Die Waffe wurde stählern und schwer.

Der goala’ay nickte und begutachtete das gewöhnliche Schwert in seiner Hand. „Hervorragend geschmiedet, Herr Jóndere”, plauderte er. „Ein Erbstück, denke ich mir. Aus Aurópéa?”

„Nein, aus Ovéstola. Mein Urgroßva-“

Der Rotgewandete wirbelte herum und drang mit einem unerwarteten Streich auf Alsgör Emberbey ein. Der alte Ritter war überrascht, aber er parierte geistesgegenwärtig. Die Schwerter schepperten und klangen irritierend dumpf in der betäubenden Leere von Pianmurít. Die Wucht des plötzlichen Angriffs ließ den Ritter einen Schritt zurückweichen, aber er blieb fest auf den Beinen.

„Nicht schlecht für Eure greise Hand”, lästerte der Rotgewandete. „Übt Ihr etwa heimlich?”

„Lasst den edlen Herrn in Ruhe”, kam es unerwartet von yarl Altabete. „Lasst mich beenden, was bereits mein Großvater seinerzeit hätte vereiteln müssen.”

„Wenn Ihr von ihm gelernt habt, das Schwert zu führen”, spottete der goala’ay, „muss ich mich vor Euch nicht fürchten.”

„Was soll das heißen?”

„Euer Großvater war ein Stümper mit zwei linken Händen! Ich habe mich stets gefragt, wie er in seiner Jugend die Chaoskriege überleben konnte. Vermutlich bestand sein Talent darin, sich besonders gut weitab vom Schlachtfeld zu verstecken!”

Etwas in Andriér Altabetes Selbstbeherrschung rastete aus. Er führte einen kraftvollen, einen unerwarteten Streich, der seine Klinge tief in Meister Gors Seite versenkte und mit einem ekelhaften Geräusch Stoff und Fleisch aufschlitzte. Blut sprengte durch die Leere von Pianmurít wie aus einer aufgestäubten Pfütze, seltsam träge und plastisch.

Der Rotgewandete keuchte und wankte zurück. Doch schon war Daap Grootplen hinter ihm. Noch bevor der goala’ay sich umwenden konnte, zog der mynstir ihm mit seiner Klinge eine klaffende Wunde über den Rücken. Gor Lucegath rang nach Luft, aber er schrie nicht.

„Für meinen Vater”, sagte der mynstir rau.

„Beiseite!”, forderte Léur Tjiergroen knapp und versenkte seine Waffe tief in Gor Lucegaths Unterleib.

Der Rotgewandete ächzte qualvoll auf und krümmte sich zusammen. Aber in seinem unmaskierten Gesicht breitete sich Triumph aus. Ein letztes Mal lachte er leise, sanft, belustigt. Erleichtert.

Erlöst.

Ad’ree“, sagte er.

Dann gerieten die yarlay in einen Rausch, in Raserei.

***

Das Widerwesen vibrierte. Es war … verwirrt.

Ist es nicht das, was du wolltest?, fragte Yalomiro.

Es zögerte.

Du hättest ihn nicht wegwerfen dürfen, dachte Yalomiro, ganz am Rande seines Bewusstseins. Nun ist es zu spät.

***

Der Kampf brachte sie alle in Bewegung.

Isan kreischte und schlug sich die Hände vor das Gesicht. Kíaná von Wijdlant schaute wie gebannt hin. Ich bin sicher, dass sie nicht erfasste, was da passierte. Zu schrecklich, zu surreal war es.

Auch mein Verstand begann zu flimmern, wie an der Oberfläche einer Ohnmacht. Das Entsetzen hätte mich in Hysterie, in blinde Panik versetzen müssen. Aber etwas hielt mich bei erschreckend sachlichem, nüchternem Verstand.

Gor Lucegath focht gegen sie alle gleichzeitig. Er war unzweifelhaft ein geschickter Kämpfer, aber er war geschwächt und er trug, anders als die anderen Männer, kein wie auch immer geartetes Rüstzeug, das ihm Schutz geboten hätte. Seine maghiscal erlosch mit jedem Hieb, der sie anschlitzte, ein wenig mehr. Sie hatten ihn umringt, stießen ihn zwischen sich hin und her, hieben und stachen nach ihm. Ich war mir ziemlich sicher, dass keiner der Ritter bei klarem Verstand war. Es war ein letzter Rest von Zauberei im Spiel. Der muntere Klang der Glöckchen an Asgaý von Spagors seltsamer Verkleidung mischte sich absonderlich heiter in die entsetzlichen Kampfgeräusche.

„Ujora!”, rief die teiranda mir über den Pulk aus entfesselten Kriegern zu. „Bei den Mächten, was geschieht hier?”

„Habt Vertrauen! Kommt ihnen nicht zu nahe!”

Ich schaute zu Yalomiro, der das Widerwesen in seinem Körper trug, es festhielt, es daran hinderte, in den Kampf einzugreifen und ihm Widerstand leistete. Tatsächlich: Yalomiro fesselte das Wesen an seinen eigenen Leib. Das konnte nicht lange gut gehen. Aber es verschaffte dem Rotgewandeten die Zeit, die er benötigte.

Ich konnte mir kaum vorstellen, wie viel Kraft es den Schattensänger kosten mochte, das … Ding davon abzuhalten, ihn in Bewegung zu zwingen, um irgendetwas zu der Verwirrung beizutragen. Das Widerwesen schien sich gegen ihn zu werfen, wie ein Tier, das erkennt, dass es in einer Falle sitzt. Yalomiros Körper begann, zu beben.

Dann schaute ich wieder mit Entsetzen auf das Gemetzel vor mir, in dem Gor Lucegath endgültig niederging und die sieben Ritter und der teirand, in rasender Wut, weiter auf ihn einschlugen und stachen, bis überall in Pianmurít Blut, rotes Blut sich in Schlieren auf das niedersenkte, was das Unten definierte und von dort weiter in die Tiefe tropfte wie durch ein Sieb.

Das war kein ehrenvoller, ritterlicher Kampf. Das war nicht die Art, in der die Männer in einem ritualisierten Duell oder im Turnierspiel miteinander geplänkelt hätten. Ich entsann mich an das spielerische Gefecht, das Lebréoka und Althopian sich in Valvivant geliefert hatten, um vor der schönen yarlara mit ihrem Geschick zu prahlen. Mir wurde übel, als ich die Männer nun töten sah.

Althopians blauer Waffenrock war bereits von oben bis unten mit Blutspritzern besudelt. Er raste, in einer beängstigenden Präzision. Auch die anderen, sogar der erheblich ältere yarl Emberbey zeigten sich als das, was das Weltenspiel ihnen zugedacht hatte. Als Kämpfer, die dazu berufen waren, Störungen zu … beseitigen. Es war etwas jenseits des Verstandes der Männer, angefacht durch ihre Wut, Schmerz und ihre Angst und hochpotenziert durch Magie.

Ich ahnte, was geschah. Gor Lucegath hatte ursprünglich einen Zauber vorbereitet, um die Männer aufeinander zu hetzen, er hatte mir angekündigt, dass das seine Absicht gewesen war. Oder vielleicht die des Widerwesens. Nun hatte er seinen Plan geändert. Er zog seinen eigenen Zauber auf sich.

Was ich soeben viel zu wortreich beschrieben habe, spielte sich in Wahrheit innerhalb von wenigen Augenblicken ab. Isan wimmerte. In ihrer bunten Welt von höfischem Leben, Sorglosigkeit und bunten Festen, von Romantik und Ritterlichkeit hatte es keinen Raum gegeben für das hier. Das Wandgemälde hatte sie jeden Tag angeschaut. Diese grausige Szene hier spielte sich vor ihren Augen ab. Schluchzend verbarg sie ihr Gesicht an Kíaná von Wijdlants prunkvollem Kleid.

Die teiranda legte ihre schmale, mit Schmuck überladene Hand sacht auf Isans Rücken. Ihr Blick war beängstigend gefasst, während sie zusah, wie ihre Ritter denjenigen aus dem Weg räumten, der sie all die langen Jahre gepeinigt hatte. Was mochte in dieser Frau nun vorgehen?

Es dauerte also nur wenige Atemzüge. Zwei, vielleicht drei Treffer gelangen jedem der Ritter. Gor Lucegath wehrte sich nicht mehr, Moréavals Schwert hatte ihm längst jemand aus der Hand geschlagen. Er verschwand im Gedränge. Ich wandte mich voller Grauen ab und blickte ratlos auf das ay’cha’ree in meiner Hand. Es leuchtete still vor sich hin wie ein winziges Glühbirnchen.

Da schrie Moréaval auf. Es war dem jungen Ritter offenbar gelungen, die Klinge endlich in Gor Lucegaths Herz zu versenken. Das Schwert gleißte schlagartig auf, als spiegele sich etwas Unfassbares darin.

Einen Moment lang erfüllte das Leuchten die Leere.

Jóndere Moreaval ließ die Waffe entsetzt los. Gor Lucegaths zerschlagener Körper kam auf dem Rücken zu liegen. Das Schwert stak aufrecht in seiner Brust und strahlte, leuchtete mit einer Intensität, die den flimmernden Nebel von Pianmurít für einen Moment beiseite stieß wie ein Windstoß. Die Männer wichen erschreckt von dem blutigen Fleisch zurück, das von Gor Lucegath geblieben war, dem eleganten, kultivierten, beredsamen Magier, vom mächtigsten goala’ay aller Zeiten.

Dann verglomm das Licht und ließ nur blauschwarzes Metall zurück, das nun wieder matt schimmerte.